Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 17.10.2000
OVG NRW: ärztliche verordnung, krankenkasse, leistungsausschluss, vergleich, sozialhilfe, abrechnung, bestandteil, verwaltungsakt, mitgliedschaft, klagebefugnis
Oberverwaltungsgericht NRW, 22 A 387/97
Datum:
17.10.2000
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
22. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
22 A 387/97
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Düsseldorf, 22 K 8590/92
Tenor:
Das angefochtene Urteil wird geändert.
Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin die Kosten der
Dialysebehandlung, die ihr für das Mitglied Z. W. im zweiten Quartal
1990 in Höhe von 14.652,- DM entstanden sind, zu erstatten.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die weiter gehende Berufung wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens in sämtlichen Rechtszügen, für das
Gerichtskosten nicht erhoben werden, tragen die Klägerin zu 4/5 und die
Beklagte zu 1/5.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der
jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch
Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des jeweils
beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige
Vollstreckungsgläubiger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
1
Die Klägerin macht als Rechtsnachfolgerin der AOK O. gegenüber der beklagten
Sozialhilfeträgerin einen Anspruch auf Erstattung von Leistungen geltend, die die AOK
O. für die Dialysebehandlung des inzwischen verstorbenen polnischen
Staatsangehörigen Z. W. in der Zeit vom 1. April 1990 bis einschließlich 26. August
1991 erbracht hat.
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Der nierenkranke Herr W. war Dialysepatient. Im Jahr 1984 trat er der AOK O. als
freiwilliges Mitglied bei. Mit Bescheid vom 17. Oktober 1984 stellte die Krankenkasse
fest, dass nach § 310 Abs. 2 RVO Erkrankungen, die beim Beitritt bereits bestünden,
von der Leistungsverpflichtung ausgeschlossen seien. Bis zum 30. März 1990
übernahm die beklagte Sozialhilfeträgerin sämtliche Kosten der Dialysebehandlung,
und zwar nach Maßgabe der Kostenrechnungen, die ihr zum einen das vom Patienten
in Anspruch genommene Krankentransportunternehmen und zum anderen die
behandelnde Dialyseeinrichtung vorlegten. Rechnungen der Dialyseeinrichtung für die
Monate Februar und März 1990 beglich die Beklagte Mitte Mai 1990.
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Zur Abrechnung der Dialysebehandlung in den Monaten April 1990 bis August 1991
wandte sich die Einrichtung an die AOK O. . Das Krankentransportunternehmen stellte
die ihm entstandenen Kosten weiterhin der Beklagten in Rechnung. In der Folge
übernahm das Sozialamt der Beklagten die Kosten der Krankenbeförderung und die
AOK O. diejenigen der Dialysebehandlung. Die von der Krankenkasse getragenen
Behandlungskosten betrugen in der Zeit vom 1. April 1990 bis 26. August 1991
insgesamt 82.092,- DM. Für das 2. Quartal 1990 beliefen sie sich auf 14.652,- DM.
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Das Krankentransportunternehmen reichte seine Rechnungen bei der Beklagten unter
Beifügung ergänzender Unterlagen ein. Dabei handelte es sich um ärztliche
Verordnungen der Krankenbeförderung und Protokolle über durchgeführte
Dialysebehandlungen (Dialyseprotokolle). Ärztliche Verordnungen und
Dialyseprotokolle, die als Anlage der Fahrtkostenrechnungen vom 22. Februar 1990, 20.
März 1990 und 11. April 1990 vorgelegt wurden, enthalten jeweils einen Hinweis auf
das Sozialamt der Beklagten als Kostenträger. In der Anlage zur Fahrtkostenrechnung
vom 9. Mai 1990 wurde der Beklagten ein für den Monat April 1990 erstelltes
Behandlungsprotokoll zugeleitet, das unter der Rubrik Krankenkasse ebenfalls das
Sozialamt der Beklagten als Kostenträger benennt. Auf einer mit gleicher Rechnung
übermittelten ärztlichen Verordnung ist in der Formularspalte über den zuständigen
Kostenträger das Feld "AOK" angekreuzt. Im Monat Juni 1990 reichte das
Krankentransportunternehmen keine Rechnungen beim Sozialamt der Beklagten ein.
Dialyseprotokolle, die in der Zeit ab Juli 1990 bis August 1991 als Anlage vorgelegter
Fahrtkostenrechnungen Bestandteil der Sozialhilfeakten der Beklagten wurden,
benennen die AOK O. als Krankenkasse des Patienten W. .
