Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 18.01.2005

OVG NRW: psychisch kranker, medikamentöse behandlung, abschiebung, auskunft, ärztliche behandlung, versorgung, botschaft, bundesamt, ausländer, psychiatrie

Datum:
Gericht:
Spruchkörper:
Entscheidungsart:
Tenor:
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Aktenzeichen:
Vorinstanz:
Oberverwaltungsgericht NRW, 8 A 1242/03.A
18.01.2005
Oberverwaltungsgericht NRW
8. Senat
Urteil
8 A 1242/03.A
Verwaltungsgericht Arnsberg, 7 K 1972/01.A
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Verwaltungsgerichts
Arnsberg vom 5. Februar 2003 geändert. Die Beklagte wird unter
entsprechender teilweiser Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes
für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 26. April 2001
verpflichtet festzustellen, dass in der Person des Klägers hinsichtlich der
Türkei Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 7 AufenthaltG vorliegen.
Die Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens tragen die Beklagte zu 1/3
und der Kläger zu 2/3; die Kosten des zweitinstanzlichen Verfahrens trägt
die Beklagte. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige
Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung
in Höhe des beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht der
jeweilige Gläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe
leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Der am 1. Januar 1972 in B. in N. geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger
muslimischen Glaubens. Nach seinen eigenen Angaben, die der Kläger in einem
Unterbringungsverfahren vor dem Amtsgericht J. und im Betreuungsverfahren gegenüber
der vom Amtsgericht E. beauftragten Gutachterin gemacht hat, hat er seine Eltern früh
verloren und ist zusammen mit Geschwistern in einem Kinderheim aufgewachsen. In der
Türkei sei er etwa zwei Jahre lang wegen einer psychischen Erkrankung behandelt
worden.
Im Oktober 2000 ließ er sich von der türkischen Botschaft in O. einen Pass ausstellen und
im Dezember 2000 bei der Deutschen Botschaft in O. ein Visum erteilen. Hierzu hatte er die
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Verpflichtungserklärung eines O1. C. - Lastwagenfahrer aus "Pöllau" - und eine
Bescheinigung der Istanbul-Airlines vorgelegt, wonach ihr Flugzeugmechaniker B1. C.
frühere Besuchsvisa für die Bundesrepublik Deutschland und die Republik Österreich
jeweils eingehalten habe und nunmehr für Januar 2001 erneut eine - bezahlte - Ferienreise
plane. Nachdem er die Türkei am 31. Dezember 2000 verlassen hatte, reiste er am 13. April
2001 von Wien kommend mit dem Zug in die Bundesrepublik Deutschland ein.
Am 24. April 2001 beantragte der Kläger seine Anerkennung als Asylberechtigter. Bei der
Anhörung vor dem Bundesamt am 25. April 2001 gab er an, er habe nach dem Besuch des
Gymnasiums in verschiedenen Restaurants als Kellner oder Reinigungskraft gearbeitet. In
der Türkei habe er zuletzt keinen festen Wohnsitz gehabt, sondern bei verschiedenen
Verwandten gewohnt, nämlich bis August 2000 für mehrere Monate bei einem Onkel in
seinem - zu B. gehörenden - Heimatdorf L. L1. und danach bei seinem Bruder in O2. und
bei seinem Bruder auf A. . Er sei seit drei Jahren passiver Anhänger der Hisbollah Milli
Görus, habe die Türkei aber nicht aus politischen Gründen verlassen. Er werde vielmehr
von den Polizeibehörden in O2. inoffiziell wegen einer privaten Angelegenheit gesucht. Er
habe im Juni 2000 in O2. ein Verhältnis mit einer Frau aufgenommen, ohne zu wissen,
dass sie noch verheiratet gewesen sei. Als deren Ehemann von der Beziehung erfahren
habe, habe dieser vier Männer auf ihn gehetzt, die ihn am 20. oder 21. Juli 2000 überfallen
und ihm ein Messer in den Bauch gestoßen hätten. Nach dem Angriff sei er geflohen.
Einige Tage zuvor habe er von seinem Bruder erfahren, dass auch schon die Polizei -
vermutlich auf eine Anzeige des Ehemannes - vorbeigekommen sei, nach ihm - dem Kläger
- gefragt und wegen seiner Abwesenheit seinen Bruder für zwei Tage mitgenommen habe.
Zum Abschluss seiner Anhörung nahm der Kläger seinen Asylantrag zu Protokoll des
Bundesamtes zurück.
Mit Bescheid vom 26. April 2001 stellte das Bundesamt unter Nr. 1 das Asylverfahren des
Klägers ein, stellte unter Nr. 2 fest, dass Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht
vorlägen und forderte den Kläger unter Nr. 3 zum Verlassen der Bundesrepublik
Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung auf bei
gleichzeitiger Ankündigung für den Fall der nicht fristgemäßen Ausreise, ihn in die Türkei
oder in einen anderen aufnahmebereiten oder zur Rückübernahme verpflichteten Staat
abzuschieben.
Gegen diesen Bescheid hat der Kläger rechtzeitig Klage erhoben, die er in der mündlichen
Verhandlung vom 5. Februar 2003 insoweit zurückgenommen hat, als mit ihr die
Verpflichtung der Beklagten zur Anerkennung des Klägers als Asylberechtigten und zur
Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG begehrt worden ist.
Zur Begründung seiner auf die Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 53
AuslG beschränkten Klage hat er vorgetragen: Er leide ausweislich des für die Bestellung
seiner Betreuerin durch das Amtsgericht E. angefertigten psychiatrischen Gutachtens des
Westfälischen Zentrums für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik E. vom 4.
Dezember 2001 und weiterer Stellungnahmen bzw. Bescheinigungen dieser Institution
vom 21. November 2001, 9. April 2002, 29. Oktober 2002 und 27. November 2002 unter
einer paranoid- halluzinatorischen Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis. Bei ihm
seien akute Angst- und Erregungszustände sowie Halluzinationen aufgetreten. Deshalb
bedürfe er - zur Vermeidung andernfalls in der Vergangenheit schon wiederholt
aufgetretener schwerer Exarzerbationen mit der Notwendigkeit einer stationären
Behandlung - regelmäßiger Medikation und einer engmaschigen psychiatrischen
Betreuung. Es müsse insbesondere sichergestellt werden, dass er regelmäßig seine
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Depotmedikation bekomme. Die neuroleptische Behandlung sei voraussichtlich über Jahre
erforderlich. Darüber hinaus hat er geltend gemacht, an den Symptomen einer
posttraumatischen Belastungsstörung zu leiden; zur Stabilisierung seiner Gesundheit und
Behandlung seiner Psychotraumata bedürfe er längerfristig einer weiteren
psychotherapeutischen Behandlung. Erschwerend trete hinzu, dass aus therapeutischer
Sicht die Gefahr einer suizidalen Handlung als sehr hoch eingeschätzt werde.
Die bei ihm erforderliche Betreuung und dauernde - insbesondere medikamentöse -
Behandlung sei in der Türkei nicht gewährleistet. Bei der medizinischen Versorgung
psychisch kranker Menschen werde nicht das bundesdeutsche Niveau erreicht, zumal in
der Türkei derzeit - bei viel zu wenig verfügbaren Unterbringungsmöglichkeiten und
dementsprechend auf maximal drei Monate beschränkter Verweildauer in den wenigen
Kliniken - die krankenhausorientierte Betreuung bei gleichzeitigem Fehlen differenzierter
ambulanter und komplementärer Versorgungsangebote dominiere. Eine Unterbrechung der
therapeutischen und medikamentösen Behandlung, die im Falle seiner Abschiebung
erfolgen müsste, hätte eine erhebliche Verschlechterung seines jetzt bereits sehr
angegriffenen Gesundheitszustandes zur Folge. Zu berücksichtigen sei auch, dass er ein
Vertrauensverhältnis zu seinem Psychologen aufgebaut habe, was für die Heilung seiner
psychischen Erkrankung Grundvoraussetzung sei. Zudem verfüge er nicht über die
finanziellen Mittel, die eine medikamentöse Behandlung in der Türkei erfordern würde. Er
habe keine Berufsausbildung in der Türkei genossen und könne wegen seiner Erkrankung
ohnehin nicht arbeiten. Er verfüge auch nicht über eine Bezugsperson in der Türkei. Wo
sein älterer Bruder wohne, wisse er nicht. Er kenne nur den Aufenthaltsort seines jüngeren
- derzeit allerdings arbeitslosen - Bruders auf A. , bei dem er eine Zeit lang gelebt hat. Zu
diesem habe er noch regelmäßig telefonisch Kontakt. Zu seinem älteren Bruder stehe er
nicht in Kontakt; er habe auch nicht bei ihm gelebt.
Der Kläger hat beantragt,
den Bescheid des Beklagten vom 26. April 2001 zu den Nrn. 2 und 3 aufzuheben und die
Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass in der Person des Klägers hinsichtlich der
Türkei Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG vorliegen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat vorgetragen, das Krankheitsbild des Klägers könne in der Türkei hinreichend
behandelt werden. Abschiebungshindernisse i.S.d. § 53 Abs. 6 AuslG lägen deshalb in der
Person des Klägers nicht vor.
Mit dem angefochtenen Urteil vom 5. Februar 2003 hat das Verwaltungsgericht das
Verfahren im Umfang der Klagerücknahme eingestellt und die Klage im Übrigen
abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass nach den vorliegenden
Erkenntnissen die Weiterbehandlung der paranoid-halluzinatorischen Psychose des
Klägers in der Türkei möglich sei. Die Durchführung einer Behandlung scheitere wegen der
Möglichkeit, sich die sogenannte "Grüne Karte" (yesil kart) ausstellen zu lassen und
gegebenenfalls Mittel aus der "Stiftung für Sozialhilfe" in Anspruch zu nehmen, nicht an
einer eventuellen Mittellosigkeit des Klägers. Während des Zeitraums bis zur Ausstellung
der Grünen Karte sei eine sofortige Behandlung akut erkrankter Personen im staatlichen
Gesundheitssystem möglich, und es seien auch Verfahrensweisen mit der Flughafenpolizei
und dem medizinischen Dienst am Flughafen Istanbul abgesprochen, die nötigenfalls eine
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sofortige Übernahme der Behandlung sicher stellten.
