Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 13.11.2003

OVG NRW: wiederherstellung der aufschiebenden wirkung, öffentliches interesse, gefahr im verzug, heimbewohner, aufschiebende wirkung, überwiegendes interesse, vorläufiger rechtsschutz, behörde

Oberverwaltungsgericht NRW, 16 B 1945/03
Datum:
13.11.2003
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
16. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
16 B 1945/03
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Münster, 7 L 1271/03
Tenor:
Der angefochtene Beschluss wird geändert. Der Antrag der
Antragstellerin auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihres
Widerspruchs gegen den Rücknahmebescheid des Antragsgegners vom
26. Mai 2003 wird abgelehnt.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 2.744,64 Euro
festgesetzt.
Gründe:
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Die Beschwerde hat Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat zu Unrecht dem Antrag der
Antragstellerin auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs
stattgegeben.
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Das Verwaltungsgericht hat zunächst zutreffend den auf § 80 Abs. 5 Satz 1, 2. Alt.
VwGO gestützten Antrag - stillschweigend - für zulässig erachtet, obwohl sich der
Rücknahmebescheid vom 26. Mai 2003 auf den Bewilligungsbescheid vom 10. Februar
2003 bezog, den der Antragsgegner lediglich an das L. -von-H. - Stift in N. , in welchem
die Antragstellerin lebt, adressiert hat, während die Antragstellerin nur formlos über den
Erlass des Bewilligungsbescheides informiert worden ist. Der Anspruch auf den
bewohnerorientierten Aufwendungszuschuss für Investitionskosten (Pflegewohngeld)
steht zwar nach § 14 Abs. 1 des Landespflegegesetzes Nordrhein-Westfalen (PfG NW)
nicht (primär) dem Heimbewohner, sondern der Pflegeeinrichtung zu; gleichwohl betraf
die Bewilligung des Pflegewohngeldes auch den Rechtskreis der Antragstellerin, so
dass ihr dieselben prozessrechtlichen Möglichkeiten wie dem Einrichtungsträger
eingeräumt werden müssen, wenn diese Bewilligung versagt oder wie vorliegend
zurückgenommen wird. Die öffentliche Förderung der Investitionskosten vollstationärer
Pflegeeinrichtungen hat - neben dem öffentlichen Interesse an der Vorhaltung einer
leistungsfähigen, zahlenmäßig ausreichenden und wirtschaftlichen pflegerischen
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Versorgungsstruktur (vgl. § 9 Satz 1 SGB XI) - die Interessen sowohl der
anspruchsberechtigten Pflegeeinrichtung als auch des jeweiligen Heimbewohners, für
dessen Pflegeplatz der Zuschuss gewährt wird, im Blick. Die begriffliche und
tatbestandsmäßige Orientierung dieses Zuschusses an einem konkreten Bewohner und
dessen wirtschaftlichen Verhältnissen macht deutlich, dass es bei der Gewährung von
Pflegewohngeld letztlich auch darum geht, den Pflegebedürftigen finanziell zu entlasten;
diese Zielsetzung des Landespflegegesetzes kommt auch in dessen § 1 zum Ausdruck.
Dem entspricht, dass dem Heimbewohner durch § 3 Abs. 1 Satz 4
Pflegewohngeldverordnung (PfGWGVO) ein eigenes Antragsrecht eingeräumt ist; dies
ist regelmäßig - und auch hier - ein gewichtiges Indiz für die Annahme eines subjektiven
öffentlichen Rechts und der damit einhergehenden prozessualen Befugnisse.
Vgl. zum Ganzen OVG NRW, Urteil vom 9. Mai 2003 - 16 A 2789/02 -, m.w.N.
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Der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ist aber unbegründet.
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Entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts kann dem Antrag nicht schon deshalb
stattgegeben werden, weil der angefochtene Rücknahmebescheid des Antragsgegners
an die Antragstellerin mangels eines in Bezug genommenen korrespondierenden
Bewilligungsbescheides "ins Leere" gegangen wäre, der Antragstellerin aber dagegen
gleichwohl zur Klarstellung Eilrechtsschutz zugestanden werden müsse. Es trifft schon
nicht zu, dass der Rücknahmebescheid an die Antragstellerin ins Leere gegangen ist.