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Mit Schreiben vom 27. August 1991, bei der Beklagten eingegangen am 28. August
1991, teilte die AOK O. der Beklagten mit, dass sie die Kosten der Dialysebehandlung
irrtümlich übernommen habe. Zuständig für die Leistung sei das Sozialamt der
Beklagten. Die von der Klägerin verlangte Erstattung in Höhe eines Betrages von
insgesamt 84.510,30 DM einschließlich der Kosten einer Feriendialyse in Höhe von
2.418,30 DM lehnte die Beklagte ab.
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Am 27. August 1992 hat die AOK O. Klage erhoben. Zur Begründung hat die Klägerin,
die mit Wirkung zum 1. April 1994 die Rechtsnachfolge der AOK O. angetreten hat,
geltend gemacht, dass die Voraussetzungen eines Erstattungsanspruches gemäß § 105
SGB X vorlägen. Die irrtümliche Übernahme der Leistungen habe auf einem Versehen
bei einer Umstellung ihres EDV-Systems beruht.
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Die Klägerin hat beantragt,
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die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin die ihr für ihr Mitglied Z. W. entstandenen
Heilbehandlungskosten in Höhe von 84.510,30 DM zu erstatten.
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Die Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie hat vorgetragen: Dem geltend gemachten Erstattungsanspruch stehe entgegen,
dass ihr die Voraussetzungen für ihre Leistungspflicht nicht bekannt gewesen seien.
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Das Verwaltungsgericht hat die Klage durch Urteil vom 29. Oktober 1996 abgewiesen.
Wegen der Einzelheiten wird auf die Entscheidungsgründe Bezug genommen.
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Am 20. Dezember 1996 hat die Klägerin Berufung eingelegt, um ihr
Erstattungsbegehren weiterzuverfolgen.
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Die Klägerin hat zunächst beantragt,
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das angefochtene Urteil zu ändern und nach dem erstinstanzlichen Klageantrag zu
erkennen und die Revision zuzulassen.
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In der mündlichen Verhandlung vom 6. September 1999 vor dem Senat haben die
Beteiligten einen Teilvergleich über die Kosten der Feriendialyse in Höhe von 2.418,30
DM geschlossen.
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Sodann hat die Klägerin sinngemäß beantragt,
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das angefochtene Urteil zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin die ihr
für ihr Mitglied Z. W. entstandenen Heilbehandlungskosten in Höhe von 82.092,00 DM
zu erstatten und die Revision zuzulassen.
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Die Beklagte hat beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Zur Begründung hat sie vorgetragen: Der etwaige Bescheid vom 17. Oktober 1994, mit
dem die Klägerin ihre Leistung in Bezug auf die Nierenerkrankung des Herrn W.
ausgeschlossen habe, könne nicht als Grundlage des Erstattungsanspruchs nach § 105
SGB X dienen, denn die Klägerin sei verpflichtet, diesen Verwaltungsakt aufzuheben.
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Mit Urteil vom 6. September 1999 hat der Senat das Verfahren, soweit es sich durch
Vergleich erledigt hat, eingestellt und das Urteil des Verwaltungsgerichts insoweit für
unwirksam erklärt. Im Übrigen hat er die Berufung zurückgewiesen und die Revision
zugelassen.
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Auf die Revision der Klägerin gegen die Zurückweisung der Berufung hat das
Bundesverwaltungsgericht mit Urteil vom 15. Juni 2000 - 5 C 35.99 - das Senatsurteil
vom 6. September 1999 aufgehoben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und
Entscheidung an das erkennende Gericht zurückverwiesen. Zur Begründung hat es
unter anderem ausgeführt: Zu Unrecht habe das Berufungsgericht die
sozialhilferechtliche Leistungszuständigkeit und -pflicht der Beklagten nach § 105 SGB
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X deshalb verneint, weil der sozialhilferechtliche Bedarf bereits gedeckt gewesen sei,
bevor sie Kenntnis von allen Voraussetzungen der Leistungspflicht erhalten habe. Das
Berufungsgericht habe Feststellungen nachzuholen, ob und gegebenenfalls ab wann
bzw. bis wann die Beklagte Kenntnis von der Hilfebedürftigkeit des Dialysepatienten W.
in Bezug auf die Kosten der Dialysebehandlung in der Zeit vom 1. April 1990 bis
einschließlich 26. August 1991 hatte (§ 105 Abs. 3 SGB X). Es erscheine nämlich
möglich, dass die Beklagte davon ausgegangen sei, dass im erstattungsrelevanten
Zeitraum ein anderer und damit (§ 2 Abs. 1 BSHG) vorrangiger Leistungsträger - aus
welchem Grund auch immer - eingetreten und damit ihre Sozialhilfeleistungspflicht
entfallen sei.
