Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 03.12.2001

OVG NRW: erwerbsunfähigkeit, freiwillige leistung, blindheit, behinderung, gesellschaft, augenheilkunde, surrogat, zink, fürsorge, verfassungskonform

Oberverwaltungsgericht NRW, 12 E 159/00
Datum:
03.12.2001
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
12. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
12 E 159/00
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Köln, 5 K 6217/96
Tenor:
Der angefochtene Beschluss wird geändert.
Dem Kläger wird für das erstinstanzliche Verfahren ratenfreie
Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt G. aus K. beigeordnet.
Das Verfahren ist gerichtskostenfrei; außergerichtliche Kosten werden
nicht erstattet.
G r ü n d e:
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Dem Kläger ist unter Abänderung des angefochtenen Beschlusses des
Verwaltungsgerichts die begehrte Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von
Rechtsanwalt G. zu bewilligen. Der Kläger erfüllt auch im jetzigen Zeitpunkt die
wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe. Die im
Klageverfahren beabsichtigte Rechtsverfolgung hatte hinreichende Aussicht auf Erfolg.
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Hinreichende Aussicht auf Erfolg bedeutet bei einer an Art. 3 Abs. 1 GG und an Art. 19
Abs. 4 GG orientierten Auslegung des Begriffs einerseits, dass Prozesskostenhilfe nicht
erst und nur dann bewilligt werden darf, wenn der Erfolg der beabsichtigten
Rechtsverfolgung gewiss ist, andererseits aber auch, dass Prozesskostenhilfe versagt
werden darf, wenn ein Erfolg in der Hauptsache zwar nicht schlechthin ausgeschlossen,
die Erfolgschance aber nur eine entfernte ist. Die Prüfung der Erfolgsaussichten eines
Rechtsschutzbegehrens darf dabei nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder
Rechtsverteidigung selbst in das summarische Verfahren der Prozesskostenhilfe
vorzuverlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen.
Das Prozesskostenhilfeverfahren will den grundrechtlich garantierten Rechtsschutz
nicht selbst bieten, sondern zugänglich machen. Schwierige, bislang nicht hinreichend
geklärte Rechts- und Tatsachenfragen dürfen nicht im Prozesskostenhilfeverfahren
geklärt werden,
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vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschlüsse vom 10. August 2001 - 2 BvR 569/01 -, vom
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30. Oktober 1991 - 1 BvR 1386/91 -, NJW 1993 S. 889 und vom 13. März 1990 - 2 BvR
94/88 u.a. -, NJW 1998 S. 413.
Nach diesem Maßstab war eine hinreichende Aussicht auf Erfolg hier zu bejahen, weil
das Bestehen des geltend gemachten Anspruchs des Klägers nicht von vornherein
verneint werden konnte. Es sprach viel, wenn nicht alles dafür, den Beklagten unter
Aufhebung seines Bescheides vom 30. November 1995 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 22. Mai 1996 im Klageverfahren zu verpflichten, für den
Zeitraum vom 20. Januar 1995 bis zum 31. Mai 1996 den vom Kläger begehrten
Mehrbedarf wegen Erwerbsunfähigkeit nach § 23 Abs. 1 Nr. 2 des
Bundessozialhilfegesetzes in der für den streitbefangenen Zeitraum maßgeblichen
Fassung vom 23. März 1994 (BGBl. I S. 646 – BSHG a.F.) zu gewähren.
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Nach dieser Vorschrift ist ein Mehrbedarf von 20 vom Hundert des maßgebenden
Regelsatzes anzuerkennen für Personen unter 65 Jahren, die erwerbsunfähig im Sinne
der gesetzlichen Rentenversicherung sind, soweit nicht im Einzelfall ein abweichender
Bedarf besteht. Der Kläger dürfte die Voraussetzungen für die Gewährung dieses
Mehrbedarfs erfüllt haben. Er war unter 65 Jahre alt und erwerbsunfähig, ohne dass ein
abweichender Bedarf vorgetragen bzw. sonst ersichtlich gewesen wäre.
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Nach Lage der in den Verwaltungsvorgängen des Beklagten enthaltenen sowie der im
Klageverfahren überreichten weiteren Unterlagen konnte ein vernünftiger Zweifel an der
Erwerbsunfähigkeit des Klägers im streitbefangenen Zeitraum nicht aufkommen. Das gilt
um so mehr, als der Beklagte selbst, dessen Bedienstete sowohl über das juristische
wie das medizinische Fachwissen verfügen, ebenfalls von der Erwerbsunfähigkeit des
Klägers ausging.
