Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 09.06.2009

OVG NRW: arzneimittel, verwaltungsverfahren, verkehr, aufstehen, unternehmer, abrede, dokumentation, daten, dosierung, datum

Oberverwaltungsgericht NRW, 13 A 1364/08
Datum:
09.06.2009
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
13. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
13 A 1364/08
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Köln, 7 K 5766/05
Tenor:
Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil
des Verwaltungsgerichts Köln vom 25. März 2008 wird auf ihre Kosten
zurückgewiesen. Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren
auf 50.000,-- Euro festgesetzt.
Gründe:
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Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
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Die von der Klägerin genannten Zulassungsgründe, die gemäß § 124a Abs. 5 Satz 2
VwGO nur im Rahmen der Darlegungen der Klägerin zu prüfen sind, liegen nicht vor.
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Es bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen
Entscheidung (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO), in der das Verwaltungsgericht ausgeführt hat:
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Die Anforderungen des arzneimittelrechtlichen Nachzulassungsverfahrens für das
streitgegenständliche Arzneimittel seien nicht erfüllt, weil die Klägerin dessen
Wirksamkeit in dem zuletzt nur noch beanspruchten Anwendungsgebiet
"Kreislaufregulationsstörungen mit Hypotonie, die im Stehtest mit Beschwerden wie
Schwindel, Schwächegefühl, Blässe, Schweißausbruch, Flimmern oder
Schwarzwerden vor den Augen sowie mit einem deutlichen Blutdruckabfall ohne einen
Anstieg der Herzschlagrate einhergeht" nicht belegt habe. Die dagegen erhobenen
Einwände der Klägerin vermögen ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der
angefochtenen Entscheidung nicht aufzuzeigen.
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Entgegen der Auffassung der Klägerin ist das Verwaltungsgericht von einem
zutreffenden rechtlichen Prüfungsmaßstab ausgegangen.
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Gemäß § 105 Abs. 4a Satz 1, § 22 Abs. 2 Satz 1 AMG sind im Rahmen des
Nachzulassungsantrags die Ergebnisse der pharmakologischen und toxikologischen
Versuche (Nr. 2) und die Ergebnisse der klinischen Prüfungen oder sonstigen
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ärztlichen, zahnärztlichen oder tierärztlichen Erprobung (Nr. 3) vorzulegen. An Stelle der
Ergebnisse nach § 22 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und 3 AMG kann der Antragsteller den
Nachweis mit "anderem wissenschaftlichen Erkenntnismaterial" i. S. v. § 22 Abs. 3 AMG
erbringen ("bibliographischer Zulassungsantrag"). Auch Altarzneimitteln können die
Erleichterungen des § 22 Abs. 3 AMG zugute kommen (§ 105 Abs. 4a Satz 1 Hs. 2
AMG).
Vgl. BVerwG, Urteile vom 16. Oktober 2008 - 3 C 23.07 und 3 C 24.07 -, jeweils juris;
OVG NRW, Beschlüsse vom 16. Dezember 2008 - 13 A 2085/07 -, vom 20. Januar 2009
- 13 A 4306/06, vom 24. Februar 2009 - 13 A 813/08 -, und vom 19. März 2009 - 13 A
1022/08 -, jeweils juris.
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An Stelle der Ergebnisse nach § 22 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und 3 AMG kann daher anderes
wissenschaftliches Erkenntnismaterial vorgelegt werden, und zwar bei einem
Arzneimittel, dessen Wirkstoffe seit mindestens zehn Jahren in der Europäischen Union
allgemein medizinisch oder tiermedizinisch verwendet wurden, deren Wirkungen und
Nebenwirkungen bekannt und aus dem wissenschaftlichen Erkenntnismaterial
ersichtlich sind (Nr. 1). § 22 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 AMG ist durch Art. 1 Nr. 15 lit. c des 14.
AMG-Änderungsgesetzes neu gefasst worden. Die Zulassungsvorschrift wird nunmehr
für Arzneimittel mit bekannten Wirkungen und Nebenwirkungen ("well established use")
i. S. v. Art. 10a der Richtlinie 2001/83/EG vom 6. November 2001 i. d. F. der Richtlinie
2004/27/EG vom 31. März 2004 konkretisiert. Der Senat hat zur Auslegung und
Anwendung von § 22 Abs. 3 AMG bereits mehrfach entschieden, dass das
Erkenntnismaterial nach Sinn und Zweck der Vorschrift sowie nach Art. 10a Satz 2 der
Richtlinie 2001/83/EG dergestalt beschaffen sein muss, das es in etwa den Ergebnissen
nach § 22 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und 3 AMG entspricht.
