Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 15.10.2010
OVG NRW (widerruf, rücknahme, kläger, zulassung, zweck, begrenzung, stand, bundesamt, antrag, vorrang)
Oberverwaltungsgericht NRW, 13 A 1639/10.A
Datum:
15.10.2010
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
13. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
13 A 1639/10.A
Tenor:
Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil
des Verwaltungsgerichts Köln vom 15. Juni 2010 wird auf seine Kosten
zurückgewiesen.
G r ü n d e :
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I.
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Mit Bescheid der Beklagten vom 17. Juni 1993 wurde für den Kläger das Vorliegen
eines Abschiebungshindernisses (nach dem damals geltenden § 53 Abs. 6 AuslG)
festgestellt. Nach der Entscheidung zur Einleitung eines Widerrufsverfahrens teilte das
Bundesamt dem Kläger dieses am 4. Oktober 2006 mit, der daraufhin mit Schreiben vom
18. Oktober 2006 Stellung nahm. Mit Bescheid vom 24. Januar 2008 widerrief die
Beklagte die 1993 getroffene Feststellung zum Vorliegen eines
Abschiebungshindernisses.
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II.
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Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
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Der allein geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der
Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG) rechtfertigt nicht die Zulassung der Berufung.
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Grundsätzlich bedeutsam ist eine Rechtssache, die eine über den Einzelfall
hinausgehende, verallgemeinerungsfähige Frage tatsächlicher oder rechtlicher Art
aufwirft, die der Rechtsvereinheitlichung und/oder Rechtsfortbildung dienlich und in der
Berufung klärungsbedürftig und klärungsfähig ist. Die Klärungsbedürftigkeit der
aufgeworfenen Frage ist dabei nicht schon dann zu bejahen, wenn diese noch nicht
ober- oder höchstrichterlich entschieden worden ist. Nach der Zielsetzung des
Zulassungsrechts ist vielmehr Voraussetzung, dass aus Gründen der Einheit oder
Fortentwicklung des Rechts eine ober- oder höchstrichterliche Entscheidung geboten
ist. Die Klärungsbedürftigkeit fehlt deshalb, wenn sich die als grundsätzlich bedeutsam
bezeichnete Rechtsfrage auf der Grundlage des Gesetzeswortlauts nach allgemeinen
Auslegungsregeln und auf der Grundlage der bereits vorliegenden Rechtsprechung
ohne weiteres beantworten lässt.
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Vgl. Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 3. Aufl. 2010, § 124 Rdn. 127, 142 f., m. w. N.;
OVG NRW, Beschluss vom 22. September 2010 - 13 A 1047/10 -.
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Der Frage,
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ob die Ausschlussfrist von einem Jahr des § 49 Abs. 2 Satz 2 VwVfG i. V. m. § 48 Abs. 4
Satz 1 VwVfG auch im Falle des Widerrufs einer Entscheidung über das Vorliegen der
Voraussetzungen des § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 AufenthG oder eines
Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 1, 2, 4 oder 6 AuslG nach § 73 Abs. 3
AsylVfG zu beachten ist,
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kommt danach keine grundsätzliche Bedeutung zu, weil sie sich durch Auslegung
beantworten lässt.
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Maßgebende Vorschrift für den in Frage stehenden Widerruf des 1993 festgestellten
Vorliegens eines Abschiebungshindernisses ist § 73 Abs. 3 AsylVfG. Dieser sieht ohne
weitere einschränkende Kriterien u. a. verpflichtend den Widerruf der Feststellung eines
Abschiebungshindernisses vor, wenn die Voraussetzungen nicht mehr vorliegen.
Angesichts dieser eindeutigen Regelung mit der Vorgabe einer gebundenen
Entscheidung steht in einem solchen Fall demnach eine Ermessensausübung und -
entscheidung des Bundesamts ohnehin nicht in Frage.
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Neben den spezialgesetzlichen Regelungen in § 73 AsylVfG über die Aufhebung von
Asylanerkennungen und Feststellungen von Abschiebungshindernissen gelten zwar
auch die Bestimmungen des allgemeinen Verwaltungsrechts über Rücknahme und
Widerruf von Verwaltungsakten (§§ 48, 49 VwVfG), soweit sie Raum dafür lassen.
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Vgl. BVerwG, Urteile vom 19. September 2000 – 9 C 12.00 -, BVerwGE 112, 80, und
vom 12.Juni 2007 – 10 C 24.07 -, InfAuslR 2007, 401; Gayer in BeckOK, Stand: Juli
2010, VwVfG § 49 Rdn. 8.3.
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Die Jahresfrist nach § 49 Abs. 2 Satz 2, § 48 Abs. 4 VwVfG kann jedoch (auch) bei § 73
Abs. 3 AsylVfG keine Anwendung finden, weil eine zeitliche Begrenzung der darin
geregelten Rücknahme- und Widerrufspflicht mit Sinn und Zweck der Bestimmung nicht
vereinbar ist.
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Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 18. April 2002 - 8 A 1405/02.A -, juris; BVerwG, Urteil
vom 12.Juni 2007 - 10 C 24.07 -, a. a. O.; vgl. auch VG Ansbach, Urteil vom 23.
September 1999 - AN 17 K 99.31173 -, InfAuslR 2000, 45.
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Diese Entscheidungen sind zwar zu § 73 Abs. 2a) AsylVfG ergangen, die an die
Rücknahme und den Widerruf vorausgegangener Asyl- und
Abschiebungsschutzentscheidungen anknüpfenden entsprechenden Erwägungen
gelten aber auch für § 73 Abs. 3 AsylVfG.
