Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 23.04.2010

OVG NRW (anspruch auf rechtliches gehör, rechtliches gehör, verwaltungsgericht, richtlinie, grund, produkt, arzneimittel, auslegung, medizinprodukt, zweifel)

Oberverwaltungsgericht NRW, 13 A 622/10
Datum:
23.04.2010
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
13. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
13 A 622/10
Leitsätze:
Die Anwendung der Zweifelsfallregelung des § 2 Abs. 3a AMG führt
nicht zu einer tatsächlichen Abschaffung stofflicher Medizinprodukte.
Tenor:
Die Anhörungsrüge der Klägerin gegen den Be-schluss des Senats vom
15. März 2010 - 13 A 2612/09 - wird auf Kosten der Klägerin
zurück¬gewie-sen.
Gründe:
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Die Anhörungsrüge der Klägerin, die einen unanfechtbaren Beschluss (§ 152 Abs. 1
VwGO) betrifft, ist statthaft, aber nicht begründet. Aus ihrem Vortrag, der Senat habe sich
mit ihrem Vorbringen zum Vorliegen der Berufungszulassungsgründe des § 124 Abs. 2
Nr. 1 und 3 VwGO (ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der angefochtenen
Entscheidung sowie deren grundsätzliche Bedeutung) nicht auseinandergesetzt, ergibt
sich nicht, dass der Senat ihren Anspruch auf rechtliches Gehör in
entscheidungserheblicher Weise verletzt hat.
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Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur
Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Art. 103 Abs. 1 GG ist allerdings erst
dann verletzt, wenn sich im Einzelfall klar ergibt, dass das Gericht tatsächliches
Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder
bei seiner Entscheidung nicht erwogen hat. Die Rüge der Verletzung des rechtlichen
Gehörs ist von vornherein nicht geeignet, eine vermeintlich fehlerhafte Feststellung und
Bewertung des Sachverhalts einschließlich seiner rechtlichen Würdigung zu
beanstanden.
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Vgl. BVerfG, Urteil vom 8. Juli 1997 - 1 BvR 1621/94 -, BVerfGE 96, 205 =
NJW 1997, 2310, 2312,, Beschluss vom 4. August 2004 - 1 BvR 1557/01 -,
BVerfGK 4, 12 = juris.
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Ohne Erfolg bleibt die Rüge der Klägerin, der Senat habe sich nicht mit den Folgen
auseinander gesetzt, es könne wegen der beanstandeten Auslegung der
Zweifelsfallregelung des § 2 Abs. 3a AMG entgegen § 3 Nr. 1 MPG keine stofflichen
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Medizinprodukte mehr geben. Der Senat konnte es nämlich in seinem Beschluss
dahinstehen lassen, ob Produkte, die von § 2 Abs. 1 Nr. 1 AMG erfasst werden (sog.
Präsentationsarzneimittel) und auf Grund ihrer Wirkensweise bislang als Medizinprodukt
eingestuft wurden, auf Grund der Anwendung der Zweifelsfallregelung nunmehr stets
als Arzneimittel zu qualifizieren seien. Auf diese Frage kam es nicht an. Allerdings sieht
sich der Senat, obgleich die Anhörungsrüge nicht der geeignete Rechtsbehelf für die
Beanstandung einer aus Sicht der Beteiligten - unzutreffenden Rechtsauffassung ist,
unter Bezugnahme auf das Vorbringen der Klägerin zu folgenden seinen Beschluss
vom 15. März 2010 ergänzenden Ausführungen veranlasst:
Die Anwendung der Zweifelsfallregelung nach Maßgabe der vom Senat für zutreffend
erachteten Auslegung führt nicht zu einer tatsächlichen Abschaffung stofflicher
Medizinprodukte. Denn die Anwendung der Zweifelsfallregelung setzt die positive
Feststellung der Arzneimitteleigenschaft des betreffenden Präparats voraus und, dass