Auf den rechtzeitigen Antrag des Klägers hat der Senat mit Beschluss vom 13. Juli 2004
die Berufung zugelassen, soweit die Klage auf die Feststellung gerichtet ist, dass
Abschiebungshindernisse nach § 53 Abs. 6 AuslG vorliegen.
Der Kläger begründet seine Berufung wie folgt: Seine Erkrankung sei in der Türkei nicht
therapierbar. Soweit die Türkei für sich die generelle Fähigkeit in Anspruch nehme, auch
psychisch erkrankte Menschen betreuen zu können, müsse dies hier vor dem Hintergrund
von nur acht entsprechenden Kliniken, einer Beschränkung der Verweildauer auf drei
Monate und der Einstellung der türkischen Ärzte relativiert werden, der Patient erhalte in
der Familie die bessere Pflege.
Die kurze Verweildauer für eine stationäre Behandlung wäre für ihn nur dann ausreichend,
wenn er an seinem Wohnort in der Türkei eine Anschlusstherapie erhalten könnte oder
zumindest eine Bezugsperson hätte, die seine regelmäßige Medikamenteneinnahme
sowie seine generelle Lebensgestaltung überwache und betreue. Als Folge seiner
Erkrankung mangele es ihm an Krankheitseinsicht, was insbesondere dazu führe, dass er
die zur Vermeidung der Krankheitssymptome notwendigen Medikamente nicht von sich aus
einnehme. An einer notwendigen Bezugsperson fehle es ihm hingegen. Er besitze keine
Familienangehörigen oder Bekannten in der Türkei. Beide Brüder seien am 25. August
2003 bei einem Verkehrsunfall in B2. ums Leben gekommen. Ein Onkel lebe in L. L1. , sei
mittlerweile etwa 85 Jahre alt, selbst pflegebedürftig und nicht mehr in der Lage, sich um
eine andere Person zu kümmern. Sein Cousin O1. C. , der die bei Beantragung des Visums
vorgelegte Verpflichtungserklärung abgegeben habe, lebe in Österreich. Von seiner
türkischen Ehefrau, mit der er seit dem 11. Juni 2003 verheiratet sei, könne - auch wenn sie
seit längerer Zeit arbeitslos sei - nicht erwartet werden, dass sie mit ihm in die Türkei
zurückkehre und ihn dort weiter betreue. Denn sie lebe seit ihrem zehnten Lebensjahr in
der Bundesrepublik, habe hier den Hauptschulabschluss erworben und eine
Berufsausbildung als Näherin absolviert; sie beherrsche die deutsche Sprache besser als
die türkische.
Ungeachtet dessen sei - u.a. vor dem Hintergrund der mangelnden Erfahrung türkischer
Ärzte mit dem Krankheitsbild einer posttraumatischen Belastungsstörung - nicht damit zu
rechnen, dass sie ihn als Notfall einstufen würden, so dass zu Beginn mit Wartezeiten von
bis zu vier Wochen für eine kostenlose Behandlung seiner psychischen Erkrankung in
einer türkischen Klinik gerechnet werden müsse. Nach den erstinstanzlich vorgelegten
ärztlichen Gutachten sei es sehr wahrscheinlich, dass er bei mangelnder Betreuung, mit
der mangels Bezugsperson schon in dieser Wartezeit zu rechnen sei, Suizid begehen
werde. Eine erhebliche Lebensgefahr, wie sie § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG voraussetze,
könne nicht nur in der Unbehandelbarkeit einer Krankheit begründet sein, sondern auch
darauf beruhen, dass der Betreffende bei einer Abschiebung mit hinreichender
Wahrscheinlichkeit Selbstmord verübe.
Der Kläger beantragt,
das erstinstanzliche Urteil zu ändern und die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des
Bescheides des Bundesamtes für Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (jetzt: Migration
und Flüchtlinge) vom 26. April 2001 zu verpflichten festzustellen, dass in der Person des
Klägers hinsichtlich der Türkei Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 7 AufenthG
vorliegen.
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Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie trägt vor, das türkische Gesundheitswesen garantiere psychisch kranken Menschen
den umfassenden Zugang zu Gesundheitsdiensten und Beratungsstellen. Auch für
mittellose psychisch Kranke, die keine familiäre Unterstützung erhielten, stünden in
begrenzter Kapazität Dauereinrichtungen, etwa offene oder geschlossene Psychiatrien und
betreute Wohnheime, zur Verfügung. In einigen Provinzstädten gebe es staatlich geführte
Heimeinrichtungen, in denen mittellose geistig behinderte Erwachsene dauerhaft leben
könnten. Die in Ankara ansässige Konföderation für Behinderte könne nähere Auskunft
über Betreuungsmöglichkeiten für Behinderte erteilen. Durch die Möglichkeit einer
begleiteten, zuvor mit den türkischen Behörden abgestimmten Rückführung sei zudem eine
sofortige Übernahme der Behandlung gewährleistet. Ferner sei das Verwaltungsgericht zu
Recht davon ausgegangen, dass die Finanzierung der erforderlichen, auch ambulant
möglichen Behandlung durch die yesil kart und bis zu deren Erhalt durch die Stiftung für
Sozialhilfe gesichert sei. Vor dem Hintergrund der mehrjährigen, bislang erfolglosen
Behandlung im Bundesgebiet erschließe sich die Notwendigkeit eines weiteren Verbleibs
zur Fortsetzung der hiesige Behandlung nicht. Durchgreifende Gründe, die gegen eine
Rückkehr der Ehefrau in die Türkei sprächen, seien ebenfalls nicht ersichtlich.
Zum Krankheitsbild, der erforderlichen bzw. derzeit stattfindenden Behandlung und den
möglichen Folgen eines Behandlungsabbruchs hat der Kläger auf Aufforderung des
Gerichts ein Attest seines behandelnden Arztes Dr. B3. , Facharzt für Neurologie und
Psychiatrie, vom 19. Oktober 2004 vorgelegt. Dieser hat auf Bitten des Senats mit
Schreiben vom 7. Dezember 2004 ergänzend Stellung genommen.
In der mündlichen Verhandlung am 18. Januar 2005 hat der Senat den Kläger sowie seine
Betreuerin angehört und Beweis erhoben durch uneidliche Vernehmung der Zeugin Abide
C. . Auf die Sitzungsniederschrift wird Bezug genommen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte,
die von der Beklagten überreichten Verwaltungsvorgänge sowie die von der
Ausländerbehörde beigezogenen Ausländerakten des Klägers und seiner Ehefrau Abide
C. Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte zur Sache verhandeln und entscheiden, obwohl ein Vertreter der
Beklagten nicht erschienen war, da diese mit der Ladung auf diese Möglichkeit
hingewiesen worden war (§ 102 Abs. 2 VwGO).
Die vom Senat nur in Bezug auf die Feststellung der Voraussetzungen des § 53 Abs. 6
AuslG zugelassene Berufung des Klägers ist begründet. Die allein streitbefangene
Regelung unter Nr. 2 des angefochtenen Bescheides vom 26. April 2001 ist rechtswidrig.
Der Kläger hat Anspruch auf die begehrte Feststellung eines Abschiebungshindernisses.
Rechtsgrundlage für diese Feststellung ist nach Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes
vom 30. Juli 2004 (BGBl. I, Seite 1950) nunmehr § 60 Abs. 7 AufenthG (dazu 1.). Insoweit
beruft der Kläger sich allerdings ohne Erfolg auf das Vorliegen einer posttraumatischen
Belastungsstörung (dazu 2.). Die in seinem Fall bestehende Gefahr für Leib und Leben ist
vielmehr Folge einer paranoid- halluzinatorischen Psychose, die unter Berücksichtigung
der konkreten Krankheitsfolgen in der Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht
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ausreichend behandelt werden kann (dazu 3.).
1. Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in
einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche
konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Diese Vorschrift ist zum
maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. § 77 Abs. 1 AsylVfG; Art. 15
Abs. 3 Zuwanderungsgesetz) anwendbar. Abgesehen von einer die Rechtsfolge
betreffenden Änderung ("soll" statt "kann"), die für die - gemäß § 24 Abs. 2 AsylVfG
weiterhin vom beklagten Bundesamt zu treffende - lediglich auf die
Tatbestandsvoraussetzungen der Vorschrift bezogene Feststellung unerheblich ist,
entspricht der Wortlaut des § 60 Abs. 7 AufenthG dem des § 53 Abs. 6 AuslG.
Ebenso wie § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG setzt § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG voraus, dass für
den Ausländer in dem Zielstaat der Abschiebung eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib,
Leben oder Freiheit besteht. Im Unterschied zum Asylrecht unterscheidet § 60 Abs. 7
AufenthG dabei nicht danach, von wem die Gefahr ausgeht oder wodurch sie hervorgerufen
wird.
Vgl. zu § 53 Abs. 6 AuslG: BVerwG, Urteil vom 17. Oktober 1995 - 9 C 9.95 -, BVerwGE 99,
324 (329 f.).
§ 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG erfasst nicht nur verfolgungsunabhängige, sondern auch
verfolgungstypische Gefahren, wie sie auch in den Anwendungsbereich des Art. 16 a GG
und des § 60 Abs. 1 AufenthG fallen.
Vgl. BVerfG, Beschluss vom 3. April 1992 - 2 BvR 1837/91 -, NVwZ 1992, 660; BVerwG,
Urteil vom 17. Oktober 1995 - 9 C 9.95 -, BVerwGE 99, 324, 329; Urteil vom 30. März 1999 -
9 C 31.98 -, NVwZ 1999, 1346 (1348).
Die Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG wird
weder durch den Terrorismusvorbehalt bzw. durch § 60 Abs. 8 AufenthG,
vgl. BVerfG, Beschluss vom 20. Dezember 1989 - 2 BvR 958/86 - BVerfGE 81, 142 (155);
BVerwG, Urteil vom 30. März 1999 - 9 C 31.98 -, NVwZ 1999, 1346 (1348),
noch durch § 28 Abs. 2 AsylVfG ausgeschlossen.
