Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 13.07.2007

OVG NRW: aufschiebende wirkung, psychologisches gutachten, vollziehung, erlass, vergleich, gebühr, fahreignung, ausnahmefall, gewährleistung, ermessensausübung

Oberverwaltungsgericht NRW, 16 B 823/07
Datum:
13.07.2007
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
16. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
16 B 823/07
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Münster, 10 L 263/07
Tenor:
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des
Verwaltungsgerichts Münster vom 14. Mai 2007 mit Ausnahme der
Streitwertfestsetzung geändert. Die aufschiebende Wirkung des
Widerspruchs des Antragstellers gegen die Ordnungsverfügung des
Antragsgegners vom 16. April 2007 wird wiederhergestellt.
Der Antragsgegner trägt die Kosten beider Rechtszüge.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 2.500,00 EUR
festgesetzt.
G r ü n d e :
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Der zulässige Antrag hat in der Sache Erfolg.
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Nach § 80 Abs. 1 VwGO hat ein Widerspruch grundsätzlich aufschiebende Wirkung.
Diese entfällt u.a. gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO, wenn die Behörde, die den
angegriffenen Verwaltungsakt erlassen hat, aus Gründen des überwiegenden
öffentlichen Interesses die sofortige Vollziehung des Verwaltungsakts anordnet. Das
Gericht kann jedoch auf Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO die aufschiebende Wirkung
wiederherstellen. Das kommt in Betracht, wenn sich bei summarischer Prüfung die
angefochtene Verfügung als offensichtlich rechtswidrig erweist oder wenn aus sonstigen
Gründen das Interesse des Antragstellers an der beantragten Aussetzung der
Vollziehung das öffentliche Interesse an der sofortigen Durchsetzbarkeit des
Verwaltungsakts überwiegt.
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Die für eine Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO erforderliche und vom Senat unter
eigener Ermessensausübung zu treffende Abwägung des Aussetzungsinteresses des
Antragstellers mit dem Vollziehungsinteresse des Antragsgegners fällt zu Ungunsten
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des Antragsgegners aus.
Die angefochtene Ordnungsverfügung erweist sich bei summarischer Prüfung als
offensichtlich rechtswidrig. Es kann dahinstehen, ob vorliegend die Voraussetzungen
gegeben sind, bei deren Vorliegen nach der Rechtsprechung des Senats eine
Ordnungsverfügung nicht offensichtlich rechtswidrig ist, mit der wegen missbräuchlicher
Berufung auf europarechtliche Freizügigkeitsregelungen das Recht aberkannt wird, von
einer ausländischen Fahrerlaubnis im Inland Gebrauch zu machen.
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Vgl. dazu eingehend OVG NRW, Beschluss vom 13. September 2006 - 16 B 989/06 -,
Blutalkohol 43 (2006), 507 = VRS 111 (2006), 466, sowie unter Berücksichtigung der
neueren Rechtsprechung des EuGH bzw. der 3. EG-Führerscheinrichtlinie die
Beschlüsse vom 23. Februar 2007 - 16 B 178/07 -, NZV 2007, 266, sowie vom 6. März
2007 - 16 B 236/07 -, veröffentlicht unter www.fahrerlaubnisrecht.de.
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Denn auch wenn dies der Fall sein sollte, hält die Ordnungsverfügung des
Antragsgegners bei summarischer Prüfung einer rechtlichen Prüfung nicht stand. In der
Senatsrechtsprechung ist geklärt, dass die Senatspraxis in den Fällen des sogenannten
Führerscheintourismus nur dann mit der Rechtsprechung des Europäischen
Gerichtshofs in Einklang gebracht werden kann, wenn die Anforderungen im Einzelfall
beachtet worden sind, die der Europäische Gerichtshof in anderen rechtlichen
Zusammenhängen an einzelstaatliche Bestimmungen oder Maßnahmen zur Abwehr
missbräuchlichen oder betrügerischen Handelns gestellt hat. Dazu gehört, dass diese
Bestimmungen oder Maßnahmen dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügen
müssen, also nicht über das hinausgehen dürfen, was zur Erreichung des durch das
Missbrauchsverhalten gefährdeten Ziels - hier: der Gewährleistung des Schutzes des
Straßenverkehrs vor ungeeigneten Fahrerlaubnisinhabern - erforderlich ist.
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Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 13. September 2006 - 16 B 989/06 -, a.a.O.; Beschluss
vom 22. Mai 2007 - 16 B 518/07 -, juris
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Deshalb darf zumindest im Regelfall erst dann das Gebrauchmachen von einer
ausländischen Fahrerlaubnis im Inland untersagt werden, wenn der Betroffene die ihm
gebotene Gelegenheit, seine aktuelle Kraftfahreignung nachzuweisen, nicht genutzt hat,
er also z.B. trotz entsprechender Aufforderung kein positives medizinisch-
psychologisches Gutachten über seine aktuelle Fahreignung beigebracht hat. Dies hat
der Antragsgegner nicht beachtet. Anhaltspunkte für einen wie auch immer gearteten
Ausnahmefall, der ein Absehen von der vorherigen Überprüfung der Kraftfahreignung
rechtfertigte, sind nicht ersichtlich. Insbesondere spricht nach Aktenlage nichts dafür,
dass der Antragsteller vor dem Erlass der angefochtenen Ordnungsverfügung erklärt
hätte, im Falle einer entsprechenden Aufforderung an der Aufklärung seiner
Kraftfahreignung nicht mitzuwirken. Gegen eine Abweichung vom oben
angesprochenen Regelfall spricht, dass die letzte Trunkenheitsfahrt des Antragstellers
im Zeitpunkt der Erteilung der tschechischen Fahrerlaubnis schon über vier Jahre und
im Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Ordnungsverfügung bereits mehr als fünf
Jahre zurück lag und weitere, die Kraftfahreignung berührende Umstände nicht
aktenkundig geworden sind.
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Unerheblich ist in vorstehendem Zusammenhang, dass der Antragsgegner den
gerichtlichen Vergleichsvorschlag vom 6. Juni 2007 angenommen hat, nicht aber der
Antragsteller. Dieser Vergleichsvorschlag, der die Aufhebung der
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Vollziehungsanordnung einerseits und die Verpflichtung des Antragstellers zur
Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens andererseits zum
Gegenstand hatte, versuchte einen Interessenausgleich zwischen den Beteiligten
herbeizuführen. Es ginge aber zu weit und würde den Antragsteller in seiner freien
Entscheidung, den Vergleich anzunehmen oder abzulehnen, über Gebühr beengen,
wollte man aus dem Umstand, dass er den Vergleich nicht angenommen hat, etwa
darauf schließen, er hätte auch einer entsprechenden Aufforderung des Antragsgegners
vor Erlass der Ordnungsverfügung nicht entsprochen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO; die Streitwertfestsetzung beruht
auf §§ 47 Abs. 1 und 2, 52 Abs. 1 und 2, 53 Abs. 3 Nr. 2 GKG.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO; §§ 66 Abs. 3 Satz 3, 68 Abs. 1
Satz 5 GKG).
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