Im fortgeführten Berufungsverfahren macht die Klägerin geltend: Die Möglichkeit, dass
die Kenntnis der Beklagten von den Voraussetzungen ihrer Leistungspflicht in der Zeit
ab 1. April 1990 entfallen sei, bestehe nicht. Auf die unterbliebene Bedarfsanmeldung in
Bezug auf die Kosten der Dialysebehandlung komme es nicht an. Es sei der Erstattung
nach § 105 SGB X wesensimmanent, dass für die Dauer des irrtümlichen
Leistungseintritts eines unzuständigen Leistungsträgers kein Bedarf an den für die
Leistung zuständigen Leistungsträger herangetragen werde.
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Die Klägerin beantragt weiterhin,
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das angefochtene erstinstanzliche Urteil zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, der
Klägerin die ihr für ihr Mitglied Z. W. entstandenen Heilbehandlungskosten in Höhe von
82.092,- DM zu erstatten.
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Die Beklagte beantragt weiterhin,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Zur Begründung macht sie im Wesentlichen geltend: Die Vermutung des
Bundesverwaltungsgerichts, wonach sie die Kenntnis von der Hilfebedürftigkeit des
Dialysepatienten verloren habe, treffe zu. Ein Bedarf auf Übernahme der
Dialysebehandlungskosten sei für den streitgegenständlichen Zeitraum nicht mehr
geltend gemacht worden. Daher habe sie davon ausgehen müssen, dass der Bedarf
anderweitig gedeckt werde. Ferner habe sie zwischenzeitlich bei der Klägerin die
Aufhebung des Bescheides vom 17. Oktober 1984 beantragt, mit dem diese ihre
Leistungen ausgeschlossen habe. Wenn es darauf ankomme, ob die Klägerin als
"unzuständiger Leistungsträger" im Sinne des § 105 Abs. 1 Satz 1 SGB X gehandelt
habe, sei durch das Aufhebungsbegehren ein vorgreifliches Rechtsverhältnis nach § 94
VwGO entstanden. Für diesen Fall komme eine Verfahrensaussetzung oder - nach
Maßgabe des § 17 Abs. 2 GVG - eine eigene Entscheidung des Berufungsgerichts über
den Aufhebungsantrag in Betracht.
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Der Senat hat durch Vernehmung des ehemaligen Sachbearbeiters beim Sozialamt der
Beklagten, Herrn Amtmann U. P. , als Zeugen Beweis über die Umstände der
Sozialhilfegewährung an Herrn W. in den Jahren 1990 und 1991 erhoben. Hinsichtlich
des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Niederschrift über die Sitzung vom
17. Oktober 2000 Bezug genommen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
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Entscheidungsgründe:
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Soweit das Verfahren sich hinsichtlich der Kosten für die Feriendialyse durch Vergleich
erledigt hat, ist es analog § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen. In entsprechender
Anwendung der §§ 173 VwGO, 269 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 ZPO ist das
erstinstanzliche Urteil insoweit für unwirksam zu erklären.
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Im Übrigen hat die Berufung in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg.
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Die Klägerin hat bei Zugrundelegung der Rechtsauffassung des
Bundesverwaltungsgerichts in dem Revisionsurteil, an die der Senat gemäß § 144 Abs.
6 VwGO gebunden ist, gemäß § 105 SGB X einen Anspruch auf Erstattung der Kosten,
die ihr für die Dialysebehandlung des Herrn W. im 2. Quartal des Jahres 1990 in Höhe
von 14.652,- DM entstanden sind. Darüber hinaus ist die Beklagte nach dem als
Anspruchsgrundlage allein in Betracht kommenden § 105 SGB X nicht zur
Kostenerstattung verpflichtet.
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Die in Abs. 1 Satz 1 dieser Vorschrift geregelten Voraussetzungen sind zwar für den
gesamten entscheidungserheblichen Zeitraum erfüllt (1.), die in Abs. 3 normierte
Voraussetzung jedoch nur für den Zeitraum vom 1. April 1990 bis 30. Juni 1990 (2.).