Der Begriff der Gefahr i.S.v. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist kein anderer als der im
asylrechtlichen Prognosemaßstab der "beachtlichen Wahrscheinlichkeit" angelegte;
allerdings statuiert das Element der "Konkretheit" der Gefahr für "diesen" Ausländer das
zusätzliche Erfordernis einer einzelfallbezogenen, individuell bestimmten und erheblichen
Gefährdungssituation.
Vgl. zu § 53 AuslG: BVerwG, Urteil vom 17. Oktober 1995 - 9 C 9.95 -, BVerwGE 99, 324
(330); Urteil vom 4. Juni 1996 - 9 C 134.95 -, InfAuslR 1996, 289; Urteil vom 18. April 1996 -
9 C 77.95 -, Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 4; Beschluss vom 18. Juli 2001 - 1 B 71.01 -,
Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 46.
Der allgemeine Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit ist auch dann
zugrundezulegen, wenn der Ausländer bereits vor der Einreise in das Bundesgebiet
Eingriffe in Leib, Leben oder Freiheit erlitten hat.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Oktober 1995 - 9 C 9.95 -, BVerwGE 99, 324 (330), m.w.N.
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Beachtlich ist die Wahrscheinlichkeit, wenn die für die Annahme einer Gefahr sprechenden
Umstände ein größeres Gewicht besitzen als die dagegen sprechenden Tatsachen.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 5. November 1991 - 9 C 118.90 -, BVerwGE 89, 162 (169), m.w.N.
Eine theoretische Möglichkeit reicht hierzu nicht aus.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 5. Juli 1994 - 9 C 1.94 -, NVwZ 1995, 391 (393).
Zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 AsylVfG) muss eine
entsprechende Prognose ergeben, dass dem Ausländer bei einer Rückkehr in den
Zielstaat eine erhebliche konkrete Gefahr droht, unabhängig davon, ob diese Gefahr
gewissermaßen noch am Tag der Ankunft eintritt,
vgl. zu § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG: BVerwG, Urteil vom 21. Januar 1999 - 9 B 617.98 -,
InfAuslR 1999, 265,
nur vorübergehend oder voraussichtlich dauerhaft ist.
Vgl. zu § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG: BVerwG, Beschluss vom 28. März 2001 - 1 B 83.01 -,
Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 44.
Eine drohende Gesundheitsgefahr ist "erheblich", wenn eine Gesundheitsbeeinträchtigung
von besonderer Intensität zu erwarten ist, namentlich sich der Gesundheitszustand
wesentlich oder sogar lebensbedrohlich verschlechtern würde.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 25. November 1997 - 9 C 58.96 -, BVerwGE 105, 383.
Das kann auch infolge einer schweren psychischen Erkrankung der Fall sein.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 15. Oktober 1999 - 9 C 7.99 -, Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr.
24; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 7. November 2002 - A 12 S 907/00 -, UA S. 28/29
m.w.N.
"Konkret" ist die Gefahr, wenn diese Verschlechterung "alsbald" nach der Rückkehr des
Betreffenden in den Heimatstaat einträte, weil er dort auf unzureichende Möglichkeiten der
Behandlung seiner Leiden trifft und anderswo wirksame Hilfe nicht in Anspruch nehmen
könnte.
Vgl. BVerwG, Urteile vom 25. November 1997 - 9 C 58.96 -, BVerwGE 105, 383.
Ein Absehen von der Abschiebung nach § 60 Abs. 7 AufenthG kommt auch bei
Gesundheitsgefahren nur in Betracht, wenn die Gefährdung landesweit droht und der
Ausländer sich ihr nicht durch ein Ausweichen in andere Gebiete seines Herkunftslandes
entziehen kann.
Vgl. zu § 53 Abs. 6 AuslG: BVerwG, Urteile vom 17. Oktober 1995 - 9 C 9.95 -, BVerwGE
99, 324 (330), und vom 2. September 1997 - 9 C 40.96 -, BVerwGE 105, 187 (194).
Bei alledem erfasst § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur solche Gefahren, die in den
spezifischen Verhältnissen im Zielstaat begründet sind. Gefahren, die sich allein als Folge
oder im Zusammenhang mit der Abschiebung ergeben, fallen nicht in den
Zuständigkeitsbereich des Bundesamtes, sondern sind von der Ausländerbehörde im
Rahmen des Vollstreckungsverfahrens zu berücksichtigen.
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Vgl. dazu: BVerwG, Urteil vom 29. Oktober 2002 - 1 C 1.02 -, DVBl. 2003, 463; Urteil vom
21. September 1999 - 9 C 8.99 -, Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 21 = NVwZ 2000, 206;
Urteil vom 25. November 1997 - 9 C 58.96 -, BVerwGE 105, 383 (384 ff.); Urteil vom 11.
November 1997 - 9 C 13.96 -, BVerwGE 105, 322 (324 ff.).
Ein "zielstaatsbezogenes" Abschiebungshindernis kann auch in einer Krankheit begründet
sein, unter der der Ausländer bereits in der Bundesrepublik leidet. Da der Begriff der
"Gefahr" hinsichtlich des Entstehungsgrundes nicht einschränkend auszulegen ist, steht es
der Feststellung des Abschiebungshindernisses nicht entgegen, wenn die zu besorgende
Gefahr durch die individuelle Konstitution des Ausländers (mit-)bedingt wird.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 25. November 1997 - 9 C 58.96 -, BVerwGE 105, 383.
Die Annahme eines Abschiebungshindernisses i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG wegen
einer auf den Verhältnissen im Zielstaat der Abschiebung beruhenden Gefahr für die
Gesundheit oder das Leben eines Ausländers kommt zunächst dann in Betracht, wenn eine
notwendige ärztliche Behandlung oder Versorgung mit Arzneimitteln für die betreffende
Krankheit in dem jeweiligen Staat wegen des geringen Versorgungsstandards generell
nicht verfügbar ist.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 21. September 1999 - 9 C 8.99 -, NVwZ 2000, 206 (207); Urteil
vom 18. März 1998 - 9 C 36.97 -, juris; Urteil vom 27. April 1998 - 9 C 13.97 -, Buchholz
402.240 § 53 AuslG Nr. 12 = NVwZ 1998, 973; Urteil vom 25. November 1997 - 9 C 58.96 -,
BVerwGE 105, 383; Urteil vom 15. Oktober 1999 - 9 C 7.99 -, Buchholz 402.240 § 53 AuslG
Nr. 24; Urteil vom 9. September 1997 - 9 C 48.96 -, InfAuslR 1998, 125.
Auch wenn eine vom Ausländer benötigte medizinische Versorgung allgemein zur
Verfügung steht, kann eine zielstaatsbezogene Gefahr für Leib oder Leben bestehen, wenn
die notwendige ärztliche Behandlung oder Medikation dem betroffenen Ausländer
individuell aus bestimmten - finanziellen oder sonstigen - Gründen nicht zugänglich ist.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 29. Oktober 2002 - 1 C 1.02 -, Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr.
66 = DVBl. 2003, 463; Beschluss vom 29. April 2002 - 1 B 59.02 -, Buchholz 402.240 § 53
AuslG Nr. 60.
Schließlich kann eine Gefahr für Leib und Leben i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG wegen
drohender Gesundheitsbeeinträchtigungen - in besonderen Ausnahmefällen - auch dann
vorliegen, wenn dem Betroffenen die Inanspruchnahme des dort vorhandenen und für ihn
auch verfügbaren Gesundheitssystems aus neu hinzutretenden gesundheitlichen Gründen
- etwa wegen einer infolge der Einreise zu befürchtenden schwerwiegenden
Verschlimmerung psychischer Leiden, namentlich der Gefahr einer zu irreparablen
Gesundheitsschäden führenden (Re-) Traumatisierung - nicht zuzumuten ist.
Vgl. OVG NRW, Urteil vom 27. Juni 2002 - 8 A 4782/99.A -, UA S. 110.
Soweit der Ausländer geltend macht, dass in seinem Fall nach erfolgter Abschiebung eine
erhebliche Selbstmordgefahr - etwa infolge einer depressiven Krise -bestehe, ist zu prüfen,
ob diese Gefahr durch die Abschiebung selbst - beispielsweise durch den Verlust eines
vertrauten sozialen oder familiären Umfeldes - bedingt und deshalb als inlandsbezogenes
Vollstreckungshindernis von der Ausländerbehörde zu berücksichtigen ist,
vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 15. Oktober 1999 - 9 C 7.99 -, Buchholz 402.240 § 53 AuslG
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oder ob die Gefahr auf den Verhältnissen im Zielstaat beruht, weil dieser die ausreichende
Behandlung einer psychischen Erkrankung des Betreffenden nicht gewährleisten kann.
Allerdings führen gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG solche Gefahren nicht zur
Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, denen
die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein
ausgesetzt ist. Grundsätzlich wird in diesen Fällen Abschiebungsschutz ausschließlich
durch eine generelle Regelung der obersten Landesbehörde nach § 60a AufenthG
gewährt. Mit dieser Regelung soll nach dem Willen des Gesetzgebers erreicht werden,
dass dann, wenn eine bestimmte Gefahr einer Bevölkerungsgruppe, d.h. einer großen Zahl
der im Abschiebezielstaat lebenden Personen gleichermaßen droht, über deren Aufnahme
oder Nichtaufnahme nicht im Einzelfall durch das Bundesamt und eine
Ermessensentscheidung der Ausländerbehörde, sondern für die ganze Gruppe der
potentiell Betroffenen einheitlich durch eine politische Leitentscheidung des
Innenministeriums befunden werden soll. Trotz bestehender konkreter erheblicher Gefahr
ist die Anwendbarkeit des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG im Verfahren eines einzelnen
Ausländers mithin gesperrt, wenn dieselbe Gefahr zugleich einer Vielzahl weiterer
Personen im Abschiebezielstaat droht.