Da die Antragstellerin, wie soeben dargestellt, als pflegebedürftige Heimbewohnerin im
Hinblick auf das Pflegewohngeld jedenfalls nachrangig antrags- und
anspruchsberechtigt ist und aus diesem Grunde selbst gegen die Versagung oder die
Rücknahme eines Bewilligungsbescheides an den Einrichtungsträger vorgehen kann,
muss die leistungserbringende Behörde auf der anderen Seite auch die Möglichkeit
besitzen, zulasten der sekundär berechtigten Heimbewohner bestandskraftfähige
Rücknahmebescheide zu erlassen, sofern dies - wie hier - der Sache nach geboten ist.
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Der Antrag hat nicht deshalb Erfolg, weil der Antragsgegner die mit dem
Rücknahmebescheid verbundene Anordnung der sofortigen Vollziehung entgegen § 80
Abs. 3 Satz 1 VwGO nicht ausreichend begründet hätte. Der Antragsgegner hat insoweit
ausgeführt, dass ein öffentliches Interesse an der Vermeidung weiterer rechtswidriger
Zahlungen bis zur Entscheidung über mögliche Rechtsbehelfe bestehe; außerdem sei
im Falle fortgesetzter Pflegewohngeldzahlungen während eines eventuellen, längere
Zeit dauernden Widerspruchs- und Klageverfahrens die nachfolgende Rückabwicklung
in Frage gestellt. Damit hat der Antragsgegner, gemessen an den wesentlichen
Funktionen der Begründungspflicht - Selbstvergewisserung der Behörde über den
Ausnahmecharakter der Vollzugsanordnung und Information des Bürgers mit Blick auf
seine Rechtsverteidigung -, in ausreichender Weise seine Gründe für die Anordnung der
sofortigen Vollziehung offengelegt. Dass diese Gründe schon für die
Rücknahmeentscheidung selbst bedeutsam waren, steht ihrer Eignung im rechtlichen
Rahmen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO nicht entgegen. In diesem Zusammenhang muss
berücksichtigt werden, dass schon die - im Ermessen der Behörde stehende -
Rücknahmeentscheidung selbst einer eingehenden Abwägung der widerstreitenden
Belange bedurfte; insoweit hat der Antragsgegner insbesondere seine angespannte
Finanzlage ins Feld geführt. Unter solchen Voraussetzungen konnte ihm nicht
angesonnen werden, bestimmte wertungsrelevante Umstände gleichsam für die
Begründung iSv § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO aufzusparen, ohne Gefahr zu laufen, aus
diesem Grunde schon wegen eines dann gegebenenfalls anzunehmenden
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Ermessensfehlers in nachfolgenden gerichtlichen Auseinandersetzungen zu
unterliegen. Ob die gegebene Begründung in der Sache überzeugen kann, ist im
Zusammenhang mit dem formalen Erfordernis des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO nicht
relevant; dem ist erst im Rahmen der gerichtlichen Interessenabwägung nachzugehen.
Diese vom Gericht zu treffende Entscheidung über die Wiederherstellung der im
Grundsatz bestehenden (§ 80 Abs. 1 VwGO), aber im Einzelfall durch die im
(besonderen) öffentlichen Interesse zugelassene behördliche Anordnung der sofortigen
Vollziehung (§ 80 Abs. 2 Nr. 4, 1. Fall VwGO) außer Kraft gesetzten aufschiebenden
Wirkung erfordert eine Abwägung der für und gegen die sofortige Vollziehung
sprechenden Gesichtspunkte; dabei sind in erster Linie die dem Rechtsbehelf bei
summarischer Prüfung zuzubilligenden Erfolgsaussichten von Bedeutung, darüber
hinaus aber gegebenenfalls auch das Ergebnis einer allgemeinen und umfassenden
Interessenabwägung im Sinne einer die möglichen Handlungsalternativen - sofortiger
Vollzug oder Absehen hiervon - in den Blick nehmenden Folgenbetrachtung.