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Der Anspruch des Klägers auf die Gewährung des Mehrbedarfszuschlags nach § 23
Abs. 1 Nr. 2 BSHG a.F. wäre nicht durch die Regelung in § 67 Abs. 5 Satz 2 BSHG a.F.
ausgeschlossen gewesen. Danach ist der Mehrbedarf nach § 23 BSHG a.F. bei einem
Erwerbsunfähigen, der blind ist, nur dann anzuerkennen, wenn er nicht allein wegen
Blindheit erwerbsunfähig ist. § 67 Abs. 5 Satz 2 BSHG a.F. findet auch dann
Anwendung, wenn der Hilfe Suchende zwar nicht blind ist, bei ihm jedoch eine dem
Schweregrad der Sehschärfe auf dem besseren Auge von nicht mehr als 1/50 gleich zu
achtende, nicht nur vorübergehende Störung des Sehvermögens vorliegt (§ 67 Abs. 7
BSHG a.F. in Verbindung mit § 76 Abs. 2a Nr. 3a BSHG a.F.) und er deshalb als blind
gilt.
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Der Kläger, der im streitbefangenen Zeitraum unstreitig noch nicht blind war, galt auch
noch nicht als blind. Die dafür erforderliche Störung des Sehvermögens liegt nach den
Richtlinien der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft,
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abgedruckt in „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen
Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht, herausgegeben vom
Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, 1996, S. 44 f.,
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auf die das Gericht als antizipierte Sachverständigenäußerung zurückgreifen darf, bei
einer Einengung des Gesichtsfeldes auf 15 Grad dann vor, wenn die Sehschärfe nicht
mehr als 0,05 beträgt. Ausweislich der augenfachärztlichen Bescheinigung des Arztes
für Augenheilkunde Dr. H. vom 22. Mai 1995, an deren Richtigkeit zu zweifeln kein
Anlass besteht, hatte der auf dem rechten Auge blinde Kläger bei einer Einengung des
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Gesichtsfeldes auf 15 Grad noch eine Sehschärfe von 0,3. Der Kläger erlangte auch
nicht etwa im weiteren Verlauf des streitbefangenen Zeitraums den Status, als blind zu
gelten. Da sein Sehvermögen Ende Februar 1997 "gerade erst" zuließ, ihn als blind
gelten zu lassen, muss für den streitbefangenen Zeitraum noch von einem höheren
Sehvermögen ausgegangen werden. Ausweislich einer weiteren augenfachärztlichen
Bescheinigung des Arztes für Augenheilkunde Dr. H. vom 24. Februar 1997 war bei
einer Sehschärfe von 0,2 das Gesichtsfeld des Klägers zu diesem Zeitpunkt
konzentrisch auf zwischen 5 und 8 Grad eingeschränkt. Nach den Richtlinien der
Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft liegt eine der Blindheit gleich zu achtende
Sehstörung vor, wenn bei einer Sehschärfe von 0,1 oder weniger die Grenze des
Gesichtsfeldes in keiner Richtung mehr als 7,5 Grad vom Zentrum entfernt ist bzw. wenn
bei normaler Sehschärfe die Grenze der Gesichtsfeldinsel in keiner Richtung mehr als 5
Grad vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50 Grad
unberücksichtigt bleiben.
Eine analoge Anwendung des § 67 Abs. 5 BSHG a.F. auf den nach alledem hier
vorliegenden Fall einer hochgradigen Sehschwäche, bei der der Betroffene nicht schon
als blind gilt, kommt nicht in Betracht. Die Regelung des § 67 Abs. 5 BSHG a.F. zielt
darauf ab, eine Mehrfachbegünstigung durch doppelte Leistungen für ein- und dieselbe
Behinderung, die ggfls. sogar zu einer Bedarfsüberschreitung führen könnte,
auszuschließen. Hierzu besteht Anlass, weil die Höhe des Blindengelds seit jeher
diejenige des Mehrbedarfs nach § 23 Abs. 1 Nr. 2 BSHG um ein Mehrfaches übersteigt.