Vgl. zu §§ 53 Abs. 6 Satz 2, 54 AuslG: BVerwG, Urteil vom 27. April 1998 - 9 C 13.97 -,
NVwZ 1998, 973; Urteil vom 17. Oktober 1995 - 9 C 9.95 -, BVerwGE 99, 324 (327); Urteil
vom 4. Juni 1996 - 9 C 134.85 -, InfAuslR 1996, 289 (290); Urteil vom 29. März 1996 - 9 C
116.95 -, DVBl. 1996, 1257.
Bei in diesem Sinne allgemeinen Gefahren im Abschiebezielstaat ist aber eine Anwendung
des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in verfassungskonformer Gesetzesauslegung geboten,
wenn Gefahren für Leib oder Leben in extremer Weise drohen, d.h. wenn der einzelne
Ausländer im Falle seiner Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod
oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde. In diesem Fall gebieten es die
Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, dem einzelnen Ausländer
unabhängig von einer Ermessensentscheidung nach §§ 60 Abs. 7 Satz 2, 60a AufenthG
Abschiebungsschutz zu gewähren.
Vgl. zu §§ 53 Abs. 6 Satz 2, 54 AuslG: BVerwG, Urteil vom 17. Oktober 1995 - 9 C 9.95 -,
BVerwGE 99, 324 (328), im Anschluss an den Beschluss des BVerfG vom 21. Dezember
1994 - 2 BvL 81 und 82/92 -, DVBl. 1995, 560; Beschluss vom 26. Januar 1999 - 9 B 617.98
-, InfAuslR 1999, 265; Urteil vom 8. Dezember 1998 - 9 C 4.98 -, BVerwGE 108, 77 (80 f.);
Urteil vom 19. November 1996 - 1 C 6. 95 -, BVerwGE 102, 249.
Dies zugrunde gelegt ist die Beklagte verpflichtet, zu Gunsten des Klägers festzustellen,
dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG in Bezug auf die Türkei vorliegen.
2. Das Abschiebungshindernis ergibt sich jedoch nicht aus dem Vorbringen des Klägers, er
leide an einer posttraumatischen Belastungsstörung.
Bei der posttraumatischen Belastungsstörung handelt es sich um eine psychische
Erkrankung,
vgl. Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 259. Aufl. 2002, Stichwort "Belastungsstörung,
posttraumatische"; Haenel, zur Begutachtung psychisch reaktiver Traumafolgen, ZAR
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2003, 18; agah, ai, AWO, Caritas, Diakonie u.a.: Trauma und Abschiebung - eine
Positionsbestimmung -, Stand: Juni 2004 m.w.N.; aus juristischer Sicht: Middeke,
Posttraumatisierte Flüchtlinge im Asyl- und Abschiebungsprozess, DVBl. 2004, 150;
Treiber: Flüchtlingstraumatisierung im Schnittfeld zwischen Justiz und Medizin, ZAR 2002,
282 ; Birck, Zur Erfüllbarkeit der Anforderungen der Asylanhörung für traumatisierte
Flüchtlinge aus psychologischer Sicht, ZAR 2002, 28; Marx, Humanitäres Bleiberecht für
posttraumatisierte Bürgerkriegsflüchtlinge aus Bosnien und Herzegowina, InfAuslR 2000,
357,
die grundsätzlich, vornehmlich bei einer drohenden Retraumatisierung, geeignet sein kann,
ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu begründen. Allerdings ist
die Behandlung psychischer Erkrankungen einschließlich posttraumatischer
Belastungsstörungen in der Türkei grundsätzlich sicher gestellt.
So schon OVG NRW, Urteil vom 27. Juni 2002 - 8 A 4782/99.A -, UA S. 110.
An dieser Einschätzung, die durch neuere Erkenntnisse bestätigt wird,
vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht Türkei vom 19. Mai 2004, S. 47 und Anlage
"Medizinische Versorgung psychisch kranker Menschen in der Türkei"; Generalkonsulat
der Bundesrepublik Deutschland Istanbul, Auskunft an das Landeseinwohneramt Berlin
vom 16. Juli 2003; Deutsche Botschaft Ankara, Auskünfte vom 10. Februar 2003 an das VG
Düsseldorf und vom 26. Februar 2004 an das VG Hannover; Kienholz (Schweizerische
Flüchtlingshilfe): Die medizinische Versorgungslage in der Türkei, 13. August 2003, S. 19 f.
hält der Senat weiter fest. Soweit der Standard der gesundheitlichen Versorgung in der
Türkei im Einzelfall, ohne dass dadurch eine erhebliche Gefahr für Leib oder Leben bedingt
ist, nicht an den bundesdeutschen heranreicht, ist das ohne Bedeutung.
Das Gesundheitswesen der Türkei garantiert auch psychisch kranken Menschen den
umfassenden Zugang zu Gesundheitsdiensten und Beratungsstellen. Die rein
medikamentöse Versorgung von psychisch kranken Menschen - etwa nach einer
Krankenhausbehandlung - gilt in der Türkei nicht zuletzt auch durch die sogenannten
Gesundheitszentren als gesichert, namentlich sind antipsychotische Medikamente und
Antidepressiva erhältlich. Die Situation psychisch Kranker in der Türkei ist allerdings
gekennzeichnet durch die Dominanz medikamentöser und krankenhausorientierter
Betreuung bei gleichzeitigem Fehlen differenzierter ambulanter (Tageskliniken und/oder -
stätten) und komplementärer Versorgungs- und Therapieangebote (z.B. Beratungsstellen,
Kontaktbüros, betreutes Wohnen etc.). Dahinter steht u.a. die Annahme, dass der Patient in
der Familie die bessere Pflege erhalte. Es sind dementsprechend vorwiegend staatliche
Krankenhäuser in Provinzstädten, Universitätskliniken und Hospitäler der sozialen
Versicherungsträger, in denen psychiatrische Abteilungen solche Patienten - ggf. auch
ambulant - betreuen. Psychiatrische Kliniken des Gesundheitsministeriums und
Einrichtungen der Sozialversicherungsanstalt SSK verfügen - unter Einbeziehung der
psychiatrischen Stationen in allgemeinen Krankenhäusern aller öffentlichen türkischen
Institutionen - inzwischen über mehr als 10.000 Betten für psychisch Kranke. Landesweit
sind in 68 Städten 137 Krankenhäuser bevollmächtigt, Gesundheitszeugnisse über
Behinderte und/oder psychisch kranke Menschen auszustellen. Darauf beschränkt ist -
jedenfalls in den großen Städten - eine psychiatrische Behandlung in der Türkei im
Allgemeinen auf demselben Niveau möglich wie in Deutschland. Im Osten des Landes,
außerhalb der Städte und in Bezug auf mittellose Personen wird dagegen das in
Deutschland bestehende Versorgungsniveau nicht erreicht. Die stationäre Verweildauer
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der Patienten in den Kliniken ist allerdings aufgrund der begrenzten Zahl sowohl der
Psychiater als auch der verfügbaren Betten in der Regel auf drei Monate beschränkt.
Weiterführende Therapien neben bzw. nach der stationären Behandlung werden aus
fachlichen aber auch finanziellen Gründen im Allgemeinen nicht angeboten.
Dauereinrichtungen für psychisch kranke Erwachsene gibt es nur in der Form sog. "Depot-
Krankenhäuser". Diese sind eingerichtet für chronische Fälle, die keine familiäre
Unterstützung haben oder eine Gefahr für die Öffentlichkeit darstellen. Die Anzahl und
Kapazität derartiger Einrichtungen ist gering. Der insgesamt schwierigen Situation für
psychisch kranke Menschen versucht man nicht zuletzt deshalb ergänzend durch die
Einrichtung von Selbsthilfeorganisationen zu begegnen. Diese Einrichtungen existieren oft
über Verbindungen mit türkischen Institutionen im Ausland, die für Beratungszwecke Ärzte
aus Deutschland, Frankreich und den USA in die Türkei vermitteln, um medizinischem
Personal, Betreuungspersonal, Eltern und Lehrern Wege zum Umgang mit psychisch
kranken Menschen aufzuzeigen.
Die Versorgung psychisch kranker Menschen im - für mittellose Flüchtlinge regelmäßig
nicht in Betracht kommenden - Privatsektor ist im Übrigen vergleichsweise günstiger: In
Istanbul wurden in den letzten Jahren mehrere moderne psychiatrische Krankenhäuser mit
einem differenzierten Behandlungsangebot und ambulanter Betreuungsmöglichkeit
eingerichtet. Privatpatienten ist auch die Beratung oder Behandlung bei einem der
niedergelassenen Fachärzte oder der - zumeist im Ausland - umfassend ausgebildeten
Psychologen, Psychiater, psychotherapeutisch tätigen Ärzten oder Neurologen möglich,
deren Wirkungskreis sich allerdings fast ausschließlich auf die großen Städte Ankara,
Istanbul, Izmir, Adana und Erzurum beschränkt.
Auch für spezielle Erkrankungen aus dem Formenkreis der posttraumatischen
Belastungsstörung wird - soweit ersichtlich - vor dem Hintergrund der erwähnten
Auskunftslage in der Rechtsprechung überwiegend davon ausgegangen, dass eine dem
landesüblichen Standard entsprechende Behandlung in der Türkei grundsätzlich
gewährleistet ist.
So etwa VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 7. November 2002 - A 12 S 907/00 -, UA S.
30 f.; VG Gießen, Urteil vom 14. Mai 2004 - 10 E 5903/03.A -, UA S. 18; VG Düsseldorf,
Urteil vom 17. Februar 2003 - 17 K 1962/02.A -, UA S. 16 f.; Urteil vom 7. Mai 2004 - 26 K
4376/03.A -, UA S. 8 f.; a.A. in einem Einzelfall: VG Gießen, Urteil vom 15. Mai 2002 - 2 E
1370/01 -, AuAS 2002, 228.