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1. Gemäß § 105 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist für den Fall, dass ein unzuständiger
Leistungsträger Sozialleistungen erbracht hat, ohne dass die Voraussetzungen von §
102 Abs. 1 SGB X vorliegen, der zuständige oder zuständig gewesene Leistungsträger
erstattungspflichtig.
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Das Verwaltungsgericht hat zutreffend ausgeführt, dass die AOK O. als
Rechtsvorgängerin der Klägerin durch Übernahme der Dialysekosten für Herrn W.
Sozialleistungen erbracht hat und dass die Voraussetzungen des § 102 Abs. 1 SGB X
nicht vorliegen.
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Des Weiteren war die AOK O. unzuständiger Leistungsträger im Sinne des § 105 Abs. 1
Satz 1 SGB X. Sie hatte Krankenkassenleistungen für die streitbefangenen
Dialysekosten in der Zeit vom 1. April 1990 bis einschließlich 26. August 1991 wirksam
ausgeschlossen. Das folgt aus ihrem Bescheid vom 17. Oktober 1984. Darin stellte sie
unter Hinweis auf § 310 Abs. 2 RVO fest, dass Leistungen im Zusammenhang mit der
Nierenerkrankung von Herrn W. ausgeschlossen seien, weil diese Krankheit vor
Beantragung der freiwilligen Versicherung bestanden habe. Der Feststellungsbescheid
vom 17. Oktober 1984 hat seine Wirksamkeit nicht verloren. Allein die spätere
Streichung des von ihm in Bezug genommenen § 310 RVO durch Art. 5 Nr. 2 des
Gesundheits-Reformgesetzes vom 20. Dezember 1988 (BGBl I S. 2477, 2552) konnte
dies nicht bewirken. Das gilt unabhängig davon, welcher Inhalt dieser Neuregelung
insoweit zukommt. Es ist daher nicht entscheidungserheblich, ob ein - wie hier - bereits
zuvor bestimmter und eingetretener Leistungsausschluss für eine bestimmte Erkrankung
mit dem In-Kraft- Treten der Neuregelung, d.h. ab 1. Januar 1989, entfällt, oder ob sie -
ohne Übergangsregelung - nur bewirkt, dass die bisher eingetretenen
Leistungsausschlüsse bestehen bleiben, neue aber nicht mehr hinzukommen können,
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vgl. hierzu BSG, Urteil vom 17. Juni 1999 - B 12 KR 27/98 R -, Seite 4 des
Urteilsabdrucks.
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Würde die Aufhebung des § 310 Abs. 2 RVO bedeuten, dass auch für bereits vor dem 1.
Januar 1989 bestehende Versicherungsverhältnisse der Leistungsausschluss nicht
mehr gilt, so läge zwar eine Änderung der rechtlichen Verhältnisse vor. Aber nicht
bereits dadurch verliert der den Leistungsausschluss feststellende Verwaltungsakt seine
Wirksamkeit, sondern erst dadurch, dass er deswegen nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X
aufgehoben wird.
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Vgl. BSG, Urteil vom 17. Juni 1999 a.a.O., Seite 4.
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Letzteres ist nach wie vor nicht geschehen. Der bloße Antrag der Beklagten auf
Aufhebung des Bescheides berührt dessen Wirksamkeit nicht.
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Dieser Antrag rechtfertigt auch nicht die von der Beklagten angeregte Aussetzung des
vorliegenden Verfahrens nach § 94 Satz 1 VwGO. Es ist nämlich nicht abzusehen, dass
es aufgrund des Antrags zu einer Aufhebung des Bescheides kommen könnte. Es ist
noch nicht einmal ein sozialgerichtliches Verfahren zu dieser zwischen den Beteiligten
streitigen Frage anhängig. Darüber hinaus hätte eine auf Aufhebung gerichtete Klage
der Beklagten keine Aussicht auf Erfolg. Ihr dürfte die Klagebefugnis fehlen. Subjektive
Rechte eines Dritten, etwa des Sozialhilfeträgers, sind durch einen Bescheid nach §
310 Abs. 2 RVO ebenso wenig betroffen, wie durch einen Bescheid, der die
Mitgliedschaft in einer Krankenkasse ablehnt.
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Vgl. BSG, Urteil vom 17. Juni 1999, a.a.O., Seite 3 f.