es unter die Definition eines Erzeugnisses nach § 2 Abs. 3 AMG fallen kann. Die
danach (auch) erfassten Medizinprodukte (§ 2 Abs. 2 Nr. 7 AMG) unterfallen als
Präsentationsarzneimittel dem Arzneimittelgesetz, wenn deren nicht-pharmakologische,
nicht-immunologische oder nicht-metabolische Wirkungsweise nicht feststeht. Anders
gewendet bedeutet dies, dass ein stoffliches Medizinprodukt nicht vom
Arzneimittelgesetz erfasst wird, wenn dessen Wirkungsweise erwiesenermaßen nicht in
der beschriebenen Art und Weise erzielt wird. Raum für die Anwendung der
Zweifelsfallregelung besteht in diesem Fall nicht. Dies folgt auch aus § 2 Abs. 3 Nr. 7
AMG. Danach sind Arzneimittel nicht Medizinprodukte und Zubehör für Medizinprodukte
i. S. d. § 3 MPG, es sei denn, es handelt sich um ein Arzneimittel i. S. d. § 2 Abs. 1 Nr. 2
AMG, nämlich um ein sog. Funktionsarzneimittel, dessen Wirkung sich in der oben
angegebenen Weise vollzieht. Handelt es sich also um ein Funktionsarzneimittel, sind
die Voraussetzungen des stofflichen Medizinprodukts nach § 3 Nr. 1 MPG nicht erfüllt.
Diese Vorschrift setzt nämlich voraus, dass die Wirkungsweise nicht in der
beschriebenen Art und Weise erfolgt. Handelt es sich indessen um ein
Präsentationsarzneimittel i. S. v. § 2 Abs. 1 Nr. 1 AMG, hängt die Anwendung des
Arzneimittelgesetzes davon ab, ob nach der Zweifelsfallregelung die Zuordnung zu
einem Erzeugnis nach § 2 Abs. 3 AMG, also auch zu einem Medizinprodukt, erfolgen
kann. Nur wenn feststeht, dass die Wirkungsweise des Medizinprodukts nicht in der für
ein Funktionsarzneimittel wesentlichen Weise erfolgt, wird das Präparat nicht vom
Arzneimittelgesetz erfasst und ist deshalb nicht zulassungspflichtig (§ 21 Abs. 1 AMG).
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Das Vorbringen der Klägerin, sie habe mit der Zulassungsbegründung die Einordnung
des Präparats als Präsentationsarzneimittel durch das Verwaltungsgericht angezweifelt,
trifft nicht zu. Die Klägerin bezieht sich hierzu auf ihre Ausführungen auf S. 10 der
Zulassungsbegründung, wo sie als zusätzliche Voraussetzung eines
Präsentationsarzneimittels die überwiegende Wirkungsweise des Präparats mit einer
pharmakologischen Hauptwirkung fordert. Damit hatte die Klägerin den Versuch
unternommen, § 2 Abs. 1 Nr. 1 AMG eine einschränkende Auslegung zukommen zu
lassen. Die eigentliche Subsumtion durch das Verwaltungsgericht, das - ausgehend
vom Wortlaut dieser Vorschrift - die Voraussetzungen für die Annahme eines
Präsentationsarzneimittels mit überzeugender Begründung als gegeben angenommen
hat, hat die Klägerin indes nicht substantiiert beanstandet.
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Entgegen der Auffassung der Klägerin hat der Senat ihr tatsächliches Vorbringen zur
Begründung ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils nicht deshalb
unzureichend gewürdigt, weil er einen Bedarf an weiterer Sachaufklärung nicht bejaht
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hat. Bereits das Verwaltungsgericht hatte nicht näher zu klären, ob den streitbefangenen
Präparaten keine hauptsächlich durch pharmakologische, immunologische oder
metabolische Wirkung zukommt (vgl. § 3 Nr. 1 MPG). Die Klägerin hat ihre Behauptung
nicht i. S. v. § 86 Abs. 2 VwGO unter Beweis gestellt. Ein Verwaltungsgericht verletzt die
Pflicht zur Sachaufklärung aber dann nicht, wenn es von einer Beweiserhebung absieht,
die ein anwaltlich vertretener Beteiligter in der mündlichen Verhandlung wie hier nicht
förmlich beantragt hat.
Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 30. Juli 2009 - 13 A 1427/08 -, vom 1.
Dezember 2009 - 13 A
9
1632/08 -, jeweils juris, m. w. N.
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Die Klägerin hat zudem in ihrer Zulassungsbegründung auch nicht substantiiert
dargetan, dass sich dem Verwaltungsgericht eine weitere Aufklärung des Sachverhalts
hätte aufdrängen müssen. Vielmehr durfte das Verwaltungsgericht - insbesondere mit
Rücksicht auf die Zweifelsfallregelung - von einer weiteren Sachverhaltsermittlung
absehen und auf die nachvollziehbaren Ausführungen des BfArM zum Wirkverhalten
der Polyphenole abheben. Danach ist eine physikalische, also nicht pharmakologische,
immunologische oder metabolische Hauptwirkung der Produkte zweifelhaft.
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Raum für die Annahme, der Senatsbeschluss sei offensichtlich unrichtig, besteht nach
den vorstehenden Ausführungen nicht.
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Soweit die Klägerin hierzu unter Bezugnahme auf Anmerkungen zu dem angegriffenen
Urteil des Verwaltungsgerichts in der Literatur
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von Czettritz/Strelow, Zeitschrift für das das gesamte
Medizinprodukterecht (MPR) 2010, 1; Natz, PharmR 2010, 40, 42;
Schenkewitz, Medizinprodukte Journal (MPJ) 2010, 43 f. -
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geltend macht, die Zweifelsfallregelung sei auf Grund der Rechtsprechung des
Europäischen Gerichtshofs nicht auf Präsentationsarzneimittel anzuwenden, teilt der
Senat diese Auffassung nicht. Die Klägerin führt hierzu aus, die Anwendung der
Zweifelsfallregelung auf Präsentationsarzneimittel gehe über die Vorgaben des Urteils
des Europäischen Gerichtshofs vom 15. Januar 2009 in der Rechtssache "Hecht
Pharma" ( C 140/07 , NVwZ 2009, 439) hinaus, da die Zweifelsfallregelung nicht auf ein
Produkt anzuwenden sei, dessen Eigenschaft als Funktionsarzneimittelmittel nicht
nachgewiesen sei. Diese Auffassung beruht allerdings erkennbar auf einem irrigen
Verständnis des Urteils. Denn die Vorlage betraf (u. a.) nur die Frage, ob die
Zweifelfallregelung in Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2001/83/EG dahin auszulegen sei,
dass diese Richtlinie auch auf ein Produkt anzuwenden sei, dessen Eigenschaft als
Funktionsarzneimittel nicht nachgewiesen sei, ohne dass dies ausgeschlossen werden
könne. Hierauf hatte der Europäische Gerichtshof unter Berücksichtigung des
7. Erwägungsgrunds der Richtlinie 2004/27/ EG geantwortet, dass die
Arzneimittelrichtlinie 2001/83/EG nicht auf ein Produkt anwendbar sei, dessen
Arzneimitteleigenschaft i. S. d. Art. 1 Nr. 2 lit.b dieser Richtlinie nicht nachgewiesen sei.
Hieraus folgt in der Tat, dass die Zweifelsfallregelung erst dann Platz greift, wenn die
Arzneimitteleigenschaft eines Funktionsarzneimittel festgestellt worden ist. Die
Zweifelsfallregelung bedeutet daher nicht, dass im Zweifel von einem
Funktionsarzneimittel auszugehen sei. Zu einem Ausschluss der Zweifelsfallregelung
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auf Präsentationsarzneimittel hat sich der Europäische Gerichtshof im Übrigen
überhaupt nicht verhalten. Er hat lediglich daran erinnert, das der Begriff des
Präsentationsarzneimittels weit auszulegen ist, um die Verbraucher vor Erzeugnissen
zu schützen, die nicht die Wirksamkeit besitzen, welche sie erwarten dürfen (Rn. 25).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO, Nr. 5400 des KV zum GKG.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152a Abs. 4 Satz 3 VwGO).
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