Die in der Türkei mögliche Behandlung posttraumatischer Belastungsstörungen umfasst
sowohl medikamentöse als auch psychotherapeutische Therapien und wird sowohl durch
staatliche Einrichtungen, insbesondere Krankenhäuser mit einer Abteilung für Psychiatrie,
und niedergelassene Psychiater und Psychotherapeuten als auch durch verschiedene
Selbsthilfeeinrichtungen und Stiftungen sicher gestellt. Namentlich alle großen
Krankenhäuser in der Türkei mit einer psychiatrischen Abteilung können grundsätzlich
auch die Behandlung einer posttraumatischen Belastungsstörung durchführen. Für die
posttraumatische Belastungsstörung werden auch in der Türkei die international
anerkannten Klassifikationssysteme ICD-10 und DSM-IV angewandt. Auch wenn es bei der
therapeutischen Weiterbehandlung von aus Westeuropa zurückkehrenden Patienten
aufgrund unterschiedlicher Behandlungskonzepte - mitunter gravierende - Probleme geben
kann, zählen doch zu den Behandlungskonzepten, wie in Westeuropa üblich, u.a. die
Psychotherapie mit Relaxationstraining, Atemtraining, Förderung des positiven Denkens
und Selbstgespräche, kognitive Therapie sowie daneben Medikationen wie Antidepressiva
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und Benzodiazepine (= Tranquilizer).
Vgl. insoweit Auswärtiges Amt, Lagebericht Türkei vom 19. Mai 2004, Anlage
"Medizinische Versorgung psychisch kranker Menschen in der Türkei", S. 2; Lagebericht
Türkei vom 9. Oktober 2002, Anlage "Medizinische Versorgung psychisch kranker
Menschen in der Türkei" S. 3 f.; Lagebericht Türkei vom 24. Juli 2001, S. 40/41; Deutsche
Botschaft Ankara, Auskünfte vom 8. November 1999 an die Stadt Velbert, vom 26. Februar
2001 an den Märkischen Kreis, vom 16. März 2001 an das VG Stuttgart, vom 12. Juni 2002
an das Bundesamt und vom 22. Oktober 2003 an das Bundesamt.
Folteropfer und traumatisierte Personen können sich darüber hinaus einer medizinischen
und psychologischen Behandlung durch Ärzte, Psychiater, Psychotherapeuten und
Sozialarbeiter in den fünf Rehabilitationszentren der durch Mitglieder des
Menschenrechtsvereins "Insan Haklari Dernegi" (IHD) und der Ärztekammer im Jahr 1990
gegründeten "Türkischen Menschenrechtsstiftung (Türkiye Insan Haklari Vakfi - TIHV)" in
Ankara, Istanbul, Izmir, Adana und Diyarbakir unterziehen. Die Behandlung ist kostenlos,
weil die Zentren sich aus Spenden finanzieren. Trotz der Probleme, die den
Behandlungszentren anfänglich von staatlicher Seite bereitet wurden, haben sie eine
beachtliche Zahl von Patienten behandelt. Die Stiftung arbeitet mit niedergelassenen
Ärzten zusammen und betreibt eine rege Informationspolitik, die durch die Einbindung der
Organisation in ein weit reichendes Netzwerk nationaler und internationaler Organisationen
begünstigt wird, ihm weit reichendes Gehör verschafft und einen wirksamen Schutz gegen
staatliche Übergriffe bietet.
Vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 7. November 2002 - A 12 S 907/00 -, UA S. 31
m.w.N.
Darüber hinaus gibt es auch außerhalb der Stiftung ein Netz von Psychiatern, die sich mit
Symptomen und Behandlung des posttraumatischen Belastungssyndroms auskennen. Zu
nennen ist in diesem Zusammenhang etwa die sich aus Mitgliedsbeiträgen und Spenden
finanzierende "Forschungsstiftung für Recht und Gesellschaft/Stiftung für die Erforschung
sozialen Rechts (TOHA/TOHAV)", die in Istanbul ein Rehabilitationszentrum für Folteropfer
betreibt.
Vgl. zum Ganzen auch Penteker (Hrsg.): Es geht um die Menschen - nicht um den Heiligen
Staat, Bericht über die 6. IPPNW-ÄrztInnen- Delegationsreise in die Türkei vom 12. - 21.
März 2001 S. 26 ff.; Kienholz (Schweizerische Flüchtlingshilfe): Die medizinische
Versorgungslage in der Türkei, 13. August 2003, S. 21.
Gleichwohl werden die Behandlungsmöglichkeiten gerade von an posttraumatischen
Belastungsstörungen leidenden psychisch Kranken - insbesondere wenn sie keine
Möglichkeit haben, in der Nähe der Behandlungszentren unter zu kommen - von
fachkundiger Seite teilweise sehr kritisch beurteilt.
So etwa: IPPNW, Auskunft vom 11. November 2001 an das VG Stuttgart; Graf
(Schweizerische Flüchtlingshilfe), Türkei - Zur aktuellen Situation 2003 -, 21. Juni 2003, S.
44; Kienholz (Schweizerische Flüchtlingshilfe), Die medizinische Versorgungslage in der
Türkei, 13. August 2003, S. 99 ff.
Der auswärtige Dienst bezeichnet die Situation von in schwerwiegender Weise psychisch
erkrankten Erwachsenen - namentlich der Gruppe Traumatisierter - auch noch in jüngerer
Zeit als sehr schwierig. Zwar sei die rein medizinische Versorgung von psychisch kranken
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Menschen gesichert. Es sei jedoch nahezu aussichtslos, adäquate Behandlungsmethoden
bzw. -verfahren in Anspruch zu nehmen; eine Anschlusstherapie von aus Deutschland
zurückkehrenden Patienten sei - schon wegen unterschiedlicher Behandlungskonzepte -
ausgeschlossen.
Vgl. Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland in Istanbul, Auskunft vom 16. Juli
2003 an das Landeseinwohneramt Berlin; Auswärtiges Amt, Lagebericht Türkei vom 22.
Juni 2000, Anlage "Medizinische Versorgung psychisch kranker Menschen in der Türkei",
S. 5.
Wenn ein Asylbewerber vor diesem Hintergrund substantiiert geltend macht, dass ihm bei
einer Rückkehr in die Türkei schwerwiegende Gesundheitsgefahren - etwa wegen einer zu
erwartenden erheblichen Verschlimmerung psychischer Leiden - drohen, die wegen der
besonderen Umstände des Einzelfalls medizinisch in der Türkei nicht ausreichend
behandelt werden können, ist - in seltenen Ausnahmefällen - eine auf den Einzelfall
bezogene detaillierte Sachverhaltsaufklärung erforderlich.
So schon OVG NRW, Urteil vom 27. Juni 2002 - 8 A 4782/99.A - UA S. 110 m.w.N.; vgl.
auch Auswärtiges Amt, Lagebericht Türkei vom 19. Mai 2004, Anhang "Medizinische
Versorgung psychisch kranker Menschen in der Türkei", S. 4; Lagebericht Türkei vom 20.
März 2002, S. 47.
Dazu bedarf es vorliegend jedoch keiner weiteren Erwägungen, weil auch und gerade in
Ansehung der vorliegenden ärztlichen Gutachten und Atteste keine ernstlichen
Anhaltspunkte für die Annahme bestehen, dass der Kläger - wie behauptet - unter einer
posttraumatischen Belastungsstörung leidet.
Es steht - auch nach dem Eindruck, den der Senat in der mündlichen Verhandlung von dem
Kläger gewonnen hat - nicht in Zweifel, dass dieser unter einer psychischen Erkrankung
leidet. Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine posttraumatische Belastungsstörung,
sondern um eine paranoid-halluzinatorische Psychose aus dem schizophrenen
Formenkreis. Zu dieser Diagnose gelangte schon die im Betreuungsverfahren auf
Veranlassung des Amtsgerichts E. tätig gewordene Ärztin für Psychiatrie und
Psychotherapie U. X. -H. vom Westfälischen Zentrum für Psychiatrie, Psychotherapie und
Psychosomatik in E. in ihrem Gutachten vom 4. Dezember 2001. Die Richtigkeit dieser
Einschätzung wurde in der Folgezeit ausweislich der zahlreich vorliegenden
Bescheinigungen von den nachbehandelnden Ärzten, zuletzt am 19. Oktober 2004 und am
7. Dezember 2004 von dem derzeit behandelnden Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr.
B3. aus E. bestätigt. Soweit dieser in seinem Attest vom 19. Oktober 2004 ergänzend eine
nicht weiter erläuterte "Belastungsdepression F 43.9" aufgeführt hat, handelt es sich nicht
um eine posttraumatische Belastungsstörung im Sinne von F 43.1 der internationalen
Klassifikation ICD-10. Auch der Kläger selbst hat an seiner ursprünglichen Schilderung
eines gewaltsamen Überfalls vierer Männer in der Türkei ausweislich der vorliegenden
ärztlichen Berichte im Rahmen der Anamnese nicht mehr festgehalten. Vor dem
Hintergrund eines über einige Jahre hinweg von verschiedenen Fachärzten teils stationär,
teils ambulant untersuchten und behandelten Krankheitsbildes stellt sich die im
gerichtlichen Verfahren aufgestellte Behauptung einer posttraumatischen
Belastungsstörung als Behauptung "ins Blaue hinein" dar, für deren Richtigkeit nichts
spricht. Aufgrund dessen besteht für den Senat insoweit auch kein Anlass zu einer weiter
gehenden Sachaufklärung.