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2. Die einschränkende Voraussetzung, die § 105 Abs. 3 SGB X für die Erstattungspflicht
von Trägern der Sozialhilfe aufstellt, ist vorliegend lediglich für das 2. Quartal des
Jahres 1990 erfüllt.
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Nach dieser Vorschrift gelten die Absätze 1 und 2 des § 105 SGB X gegenüber den
Trägern der Sozialhilfe nur von dem Zeitpunkt an, von dem an ihnen bekannt war, dass
die Voraussetzungen für ihre Leistungspflicht vorlagen. Die Beklagte hatte seit dem
Beginn der fortlaufenden Übernahme der durch die Dialysebehandlungen von Herrn W.
entstandenen Kosten ununterbrochen Kenntnis von der Hilfebedürftigkeit des Patienten
in Bezug auf diese Kosten. Die Beklagte hat die Kenntnis der Hilfebedürftigkeit des
Herrn W. in Bezug auf die Kosten der Dialysebehandlungen jedoch ab dem 3. Quartal
1990 verloren und bis zum Ende des erstattungsrelevanten Zeitraums nicht
wiedererlangt. Der Verlust der maßgeblichen Kenntnis führt gemäß § 105 Abs. 3 SGB X
dazu, dass eine Erstattungspflicht nach § 105 Abs. 1 Satz 1 SGB X für die Zeit vom
Kenntniswegfall bis zur Wiedererlangung der Kenntnis nicht entsteht. Der Verlust der
Kenntnis von der Hilfebedürftigkeit in Bezug auf die Kosten einer sozialhilferechtlich
notwendigen Maßnahme tritt dann ein, wenn der Sozialhilfeträger davon ausgeht, dass
nunmehr ein anderer und damit (§ 2 Abs. 1 BSHG) vorrangiger Leistungsträger - aus
welchem Grund auch immer - eingetreten und damit seine Sozialhilfeleistungspflicht
entfallen ist.
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Vgl. das vorliegend ergangene Urteil des BVerwG vom 15. Juni 2000 - 5 C 35.99 -,
FEVS 51, 445.
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Der Verlust der in Rede stehenden Kenntnis trat dadurch ein, dass, nachdem für die ab
dem 1. April 1990 durchgeführten Dialysebehandlungen Rechnungen ausgeblieben
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waren, Mitte Juli 1990 als Anlage zur Fahrtkostenabrechnung das auf einen anderen
Kostenträger hinweisende Protokoll über die Dialysebehandlung des Herrn W. im
Vormonat Juni 1990 beim Beklagten einging.
Allein das Ausbleiben der Kostenrechnungen für die Behandlungsmonate April, Mai und
Juni des Jahres 1990 ließ die Kenntnis noch nicht entfallen. Zwar wurde bereits kein
Bedarf des Hilfeempfängers W. insoweit mehr an das Sozialamt der Beklagten
herangetragen. Das konnte aber auf eine zeitliche Verzögerung der Rechnungsvorlage
zurückzuführen sein, zumal ihr Sozialamt Rechnungen für den Behandlungszeitraum
Februar/März 1990 erst Mitte Mai 1990 beglich, ohne dass die Dialyseeinrichtung etwa
im Wege der Mahnung auf eine zeitnahe Abwicklung der Abrechnung bestanden hätte.
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Nur eine ärztliche Verordnung, die - ebenso wie das vorgenannte Protokoll - in der
Anlage der Fahrtkostenrechnung vom 9. Mai 1990 vorgelegt wurde, enthielt einen ersten
Hinweis auf das Eintreten der AOK O. als Kostenträger. Gleichwohl verschaffte dieses
Schriftstück der beklagten Sozialhilfeträgerin noch nicht die Kenntnis davon, dass der
Bedarf des Hilfeempfängers W. in Bezug auf die Kosten seiner Dialysebehandlung
anderweitig gedeckt wurde. So war die Richtigkeitsgewähr dieses Hinweises aus der
Sicht der Beklagten als gering anzusehen. Die Mitteilung erschöpfte sich in einem vom
verordnenden Arzt stammenden Kreuz auf einem Formularfeld. Ferner bezog sich diese
Verordnung auf die Krankenbeförderung, nicht aber auf die streitbefangene
Dialysebehandlung und ihre Kosten. Es entsprach dem Kenntnisstand der Beklagten im
2. Quartal 1990, dass ihr Sozialamt diesem Hinweis auf einen anderen Kostenträger
nicht folgte und die Kosten der Krankenbeförderung weiterhin aus Mitteln der Sozialhilfe
beglich.