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Vgl. OVG NRW, Urteil vom 23. Mai 2007 - 13 A 328/04, juris, und Beschluss vom 19.
März 2009 - 13 A 1022/08 -, a. a. O., m. w. N.
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Eine derartige Bezugnahme auf anderes wissenschaftliches Erkenntnismaterial kommt
indessen nur in Betracht, wenn der Wirkstoff allgemein, das heißt nicht nur in dem in
Rede stehenden Arzneimittel medizinisch oder tiermedizinisch (etwa aufgrund einer
fiktiven Zulassung) verwendet wird. So liegt es hier aber nicht, da der Wirkstoff Oxilofrin
nach den nicht bestrittenen Feststellungen des Verwaltungsgerichts allein in dem von
der Klägerin und ihren Rechtsvorgängern in den Verkehr gebrachten Arzneimittel
verwendet worden ist. Wäre die Verwendung in dem streitbefangenen Arzneimittel
bereits ausreichend, fehlte die Vergleichsgrundlage für die Verwendung des Wirkstoffs,
die Voraussetzung dafür ist, dass im Rahmen eines bibliographischen Antrags von den
Prüfungsergebnissen nach § 22 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und 3 AMG abgesehen werden
kann. Entscheidend ist daher die Verwendung des Wirkstoffs in einem anderem
Arzneimittel, für das die Zulassungsvoraussetzungen erfüllt sind. Für dieses Ergebnis
spricht bereits der Wortlaut von § 22 Abs. 3 Satz 1 AMG. Eine allgemeine Verwendung
eines Wirkstoffs in einem Arzneimittel kann in der Regel allein auf der Grundlage einer
arzneimittelrechtlichen Zulassung erfolgen (vgl. § 21 Abs. 1 AMG sowie Art. 6 Abs. 1 der
Richtlinie 2001/83/EG). Auch die systematische Stellung von § 22 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1
AMG und Art. 10a der Richtlinie bestätigt, dass Bezugspunkt nur der Wirkstoff sein kann,
der im Rahmen einer arzneimittelrechtlichen Zulassung Verwendung findet. Denn
dieser Abschnitt im Arzneimittelgesetz und das entsprechende Kapitel in der Richtlinie
behandeln die Zulassungsvoraussetzungen und lassen - bezogen auf grundsätzlich
einzureichende Unterlagen - Ausnahmen hiervon nur insoweit zu, als eine Bezugnahme
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auf bereits zugelassene Referenzarzneimittel in Frage kommt (vgl. etwa § 24b AMG
sowie Art. 10 und Art. 10b der Richtlinie). Erkennbarer Sinn und Zweck der
Ausnahmevorschrift ist es daher, erforderliche Prüfungen und Studien ausnahmsweise
dann als entbehrlich zu betrachten, wenn verlässliche Ergebnisse schon vorliegen. Dies
verlangt allerdings eine Überprüfung des Wirkstoffs in einem arzneimittelrechtlichen
Zulassungsverfahren. Demnach wird auch die Bezugnahme auf ein im Bundesgebiet
fiktiv zugelassenes Arzneimittel als Anwendungsfall des § 22 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 AMG
nicht in Betracht kommen; es ist insofern kein geeignetes "Referenzarzneimittel".
Vgl. auch OVG NRW, Beschluss vom 26. Juni 2008 - 13 B 345/08 -, PharmR 2008, 498.
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Das Verwaltungsgericht hat im Übrigen zu der Frage, welchen Anforderungen das
wissenschaftliche Erkenntnismaterial zu genügen hat, zu Recht auf die einschlägigen
Arzneimittelprüfrichtlinien i. S. v. § 26 AMG und insbesondere auf die
Arzneimittelprüfrichtlinien vom 5. Mai 1995 (BAnz. Nr. 96a vom 20. Mai 1995) und vom
11. Oktober 2004 (BAnz. Nr. 197 vom 16. Oktober 2004) hingewiesen, die im Hinblick
auf eine "allgemeine medizinische Verwendung" im Wesentlichen dem Anhang 1 Teil II
Nr. 1 der Richtlinie 2001/83/EG i. d. F. der Richtlinie 2003/63/EG vom 25. Juni 2003
entspricht. Nach Teil II Nr. 1 lit. d des Anhangs 1 dieser Richtlinie muss im Rahmen
eines bibliographischen Antrags gezeigt werden, inwiefern vorgelegte Daten, die ein
anderes als das in den Verkehr zu bringende Arzneimittel betreffen, für die Beurteilung
des zuzulassenden Arzneimittels relevant sind. Das anderweitige Erkenntnismaterial
muss demnach die allgemeine medizinische Verwendung des Wirkstoffs oder einer
Wirkstoffkombination belegen und damit regelmäßig andere als das zur Überprüfung
anstehende Arzneimittel betreffen. Dies ist hier nicht der Fall. Dass das von der Klägerin
vorgelegte wissenschaftliche Erkenntnismaterial den rechtlichen Anforderungen
entspricht, kann - im Übrigen - auch der Senat nicht erkennen. Eine ausreichende
Beurteilung der therapeutischen Wirksamkeit des Arzneimittels in der angegebenen
Dosierung wird durch die vorgelegten klinischen Dokumente nicht ermöglicht.