3. Dem Kläger droht im Falle einer Abschiebung in die Türkei aber deshalb eine erhebliche
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Gefahr - zumindest - für seine Gesundheit, weil er an einer paranoid- halluzinatorischen
Psychose leidet (dazu a). Die medizinische Behandlung dieser psychischen Krankheit ist
allerdings in der Türkei gewährleistet (dazu b) und für den Kläger auch nicht aus
finanziellen Gründen unerreichbar (dazu c). Das konkrete Krankheitsbild macht aber über
die medizinische Versorgung hinaus eine Betreuung erforderlich, die für den Kläger
aufgrund besonderer Umstände seines Einzelfalls nicht gewährleistet ist (dazu d), deren
Ausbleiben für ihn jedoch mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit gesundheitliche
Beeinträchtigungen der von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorausgesetzten Art und Schwere
verursachen würde (dazu e).
a) Das Vorliegen einer paranoid-halluzinatorischen Psychose aus dem schizophrenen
Formenkreis ist durch die vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen und Gutachten zur
Überzeugung des Senats hinreichend belegt und wird auch von der Beklagten nicht in
Zweifel gezogen. Bei dieser Erkrankung handelt es sich um eine Dauererkrankung, die im
Falle aktueller Exazerbationen eine stationäre und im Übrigen eine medikamentöse
Behandlung erfordert.
Vgl. zur Behandlungsbedürftigkeit als Voraussetzung des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG: OVG
NRW, Beschluss vom 15. September 2003 - 13 A 2597/03.A -.
Nach den ärztlichen Stellungnahmen - zuletzt Attest des Facharztes für Neurologie und
Psychiatrie Dr. B3. vom 7. Dezember 2004 - besteht die langfristig gebotene Therapie bei
dem Krankheitsbild des Klägers in einer fortlaufenden ambulanten Depotmedikation unter
fachpsychiatrischer Betreuung.
b) Grundsätzlich kann auch eine paranoide Psychose bzw. Schizophrenie in der Türkei
adäquat behandelt werden.
Vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8. Februar 1999; Deutsche Botschaft Ankara, Auskunft
vom 30. Januar 2002 an das VG Schleswig; Deutsche Botschaft Ankara, Auskunft vom 12.
Juli 2001 an das Bundesamt.
Wie bereits ausgeführt bestehen in den staatlichen Krankenhäusern psychiatrische
Stationen, die auch ambulant tätig werden und dementsprechend eine sich als erforderlich
erweisende psychiatrische Weiterbehandlung - etwa Besprechungen - stationär wie
ambulant ausreichend gewährleisten können. Art und Schwere der Erkrankungen sind
nicht von Bedeutung. Die erforderlichen Medikamente sind ohne Schwierigkeiten erhältlich.
Vgl. Deutsche Botschaft Ankara, Auskunft vom 26. Februar 2004 an das VG Hannover.
Neuroleptika gibt es in der Türkei in großer Auswahl.
Vgl. Deutsche Botschaft Ankara, Auskünfte vom 7. November 2002 an das VG Arnsberg,
vom 9. August 2001 an das VG Aachen und vom 12. Juli 2001 an das Bundesamt.
Im Falle einer Abschiebung kann eine zeitnahe Anschlussbehandlung sichergestellt
werden. Nach Auskunft des Generalkonsulats sind mit der Flughafenpolizei und dem
medizinischen Dienst am Flughafen Instanbul Verfahrensweisen abgesprochen worden,
die nötigenfalls eine sofortige Übernahme der Behandlung sicherstellen.
Vgl. OVG NRW, Urteil vom 27. Juni 2002 - 8 A 4782/93.A - UA S. 110/111 m.w.N.
Nach entsprechender Vorbereitung der Abschiebung durch die Ausländerbehörde besteht
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namentlich bei psychisch Kranken die Möglichkeit, dass diese bei einer Rückführung an
den Flughäfen Ankara, Istanbul, Izmir oder B2. von einem Team, das aus einem Psychiater
und einer Krankenschwester oder einem Krankenpfleger besteht, in Empfang genommen
und nach einer Untersuchung der erforderlichen Weiterbehandlung zugeführt werden.
Vgl. Deutsche Botschaft Ankara, Auskunft vom 20. November 2003 an das Bundesamt.
c) Die Durchführung einer notwendigen Behandlung insbesondere mit Medikamenten
würde auch nicht an einer eventuellen Mittellosigkeit des Klägers scheitern.
In den Genuss der türkischen Sozialversicherung als Kostenträger kommen allerdings
grundsätzlich nur Staatsbeamte sowie sozialversicherungspflichtig beschäftigte Angestellte
und Arbeiter und ihre Familienangehörigen.
Vgl. Auswärtiges Amt, Lageberichte Türkei vom 19. Mai 2004, S. 46, und vom 12. August
2003, S. 55; Auskunft der Deutschen Botschaft Ankara vom 28. November 2003 an das VG
Kassel; zu den in Frage kommenden Versicherungen auch: Kienholz (Schweizerische
Flüchtlingshilfe), Die medizinische Versorgungslage in der Türkei, 13. August 2003, S. 9.
Für mittellose Kranke, die die erforderlichen Mittel nicht von ihrer Familie erhalten, besteht
die Möglichkeit, bei der Gesundheitsverwaltung die Ausstellung der "yesil kart" (Grüne
Karte) zu beantragen, die zu einer kostenlosen medizinischen Versorgung im staatlichen
Gesundheitssystem berechtigt. Eine sofortige Behandlung von akut erkrankten Personen
ist auch schon während des Zeitraums bis zur Ausstellung der Grünen Karte im staatlichen
Gesundheitssystem möglich; zudem kann der Förderfonds für Sozialhilfe und Solidarität
(Sosyal Yardimlasma ve Dayanismayi Tesvik Fonu, in etlichen Auskünften auch als
"Stiftung für Sozialhilfe" bezeichnet) eintreten, wenn und soweit die Kosten medizinischer
Versorgung durch die yesil kart nicht gedeckt sind. Rechtsgrundlage für die Ausstellung der
yesil kart ist das Gesetz Nr. 3816 vom 18. Juni 1992. Berechtigt sind Personen türkischer
Staatsangehörigkeit, die ein Einkommen unterhalb der gesetzlich bestimmten
Mindestgrenze haben und kein geldwertes Eigentum vorweisen können. Die yesil kart wird
auf Anforderung von den Regionalbehörden des Gebietes, in dem die Person wohnhaft ist,
nach einer Überprüfung der finanziellen Angaben ausgestellt. Um einen Antrag auf die
yesil kart stellen zu können, muss die Person in der Türkei wohnhaft sein. Die Karte ist
grundsätzlich nur in staatlichen Krankenhäusern gültig und berechtigt dort zu kostenloser
stationärer und ambulanter Behandlung. Wenn die notwendigen Untersuchungen oder
Behandlungen in dem staatlichen Krankenhaus nicht durchgeführt werden, kann der
Patient an ein Universitätskrankenhaus weiter geleitet werden. Die übliche Zeitdauer
zwischen der Stellung des Antrags auf Erhalt einer yesil kart und der Erteilung der Karte
wird mit drei bis acht Wochen angegeben, kann aber auch länger sein, etwa wenn nicht
gleich alle erforderlichen Unterlagen vorliegen. Ist der Betroffene akut erkrankt, wird in der
Zeit zwischen Antragstellung und Erteilung die notwendige Soforthilfe durch die staatlichen
Krankenhäuser auf Kosten der Landratsämter erbracht. Bei stationärer Behandlung von
Inhabern der Grünen Karte werden sowohl Behandlungskosten als auch sämtliche
Medikamentenkosten übernommen. Im Falle einer ambulanten Behandlung gewährleistet
die yesil kart die Übernahme der Arzneimittelkosten jedoch grundsätzlich nicht. Soweit das
Auswärtige Amt in einer älteren Auskunft,
Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 14. November 2000 an das VG Freiburg,
mitgeteilt hat, bei chronischen Krankheiten würden durch die yesil kart auch die Kosten für
die dauerhaft notwendigen Arztbesuche und Medikamente übernommen, hat es daran in
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späteren Auskünften nicht festgehalten.
Auswärtiges Amt, Lagebericht Türkei vom 12. August 2003, S. 55 f.; Lagebericht Türkei
vom 19. Mai 2004, S. 47; Auskunft vom 22. Oktober 2003 an das Bundesamt; Auskunft vom
8. März 2004 an das Bundesamt; ferner ärztliche Stellungnahme des Vertrauensarztes vom
25. November 2003 an das VG Kassel.
Eine derartige umfassende Kostenübernahme kann auch nicht dem Text des Gesetzes Nr.
3816 über die Übernahme der Behandlungskosten von mittellosen Staatsangehörigen
durch Ausstellung der yesil kart vom 18. Juni 1992 entnommen werden. Einzelne
Auskünfte sind allerdings wohl dahin zu verstehen, dass chronisch Kranke bei einer
ambulanten Behandlung in einem staatlichen Krankenhaus auch Medikamente über die
yesil kart erlangen können.
Vgl. Botschaftsbericht vom 9. Mai 2001; Stellungnahme des Vertrauensarztes der
Deutschen Botschaft in Ankara vom 7. April 2004 an das VG Düsseldorf (für Insulin).
Bei teuren, lebenserhaltenden Medikamenten kann eine Kostenübernahme nach
Antragstellung beim Landratsamt aus Mitteln des Sozialhilfefonds gewährt werden.
Vgl. zum gesamten Vorstehenden Auswärtiges Amt, Lageberichte Türkei vom 19. Mai
2004, S. 46 f., vom 12. August 2003, S. 55 f., und vom 9. Oktober 2002, S. 49; Deutsche
Botschaft Ankara, Auskünfte vom 21. Juli 2003 und vom 22. Oktober 2003 an das
Bundesamt, vom 24. Oktober 2003 an das VG Köln, vom 28. November 2003 an das VG
Kassel, vom 26. Februar 2004 an das VG Hannover, vom 8. März 2004 an das Bundesamt,
vom 7. April 2004 an das VG Düsseldorf und vom 2. September 2004 an das Bundesamt;
zur psychiatrischen Behandlung: Deutsche Botschaft Ankara, Auskunft vom 26. Februar
2004 an das VG Hannover.