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Erst nachdem zum Ausbleiben der Rechnungen Mitte Juli 1990 der Hinweis auf einen
anderen Kostenträger in dem (ebenfalls als Rechnungsanlage) vorgelegten Protokoll
über die Dialysebehandlung des Herrn W. im Vormonat Juni 1990 hinzukam, entfiel die
maßgebliche Kenntnis der Beklagten. Dort benannte die Dialyseeinrichtung - für die
Beklagte erstmals - die "AOK" O. als Krankenkasse und damit Kostenträger der
Behandlungsmaßnahmen. Damit besaß die beklagte Sozialhilfeträgerin erst im Juli
1990 einen Informationsstand, der es ihr ermöglichte, das Ausbleiben der
Kostenabrechnungen für den jeweiligen Monat der Krankenbehandlung dem Eintreten
eines Dritten zuzurechnen. Weitere Dialyseprotokolle, die bis zum Ende des
erstattungsrelevanten Zeitraums als Anlage zu diversen Fahrtkostenrechnungen
Bestandteil der Verwaltungsvorgänge wurden, führten nicht dazu, dass die Beklagte die
Kenntnis ihrer sozialhilferechtlichen Leistungszuständigkeit wiedererlangte. In diesen
Protokollen benannte die Dialyseeinrichtung ohne Ausnahme die AOK O. als
Krankenkasse und damit Kostenträgerin der Dialysebehandlung für Herrn W. .
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Dass andere, diese Angabe in Frage stellende Informationen bei der Beklagten
eingingen, hat der erkennende Senat nicht festgestellt.
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Die fortwährende Herantragung des Bedarfs, die Kosten der Krankenbeförderung zu
tragen, stellte die Kostenträger-Angabe in den Dialyseprotokollen nicht in Frage. Da
mehrere Erklärungen für eine nach Leistungsgegenständen differenzierende
Inanspruchnahme verschiedener Kostenträger denkbar waren, brauchte die Beklagte im
Hinblick auf die Übernahme der Kosten der Dialysebehandlungen dem Grund für das
Auseinanderfallen der Kostenträger nicht nachzugehen. Der Hinweis auf die "AOK" in
den ärztlichen Verordnungen zur Krankenbeförderung war nicht dazu angetan, die
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Tragung der Dialysekosten durch einen anderen Kostenträger in Frage zu stellen. Er
hätte allenfalls Anlass geben können zu bezweifeln, dass mit der Beklagten die richtige
Kostenträgerin in Bezug auf die Krankenbeförderung in Anspruch genommen wurde.
Die Beweisaufnahme hat ebenfalls keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass der
Beklagten Informationen vorlagen, die den Hinweis auf die AOK O. als Trägerin der
Dialysekosten relativierten. Es ist angesichts des zeitlichen Abstandes von etwa 10
Jahren zu den streitbefangenen Vorgängen ohne Weiteres glaubhaft, dass der im
Hinblick darauf als Zeuge vernommene (ehemalige) Sachbearbeiter im Sozialamt der
Beklagten, Herr Amtmann P. , sich nicht mehr an die Umstände der
Sozialhilfegewährung an Herrn W. erinnern kann. Da die für den Nachweis der
Abwicklung des Sozialhilfefalls in erster Linie heranzuziehenden Verwaltungsvorgänge
der Beklagten einen Verlust der Kenntnis von der Hilfebedürftigkeit des Herrn W. in
Bezug auf die Dialysekosten ab dem 3. Quartal 1990 ergeben, geht die
Nichterweislichkeit gegenläufiger, nicht in den Verwaltungsvorgängen dokumentierter
Informationen zu Lasten der Klägerin.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO und berücksichtigt das
Verhältnis des Obsiegens und Unterliegens der Beteiligten unter Einschluss des durch
Vergleich beendeten Streitteils.
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Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 188 Satz 2 VwGO, der auch für
Erstattungsstreitigkeiten zwischen Rechtsträgern der öffentlichen Hand gilt.
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Vgl. BVerwG, Urteil vom 28. November 1974 - 5 C 18.74 -, FEVS 23, 177.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 167 Abs. 2 VwGO,
708 Nr. 10, 711 ZPO.
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Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO
nicht gegeben sind.
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