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Obgleich die in der klinischen Dokumentation unter den Ziffern 7601, 7801, 7903, 8004,
8005, 8006, 8102 und 7901 geführten Berichte zwar die Wirksamkeit des Wirkstoffs
Oxilofrin betreffen, behandeln sie nach der vertretbaren Auffassung des
Verwaltungsgerichts nur durchgeführte offene Anwendungsbeobachtungen, die den
Anforderungen der Leitlinie zur Guten Klinischen Praxis (CPMP/ICH/135/95) oder den
Anforderungen der Arzneimittelprüfrichtlinie an klinische Studien nicht genügen. Diese
Bewertung hat die Klägerin mit ihrer Zulassungsbegründung nicht substantiiert in Frage
gestellt. Auch die weiteren Studien 9101 und 9102 sind zum Beleg der Wirksamkeit
nicht geeignet. Die Studie 9102 erfasst nicht das von der Klägerin beanspruchte
Anwendungsgebiet. Diese Indikation, nämlich die asympathikotone Orthostasestörung
ist in bestimmten Belastungssituationen - hier dem Stehtest - durch einen deutlichen
Blutdruckabfall bei gleichbleibender Herzschlagfrequenz charakterisiert. Dass die
Studienergebnisse zur sympathikotonen Fehlregulation (etwa beim Aufstehen) auf die
von der Klägerin beanspruchten Indikationen übertragbar sind, hat die Klägerin bis zum
Ablauf der Mängelbeseitigungsfrist nicht in einer näheren Aufarbeitung in dem nach §
24 Abs. 1 Satz 1 AMG anzufertigenden Sachverständigengutachten oder einer
wissenschaftlich begründeten Erwiderung im Mängelbeseitigungsverfahren dargelegt.
Zutreffend hat das Verwaltungsgericht daher darauf hingewiesen, dass die in der
mündlichen Verhandlung vorgebrachten Argumente diese im Verwaltungsverfahren
unterbliebenen Handlungen nicht ersetzen können. Mit weiteren
Mängelbeseitigungsversuchen ist der pharmazeutische Unternehmer allerdings sowohl
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im weiteren Verwaltungsverfahren als auch im gerichtlichen Verfahren ausgeschlossen.
Vgl. OVG NRW, Urteil vom 29. April 2008 - 13 A 4996/04 -, juris.
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Die Studie 9101 ist ebenfalls kein geeigneter Beleg. Das Verwaltungsgericht hat zu
Recht darauf hingewiesen, dass die beanspruchte und die von der Studie erfasste
Indikation nicht im Wesentlichen deckungsgleich seien, da der einbezogene
Patientenkreis nämlich sympathikotone und asympathikotone Orthostasestörungen
aufgewiesen habe. Die Studie kann demnach bei asympathikotonen
Orthostasestörungen nicht unmittelbar als Wirksamkeitsbeleg dienen, da sie eine nach
den jeweiligen Gesundheitsstörungen getrennte Auswertung die Studie nicht enthält.
Diese Bewertung stellt die Klägerin in ihrer Zulassungsbegründung nicht in Abrede.
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Die Rechtssache weist keine besonderen tatsächlichen oder rechtlichen
Schwierigkeiten auf (vgl. § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO). Die aufgeworfenen Rechtsfragen
lassen sich ohne größeren Auslegungsaufwand aus den einschlägigen Gesetzen
beantworten. Grundsätzliche Bedeutung (vgl. § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) kommt der
Rechtssache ebenfalls nicht zu.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG. Den
festgesetzten Betrag von 50.000,-- Euro legt der Senat in die Zulassung eines
Arzneimittels betreffenden Verfahren pauschalierend zugrunde, wenn nicht ein
Jahresreingewinn in anderer Höhe nachvollziehbar dargelegt wird.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar.
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