Zwar sieht das Änderungsgesetz vom 14. Juli 2004 (Gesetz Nr. 5222) nunmehr eine weiter
gehende Übernahme der mit einer ambulanten Behandlung verbundenen Kosten etwa für
Heilmittel, Zahnersatz, Brillen und auch Medikamente vor; diese Gesetzesänderung wird
jedoch gemäß Art. 2 des Änderungsgesetzes zunächst nur in drei Pilotprovinzen
umgesetzt. Erfahrungen mit der Anwendungspraxis liegen noch nicht vor.
Vgl. Auskunft der Deutschen Botschaft Ankara an den Senat vom 17. Januar 2005.
Soweit die Schweizerische Flüchtlingshilfe die eventuelle Abdeckung auch von
Medikamentenkosten durch die Grüne Karte und deren Akzeptanz wegen des geringen
Leistungsumfangs und bürokratischer Erschwernisse kritisch einschätzt,
vgl. Kienholz (Schweizerische Flüchtlingshilfe), Die medizinische Versorgungslage in der
Türkei, 13. August 2003, S. 8/9 m.w.N.; kritisch auch: OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 15.
Juli 2003 - 10 A 10168/03.OVG -, UA S. 18/19; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 4. November
2003 - 9a K 4962/00.A -, Asylmagazin 1-2/2004, 32, jeweils m.w.N.,
stellt dies im Ergebnis nicht in Frage, dass mittellose Kranke benötigte Arzneimittel erhalten
können. Auch die Schweizerische Flüchtlingshilfe bestätigt, dass es neben der "yesil kart"
zusätzlich die Möglichkeit gibt, in Notlagen unter ähnlichen und in gleicher Weise
nachzuweisenden Voraussetzungen den Förderfonds für Sozialhilfe und Solidarität in
Anspruch zu nehmen, der auch Kosten von Medikamenten für chronisch Kranke
übernimmt.
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Vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 7. November 2002 - A 12 S 907/00 -, UA S. 34
m.w.N.; siehe auch Auswärtiges Amt, Lagebericht Türkei vom 19. Mai 2004, S. 47; Kaya,
Gutachten vom 3. Mai 2004, 21. Februar 2001 und 10. Februar 2001, jeweils an das VG
Bremen; kritisch im konkreten Einzelfall: OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 15. Juli 2003 -
10 A 10168/03.OVG -, UA S. 19.
Soweit von willkürlichen Praktiken auch bei der Bearbeitung von Anträgen an die Stiftung
für Sozialhilfe und Solidarität und von entsprechenden Verzögerungen berichtet wird,
vgl. Kaya, Gutachten vom 3. Mai 2004 an das VG Düsseldorf,
handelt es sich um - oft vom regional zuständigen Regierungsvertreter abhängiges -
Fehlverhalten in Einzelfällen. Dass sich Derartiges im Fall eines bestimmten Rückkehrers
wiederholt, kann, sofern nicht konkrete Anhaltspunkte vorliegen, nicht ohne weiteres als
beachtlich wahrscheinlich unterstellt werden.
Davon abgesehen kann Unterstützung auch von religiösen Stiftungen erbeten werden.
So auch VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 7. November 2002 - A 12 S 907/00 -, UA S.
34; Auswärtiges Amt, Lagebericht Türkei vom 9. Oktober 2002, S. 48; im konkreten
Einzelfall wiederum kritisch: OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 15. Juli 2003 - 10 A
10168/03.OVG -, UA S. 19.
Eine wichtige und wirksame Quelle für Hilfe in Notlagen finden türkische Staatsangehörige
im Allgemeinen zunächst in ihren Familien. Die familiären Bande in der türkischen
Bevölkerung sind stark, was auf die islamische Tradition zurückgeht. Dieser Zusammenhalt
und ggf. auch der im Stammesverband bewirken, dass besser gestellte Mitglieder sich stets
bemühen, den schlechter gestellten zu helfen, sofern diese nicht selbst ihre Existenz
sichern können.
Vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 7. November 2002 - A 12 S 907/00 -, UA S. 34
m.w.N.
Ist danach in der Regel davon auszugehen, dass ein mittelloser psychisch Kranker die von
ihm dauerhaft benötigte medizinische Behandlung einschließlich der verordneten
Arzneimittel erlangen kann, kann gleichwohl in Einzelfällen Abweichendes gelten, wenn
konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass mit Hilfe der Grünen Karte, des Förderfonds
für Sozialhilfe und Solidarität oder religiöser Stiftungen eine medizinisch erforderliche
Behandlung nicht, nicht rechtzeitig oder nicht im erforderlichen Umfang sichergestellt
werden kann und der Betroffene diese auch unter Berücksichtigung denkbarer Hilfen durch
Familie, Freunde oder - für eine Übergangszeit - auch der Ausländerbehörde hierzu
wirtschaftlich voraussichtlich nicht wird finanzieren können.
So schon OVG NRW, Urteil vom 27. Juni 2002 - 8 A 4782/99.A -, UA S. 110.
Dies zugrundegelegt ist nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass dem
Kläger die erforderliche medizinische Behandlung einschließlich der laufenden
Arzneimittelversorgung in der Türkei aus finanziellen Gründen versagt bleiben wird.
Konkrete Anhaltspunkte für eine derartige Annahme macht der Kläger nicht geltend; mit
den in der Türkei bestehenden Hilfsangeboten setzt er sich nicht substantiiert auseinander.
Gesichtspunkte, die die Finanzierbarkeit der vom Kläger benötigten medizinische
Versorgung in Frage stellen, sind auch sonst nicht ersichtlich.
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Da sich die zuständige Ausländerbehörde mit Schreiben vom 16. Dezember 2004 bereit
erklärt hat, den Kläger im Fall der Abschiebung oder freiwilligen Ausreise in die Türkei für
eine Übergangszeit von zwei bis drei Monaten mit einem Vorrat der erforderlichen
Medikamente zu versorgen, ist ungeachtet der in der Türkei für derartige Übergangszeiten
in Betracht kommenden staatlichen und privaten Hilfen jedenfalls der Zeitraum bis zur
Bearbeitung des Antrags auf Ausstellung der yesil kart abgedeckt.
d) Eine zielstaatsbezogene Gefahr i.S.v. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG besteht für den
Kläger in der Türkei aber deshalb, weil er die notwendige Behandlung bzw. Medikation aus
anderen als finanziellen Gründen, nämlich wegen fehlender Überwachung und Betreuung
nicht erlangen kann.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 29. Oktober 2002 - 1 C 1.02 -, Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr.
66 = DVBl. 2003, 463.
Das Westfälische Zentrum für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik hat dem
Kläger in dem Gutachten vom 4. Dezember 2001, S. 8, und nochmals im
Entlassungsbericht vom 9. Januar 2003 mangelnde Krankheitseinsicht, daraus
resultierende Nichteinnahme von Medikamenten und die dementsprechende
Notwendigkeit einer permanenten Gesundheitsbetreuung bescheinigt. Der mit der
ambulanten Behandlung des Klägers betraute Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr.
B3. hat dies in seinen Attesten vom 19. Oktober 2004 und vom 7. Dezember 2004 bestätigt.
Wie die Betreuerin des Klägers und dessen Ehefrau dem Senat anschaulich geschildert
haben, besteht diese Betreuung vor allem darin, ihn - häufig gegen seinen ausdrücklichen
Willen - zur termingerechten Wahrnehmung der Arzttermine zu bewegen, weil anderenfalls
bei Ausbleiben der Wirkung der Depotmedikation die Gefahr einer dramatischen
Verschlechterung des Zustands bestünde. Selbst unter dem Einfluss der Medikamente,
insbesondere bei nachlassender Wirkung der letzten Injektion des Depotmedikaments,
also in den Tagen vor dem jeweils nächsten Termin, neigt er schon bei nichtigen Anlässen
zu heftigen Ausbrüchen ("Ausrastern"), die bis zur Ausübung körperlicher Gewalt - bislang
wohl nur gegen Sachen - gehen; teilweise zieht er sich aber auch zurück und verweigert
jeglichen Kontakt zu anderen Menschen. Größere Menschenansammlungen erträgt er
generell nicht; häufig fühlt er sich hintergegangen und bedroht.
Hiernach stellt die Betreuung des Klägers erhebliche Anforderungen an die Person, die
diese Aufgabe übernimmt. Einen Kranken auch und gerade dann in der geschilderten
Weise zu überwachen, wenn er sich der Betreuung ausdrücklich widersetzt, verlangt der
Betreuungsperson ein hohes Maß an Verständnis für die vorliegende psychische
Erkrankung, ausgeprägte Nervenstärke und nicht zuletzt Durchsetzungskraft ab. Letzteres
ist nur gewährleistet, wenn es sich um eine Person handelt, der der Kläger einen gewissen
Respekt entgegenbringt. Diese Überzeugung des Senats beruht im wesentlichen auf den
anschaulichen und nachvollziehbaren Schilderungen der Betreuerin des Klägers. Sie ist
allem Anschein nach mit dessen persönlichen und familiären Verhältnissen sowie dem
Krankheitsbild gut vertraut. Ihre Angaben und Einschätzungen sind zwar naturgemäß nicht
gänzlich unberührt von einer gewissen Nähe zu den Interessen des von ihr Betreuten.