Diese Ausgangskonstellation unterscheidet sich deutlich von derjenigen für die
Landeshilfe für hochgradig Sehschwache. Die Höhe dieser Hilfe, die im
streitbefangenen Zeitraum bzw. zum Zeitpunkt des erstmaligen Inkrafttretens von § 67
BSHG zudem lediglich durch Runderlass des zuständigen Landesministers als
freiwillige Leistung gewährt wurde, übersteigt die Höhe des Mehrbedarfs wegen
Erwerbsunfähigkeit nicht wesentlich. Das Bedürfnis für eine Kollisionsregel zu
verneinen, erscheint auch deshalb plausibel, weil Erwerbsunfähigkeit allein aufgrund
hochgradiger Sehschwäche im Unterschied zur Erwerbsunfähigkeit allein aufgrund
Blindheit kaum vorstellbar ist.
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Die dem Kläger zugeflossene Landeshilfe für hochgradig Sehschwache dürfte auch
nicht als Einkommen bei der ihm unter Anerkennung eines Mehrbedarfs wegen
Erwerbsunfähigkeit zu gewährenden laufenden Hilfe zum Lebensunterhalt zu
berücksichtigen sein.
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Nach § 77 Abs. 1 BSHG a.F. sind Leistungen, die auf Grund öffentlich-rechtlicher
Vorschriften zu einem ausdrücklich genannten Zweck gewährt werden, nur soweit als
Einkommen zu berücksichtigen, als die Sozialhilfe im Einzelfall dem selben Zweck
dient. Es spricht Überwiegendes dagegen, dass die Landeshilfe für hochgradig
Sehschwache und der Mehrbedarf für Erwerbsunfähige im Fall des Klägers dem selben
Zweck im Sinne des § 77 Abs. 1 BSHG a.F. dienten.
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Zur Verneinung der Zweckidentität lässt sich allerdings nicht ins Feld führen, der
Gesetzgeber habe mit dem Mehrbedarf für Erwerbsunfähige keinen echten Mehrbedarf
ausgleichen, sondern lediglich einen Ausgleich dafür schaffen wollen, dass der
Erwerbsunfähige – im Gegensatz zum arbeitsfähigen Hilfe Suchenden – auch unter
Einsatz besonderer Tatkraft nicht im Stande ist, durch eigene Arbeit noch etwas hinzu
zu verdienen und sich dadurch ein über den notwendigen Bedarf hinausgehendes –in
bestimmtem Umfang anrechnungsfreies – Einkommen zu verschaffen.
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So aber Hessischer VGH, Urteil vom 18. Mai 1972 – VII OE 36/71 –, FEVS 21 (1973) S.
296 ff. (303 f.); missverständlich insoweit auch die Beschlüsse des 14. Ausschusses zu
dem Entwurf der Bundesregierung eines Gesetzes zur Reform des Sozialhilferechts
(BT-Drs. 13/3904), wonach bei erwerbsunfähigen Personen im Sinne einer treffsicheren
Gewährung von sozialen Leistungen „künftig" darauf abgestellt werden müsse, ob die
Gründe der Erwerbsunfähigkeit auch zu persönlichen Beeinträchtigungen geführt
hätten.
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Der Senat sieht den Zweck des Mehrbedarfs wegen Erwerbsunfähigkeit vielmehr darin,
einen bei erwerbsunfähigen Hilfe Suchenden bestehenden zusätzlichen Bedarf, also
einen „echten" Mehrbedarf zu decken.
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So auch die Erläuterungen von Petersen, Kleinere Schriften des Deutschen Vereins für
öffentliche und private Fürsorge, Heft 55, Inhalt und Bemessung des gesetzlichen
Mehrbedarfs nach dem Bundessozialhilfegesetz, 1976, S. 44 f.; Arbeitsausschuss der
Sozialdezernenten Westfalen- Lippe, Empfehlungen zum Sozialhilferecht, Stand März
2001, Anm. 2.3 und 2.4 zu § 23; Schellhorn/Jirasek/Seipp, BSHG, 15. Aufl. 1997, § 23
Rndr. 8, Fichtner, BSHG, 1999, § 23 Rdnr. 2; vgl. auch Mergler/Zink, BSHG, Stand März
2001, § 23 Rdnr. 19 unter Hinweis auf die angeführte Entscheidung des Hessischen
VGH, jedoch mit dem Einleitungssatz, dass „nicht lediglich" Mehrausgaben
ausgeglichen werden sollen.