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§ 73 Abs. 3 AsylVfG enthält – anders als dies beispielsweise in § 73 Abs. 1 AsylVfG
("unverzüglich") oder in § 73 Abs. 2a AsylVfG ("drei Jahre") der Fall ist – schon keine
zeitbezogenen Kriterien und Widerrufsvoraussetzungen. Die Bestimmung, die
gleichlautend als Art. 1 § 71 im Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des
Asylverfahrens von Februar 1992 (BT-Drucks. 12/2062) enthalten war, ist während der
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gesamten Zeit nicht geändert oder ergänzt worden und hat insbesondere auch keine
Ergänzung erfahren in Zusammenhang mit der Einfügung der Absätze 2a) bis 2c) in §
73 AsylVfG. Der Wortlaut des § 73 Abs. 3 AsylVfG und die Systematik des § 73 AsylVfG
insgesamt rechtfertigen deshalb die Annahme, dass bei dieser Bestimmung eine
zeitliche Begrenzung für eine Rücknahme oder einen Widerruf der genannten
Maßnahmen nach § 60 AuslG (§ 53 AuslG a. F.) und insbesondere auch eine - aus den
§§ 48,49 VwVfG abgeleitete - Jahresfrist nicht relevant sind. Dass § 48 VwVfG in § 73
Abs. 4 AsylVfG genannt ist, bewirkt keine andere Sichtweise, weil sich dies zum einen
lediglich auf die mögliche Rücknahme eines Bescheids entweder nach § 73 AsylVfG
oder nach § 48 VwVfG bezieht, während hier ein Widerruf in Frage steht, und die
Regelung im Übrigen nicht dahin verstanden werden kann, dass konkrete
Tatbestandsmerkmale des § 48 VwVfG als anwendbar angesehen werden müssen.
Die §§ 72 - 73 a AsylVfG enthalten zudem ein gestuftes System von gesetzlichen
Erlöschensgründen und zwingenden Aufhebungstatbeständen für asylrechtliche
Anerkennungen nach Art. 16 a GG und § 51 Abs. 1 AuslG a. F. sowie für die Gewährung
von ausländerrechtlichem Abschiebungsschutz durch das Bundesamt nach § 53 Abs. 1,
2, 4 oder 6 AuslG a. F. Dieses Regelungssystem erfasst indes (nur) bestimmte, vom
Gesetzgeber als spezialgesetzlich regelungsbedürftig angesehene Fallgruppen.
Ebenso wie § 73 Abs. 2 AsylVfG verschärft auch § 73 Abs. 3 AsylVfG die allgemeine
Regelung, welche die Rücknahme oder – hier einschlägig – den Widerruf in das
Ermessen der Behörde stellt (§§ 48, 49 VwVfG), zu einer Rücknahmepflicht für die
Fallgruppe unrichtiger Angaben oder verschwiegener Tatsachen oder zu einer
Widerrufspflicht, wenn die Voraussetzungen der früheren Feststellung eines
Abschiebungshindernisses nicht mehr vorliegen. Nach Sinn und Zweck knüpft die
Bestimmung, gerade auch hinsichtlich des letzteren Merkmals des Wegfalls der
Voraussetzungen für einen Abschiebungsschutz, an die objektive Rechtslage an. Dies
begründet einen Vorrang der - an die tatsächlich vorhandenen Gegebenheiten
anknüpfenden - materiellen Gerechtigkeit vor der Rechtssicherheit in Form bestehender
Abschiebungsschutz-Anerkennungen. Für die Frage, ob Abschiebungsschutz
überhaupt oder weiterhin zu gewähren ist, sollen allein die tatsächlichen
Voraussetzungen maßgebend sein. Vertrauensschutzgesichtspunkte zugunsten des
Betreffenden spielen hingegen ebenso wenig eine Rolle wie humanitäre
Zumutbarkeitserwägungen, die beispielsweise in § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG genannt
sind.
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Vgl. Marx, AsylVfG, 6. Aufl., § 73 Rdn. 211 ff.; Hofmann/ Hoffmann, Ausländerrecht, § 73
Rdn. 47 ff.; GK-AsylVfG, Stand: Juni 2010, § 73 Rdn. 111; VG Ansbach, Urteil vom 23.
September 1999 - AN 17 K 99.31173 -, a. a. O.
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Mit einer an der objektiven Rechtslage und den tatsächlichen Verhältnissen orientierten
Gesetzeswertung ist eine Anwendung der Jahresfrist nach § 49 Abs. 2 Satz 2, § 48 Abs.
4 VwVfG nicht vereinbar. Eine solche würde die Prämisse, dass sich die Feststellung
von Abschiebungsschutz entscheidend an den tatsächlichen Gegebenheiten ausrichtet,
in Frage stellen und u. U. dazu führen, dass ein solcher bestehen bleiben würde,
obwohl objektiv ein entsprechendes Bedürfnis nicht (mehr) besteht. Für die
Aufrechterhaltung einer früher gewährten Schutzposition besteht wie dargelegt - in
einem solchen Fall kein gesetzlicher Ansatz.
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Die Jahresfrist nach § 49 Abs. 2 Satz 2, § 48 Abs. 4 VwVfG ist auch nicht deshalb
einschlägig, weil die in Frage stehende gebundene Entscheidung der Beklagten in eine
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Ermessensentscheidung umgedeutet werden müsste. Eine solche Umdeutung ist nach
§ 47 Abs. 3 VwVfG unzulässig.
Andere Erwägungen als die Frage der Anwendbarkeit der Jahresfrist hat der Kläger im
Rahmen der geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache nicht
angeführt.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylVfG.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).
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