Gleichwohl hat der Senat keinen Anlass, an der Richtigkeit ihrer Schilderungen zu
zweifeln. Denn sie hat durchaus auch Angaben gemacht, die dem Klageerfolg ersichtlich
nicht unmittelbar förderlich waren, so etwa als sie - im Gegensatz zu dem anwaltlichen
Vortrag im Berufungsverfahren - die Einschätzung äußerte, sie halte es für eher
wahrscheinlich, dass die Ehefrau des Klägers diesen - sollte es zu einer Abschiebung
kommen - doch in die Türkei begleiten werde. Soweit die Ehefrau des Klägers die
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Schwierigkeiten bei der Betreuung ihres Ehemannes bei ihrer Zeugenvernehmung
zurückhaltender beschrieb, wertet der Senat dies nicht als Widerspruch zu den Angaben
der Betreuerin. Die Wahrnehmung der Ehefrau ist ersichtlich dadurch geprägt, dass es ihr
über längere Zeitabschnitte durchaus gelingt, den Kläger ohne fremde Hilfe zu betreuen;
zudem erscheint auch nachvollziehbar, dass ihr daran gelegen ist, den Erfolg ihrer
Bemühungen um den Kläger - nicht nur gegenüber dem Senat, sondern wohl vor allem
auch gegenüber ihrer Familie - darzustellen. Diesen Erfolg hat die Betreuerin im Übrigen
auch nachdrücklich bestätigt. Dem steht nicht entgegen, dass es der Ehefrau - wie sie
selbst einräumen musste - nicht in jedem Fall, sondern - wie die Betreuerin angab - nur bei
etwa jedem zweiten Termin gelingt, den Kläger dazu zu bewegen, den Arzt aufzusuchen,
um sich die benötigte Spritze verabreichen zu lassen. Da der Senat in der mündlichen
Verhandlung ein umfassendes und zuverlässiges Bild vom Umfang der
Betreuungsbedürftigkeit erlangt hat, das die Aussagen der vorliegenden ärztlichen
Gutachten und Atteste bestätigt und erläutert, besteht kein weiterer Aufklärungsbedarf
durch Vernehmung des vorbereitend geladenen, zum Termin aber nicht erschienenen Dr.
B3. .
Gemessen an den vorstehend beschriebenen Anforderungen an die Betreuungsperson ist
nicht erkennbar, dass die notwendige Betreuung des Klägers in der Türkei sichergestellt
wäre.
In Betracht kommt insoweit zunächst eine Betreuung durch Familienangehörige,
insbesondere seine Ehefrau, die ihn auch bislang betreut. Fraglich erscheint schon, ob sie
überhaupt bereit ist, ihrem Ehemann in die Türkei zu folgen. Dabei hat der Senat nicht
darüber zu entscheiden, inwieweit ihr die gemeinsame Rückkehr in die Türkei in
ausländerrechtlicher Hinsicht zumutbar ist. Maßgeblich ist vielmehr, ob es beachtlich
wahrscheinlich ist, dass die Ehefrau des Klägers im Falle einer Abschiebung tatsächlich
nicht mit ihm in ihr Heimatland zurückkehren wird. Diese Prognose vermag der Senat nicht
zu treffen, zumal er durch die Vernehmung der Zeugin die Überzeugung gewonnen hat,
dass sie selbst die Frage bislang verdrängt und für sich noch nicht beantwortet hat. Der
Senat nimmt der Zeugin ab, dass sie - bevor es so weit kommt - alles unternehmen will, um
ihrem Ehemann einen Aufenthalt in Deutschland zu ermöglichen. Zweifelhaft erscheint ihre
Rückkehr in die Türkei insoweit, als sie sich seit 24 Jahren in der Bundesrepublik
Deutschland aufhält, hier fließend Deutsch gelernt, die Hauptschule besucht und eine
Ausbildung zur Damenschneiderin absolviert, also eine wesentliche Sozialisation erfahren
hat.
Vgl. dazu im Rahmen der ausländerrechtlichen Zumutbarkeit etwa: OVG Saarland,
Beschluss vom 26. November 1998 - 1 V 25/98, 1 W 15/98 -, juris.
Der Umstand, dass sie offenkundig fest im türkisch-islamischen Kulturkreis verwurzelt ist
und nicht nur in ihrer Ehe, sondern auch im Kontakt mit ihrer Familie stets Türkisch spricht,
lässt eine Aufgabe des hier erlangten Aufenthaltsstatus gleichwohl nicht ausgeschlossen
erscheinen. Letztlich kommt es auf diese Prognose aufgrund der Besonderheiten des
Einzelfalls nicht an. Denn nach der in der mündlichen Verhandlung gewonnenen
Überzeugung des Senats ist die Ehefrau des Klägers allein ohnehin nicht in der Lage, die
nötige Betreuung, nämlich vor allem die regelmäßig Verabreichung der benötigten
Depotmedikation, zu gewährleisten, weil er sich etwa bei jedem zweiten Termin nur nach
ergänzender Intervention der Betreuerin, die er als Respektsperson akzeptiert, bereit findet,
den Arzt aufzusuchen.
Anhaltspunkte dafür, dass eine Respektsperson in der Türkei zur Verfügung steht, die die
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Betreuung des Klägers zusammen mit seiner Ehefrau oder auch allein gewährleisten
könnte, sind nicht ersichtlich. Beide Brüder des Klägers sind im Jahr 2003 verstorben.
Lediglich entfernt verwandte Angehörige der Großfamilie, etwa die Abkömmlinge des 85-
jährigen Onkels aus L. L1. , kommen, selbst wenn sie bereit sein sollten, den Kläger bei
sich aufzunehmen, ebenso wenig in Betracht wie entfernte Verwandte der Ehefrau des
Klägers. Darüber hinaus belegt der Umstand, dass der Kläger in einem Waisenhaus
aufgewachsen ist, dass das Bewusstsein einer familiären Zusammengehörigkeit innerhalb
der Großfamilie des Klägers - entgegen den üblichen Verhältnissen in der Türkei -
offenkundig nicht ausgeprägt ist und zumindest seinerzeit ganz gefehlt hat. Es kann auch
dahinstehen, ob der Kläger - was sich nicht abschließend klären ließ - noch eine
Schwester hat. Selbst wenn dies entgegen seinen Angaben der Fall sein sollte, ist
jedenfalls davon auszugehen, dass er bereits seit langem keinen Kontakt mehr zu ihr hat,
so dass auch sie die oben dargestellten Anforderungen nicht erfüllt. Es spricht auch nichts
dafür, dass die erforderliche Betreuung des Klägers außerhalb der Familie gewährleistet
werden könnte. Soweit die Beklagte auf die Existenz von Einrichtungen für geistig
Behinderte verweist, ist bereits nicht ersichtlich, dass der an einer psychischen Krankheit
leidende, aber intellektuell nicht minderbegabte Kläger zu dem Personenkreis zählt, der
Aufnahme in einer derartigen Einrichtung finden kann. Dauereinrichtungen für psychisch
Kranke, seien es offene oder geschlossene Psychiatrien, Wohnheime im geschützten
Raum oder betreute Wohneinheiten außerhalb, sind in der Türkei nicht vorhanden.
Vgl. Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland in Istanbul, Auskunft vom 16. Juli
2003 an das Landeseinwohneramt Berlin.
Davon abgesehen kommt eine Unterbringung in einem Heim oder in einer Wohngruppe im
Fall des Klägers, bei dem insbesondere das Zusammensein mit anderen Menschen zu
Ängsten und in deren Folge zu aggressiven Ausbrüchen seiner Psychose führt, nach dem
medizinischen Befund nicht ernstlich in Betracht. Wie die Gutachterin des Westfälischen
Zentrums für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik in E. bereits in ihrem
Gutachten vom 9. April 2002 ausgeführt hat, ist eine Heimunterbringung aufgrund der
problematischen Kindheit und Jugend, die der Kläger in einem Waisenhaus verbracht hat,
"aus ärztlicher Sicht kontraproduktiv"; vielmehr ist es aus ärztlicher Sicht notwendig, dass
der Kläger in einer abgeschlossenen Wohnung leben kann.
e) Bleibt der Kläger nach einer Abschiebung in die Türkei ohne ausreichende Betreuung,
ist mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass er die benötigten Medikamente
nicht erhält; das bedeutet zugleich, dass für ihn die Gefahr gesundheitlicher
Beeinträchtigungen der von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorausgesetzten Art und Schwere
besteht.
Bei fehlender sowie auch schon bei unregelmäßiger Einnahme bzw. Injektion der
benötigten Medikamente drohen dem Kläger Angst- und Erregungszustände mit sehr
quälend erlebten Halluzinationen, leibliche Missempfindungen, Gefühle der
Gedankeneingebung und Gedankenkontrolle sowie der Fremdbestimmtheit, verbunden mit
Bedrohungsgefühlen und paranoiden Ängsten. Laut ärztlichem Entlassungsbericht des
Westfälischen Zentrums für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik in E. vom 9.
Januar 2003 klagt er dann auch über Suizidgedanken. Dr. B3. beschreibt dies unter dem 7.
Dezember 2004 als "befehlende Suizidalität", bei der der Kläger in seinen
Wahnvorstellungen von einem Geist aufgefordert werde, sich von oben herunterzustürzen.
Im seinem Attest vom 19. Oktober 2004 bescheinigt er dem Kläger, dass ein Abbruch der
medikamentösen und therapeutischen Behandlung die Gefahr psychologischer
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Exazerbationen heraufbeschwören würde. Die von Dr. B3. in dem Attest vom 7. Dezember
2004 angegebene Möglichkeit einer Selbst- und Fremdgefährdung erscheint dem Senat
bei dem beschriebenen Krankheitsbild ohne weiteres nachvollziehbar und steht in
Einklang mit den vorangegangenen ärztlichen Berichten. Schon die erstmalige
Zwangseinweisung in eine geschlossene psychiatrische Abteilung diente dazu, eine
erhebliche Selbstgefährdung abzuwenden (vgl. Amtsgericht J. , Beschluss vom 23. Mai
2001 - XIV 10917/L -; Beiakte Heft 2, Blatt 44).
Da die Umstände, die das Abschiebungshindernis begründen, nach alledem solche des
konkreten Einzelfalls sind, scheidet die Annahme einer allgemeinen Gefahr i.S.v. § 60 Abs.
7 Satz 2 AufenthG aus.
Die Entscheidung über die Kosten folgt hinsichtlich des erstinstanzlichen Verfahrens aus
§§ 155 Abs. 2, 154 Abs. 1 VwGO und hinsichtlich des zweitinstanzlichen Verfahrens aus
§§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO, jeweils i.V.m. § 83 b AsylVfG. Der Ausspruch über
die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht
gegeben sind.