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Bereits der Wortlaut deutet in die Richtung, auch bei Erwerbsunfähigkeit einen echten
Bedarf anzunehmen, weil es darauf ankommt, ob nicht „im Einzelfall ein abweichender
Bedarf" besteht.
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Auch die Systematik des Gesetzes lässt sich dafür anführen, als Zweck den Ausgleich
für Mehraufwendungen wegen Erwerbsunfähigkeit anzunehmen. Anderenfalls fügte sich
die Regelung des § 67 Abs. 5 BSHG nicht ein. Sie erwiese sich bei Annahme, der
Mehrbedarf wegen Erwerbsunfähigkeit bezwecke allein die Gewährung eines – infolge
Erwerbsunfähigkeit nicht erzielbaren – Hinzuverdienstes, als mit Art. 3 Abs. 1 GG nicht
vereinbar. Es ist kein vernünftiger Grund erkennbar, den nur blinden erwerbsunfähigen
Sozialhilfeempfänger, bei dem Mehrbedarf wegen Erwerbsunfähigkeit nach § 67 Abs. 5
BSHG nicht anzuerkennen ist, damit von einem Surrogat für einen Hinzuverdienst
auszuschließen. Verfassungskonform ist diese Vorschrift nur unter der Annahme, dass
der Mehrbedarf wegen Erwerbsunfähigkeit dem Ausgleich echter Mehraufwendungen
dient, weil in diesem Fall der "nur" blinde Erwerbsunfähige den Ausgleich bereits durch
das Blindengeld hat, die Gewährung des Mehrbedarfs wegen Erwerbsunfähigkeit mithin
zur Vermeidung einer Doppelbegünstigung ausgeschlossen wird.
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Damit diente der Mehrbedarf wegen Erwerbsunfähigkeit wie auch die Landeshilfe für
hochgradig Sehschwache nach Nr. 1.1 des Runderlasses des Ministers für Arbeit,
Gesundheit und Soziales vom 17. September 1980 (MinBl NRW S. 244), geändert durch
den Runderlass vom 1. Juni 1994 (MinBl NRW S. 702) dem Ausgleich für
Mehraufwendungen. Auch können einzelne Mehraufwendungen in gleichsam „den
selben" Kategorien entstehen: Z.B. hat der wegen Krankheit und/oder Behinderung
Erwerbsunfähige wie der hochgradig Sehschwache Mehraufwand durch
Aufmerksamkeiten bei gelegentlichen Hilfeleistungen durch Dritte (Nachbarn oder
andere Bekannte). Im Kontext des § 77 Abs. 1 BSHG kommt es indes maßgeblich
darauf an, worauf der Mehrbedarf konkret beruht, ob er nur durch die Blindheit bedingt
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ist oder andere Auslöser vorhanden sind. Die Zubilligung eines Mehrbedarfs wegen
hochgradiger Sehschwäche bedeutet jedenfalls dann keine mehrfache Leistung für
denselben Bedarf, wenn der Mehrbedarf wegen Erwerbsunfähigkeit nicht ausschließlich
auf der Sehschwäche beruht.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 27. Februar 1957 – V C 179.55 –, auszugsweise veröffentlicht
in Hengstebeck, Blindenrecht – Blindenhilfe, 1959, S. 209 (210).
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Dem entsprechend ist nicht entscheidend, ob der Kläger bei Hinwegdenken seiner
hochgradigen Sehschwäche gleichwohl erwerbsunfähig gewesen wäre, sondern allein,
ob er weitere Krankheiten bzw. Behinderungen hatte, die geeignet waren, einen
Mehrbedarf auszulösen. Dies kann schon angesichts der weiteren in den auch im
streitbefangenen Zeitraum ergangenen Bescheiden des Versorgungsamtes K.
ausgewiesenen Erkrankungen des Klägers (nämlich Fehlhaltung der Wirbelsäule,
Knickfuß links, rez. Bronchitis) nicht mit der zur Verneinung hinreichender
Erfolgsaussichten bei der Bewilligung von Prozesskostenhilfe erforderlichen
Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden. Es spricht vielmehr alles dafür, dass sich
dies unter Berücksichtigung der weiteren, insbesondere auch in den
Verwaltungsvorgängen des Versorgungsamtes enthaltenen ärztlichen
Bescheinigungen, im Klageverfahren als zutreffend herausgestellt hätte.
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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 188 Satz 2 VwGO, 127 Abs. 4 ZPO.
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Dieser Beschluss ist nach § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.
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