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Vgl. BVerwG, Beschluss vom 25. März 1993 - 1 ER 301.92 -, NJW 1993, 3213; OVG
NRW, Beschlüsse vom 22. Juni 1994 - 5 B 193/94 -, NJW 1994, 2909, vom 14. März
1995 - 25 B 98/95 -, NJW 1995, 2242, und vom 22. März 1999 - 16 B 115/99 -.
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Ergibt danach die summarische Prüfung, dass dem eingelegten Widerspruch bzw. der
erhobenen Anfechtungsklage offensichtlich Erfolg beschieden sein wird, ist die
aufschiebende Wirkung des jeweiligen Rechtsbehelfs wiederherzustellen. Im
entgegengesetzten Fall der offensichtlich fehlenden Erfolgsaussicht des Rechtsbehelfs
bleibt auch der Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO erfolglos, sofern sich die Behörde
auf ein öffentliches Interesse oder ein überwiegendes Interesse eines (sonstigen)
Beteiligten berufen kann (vgl. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO).
10
Vgl. auch OVG NRW, Beschluss vom 4. Februar 1999 - 8 B 2570/98 -.
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Lässt sich der voraussichtliche Ausgang des Hauptsacheverfahrens noch nicht - in der
einen oder anderen Richtung - in offensichtlicher, Zweifel weithin ausschließender
Weise ermitteln, greift die allgemeine und umfassende Interessenabwägung Platz,
wobei auch in deren Rahmen die aufgrund summarischer Prüfung anzunehmende
Erfolgswahrscheinlichkeit im Hauptsacheverfahren ein beachtlicher Gesichtspunkt ist.
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Vgl. zum Ganzen auch Finkelnburg/Jank, Vorläufiger Rechtsschutz im
Verwaltungsstreitverfahren, 4. Auflage (1998), Rn. 855 bis 864.
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Auf der Grundlage dieses Maßstabes ist der Antrag der Antragstellerin auf
Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs unbegründet. Denn
es ist für den Senat offensichtlich, dass der angefochtene Rücknahmebescheid
rechtmäßig ist und mithin der Widerspruch - bzw. eine sich gegebenenfalls
anschließende Anfechtungsklage - erfolglos bleiben wird und dass ein öffentliches
Interesse am Sofortvollzug besteht.
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Dieser Annahme steht zunächst nicht als formeller Gesichtspunkt im Wege, dass der
Antragsgegner vor dem Erlass des Rücknahmebescheides weder die Antragstellerin
noch den Einrichtungsträger angehört hat. Von der nach § 24 Abs. 1 SGB X
grundsätzlich gebotenen vorherigen Anhörung kann nämlich unter anderem dann
abgesehen werden, wenn eine sofortige Entscheidung wegen Gefahr im Verzug oder im
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öffentlichen Interesse notwendig erscheint (§ 24 Abs. 2 Nr. 1 SGB X). Das Anliegen des
Antragsgegners, in Zeiten knapp bemessener Haushaltsmittel und vielfältiger
Sparzwänge als rechtswidrig erkannte Leistungen umgehend einstellen zu können,
ohne durch fortbestehende Bewilligungsbescheide daran gehindert zu sein, wird von
einem hinreichend gewichtigen öffentlichen Interesse getragen, zumal die
zutagegetretene Rechtswidrigkeit der Weitergewährung des Pflegewohngeldes nicht
etwa auf möglicherweise einstweilen vernachlässigenswerten formellen Gründen wie
etwa Fehlern oder Fristversäumnissen bei der Antragstellung beruht, sondern darauf,
dass die angesichts der Rückgriffsmöglichkeit des Einrichtungsträgers letztlich von der
Leistung des Pflegewohngeldes begünstigten Heimbewohner nicht im Sinne des
Gesetzes bedürftig sind. Auch die in § 24 Abs. 2 Nr. 1 SGB X geforderte Eilbedürftigkeit
liegt vor. Die Entscheidungen des Senats, in denen erstmals die
Vermögensabhängigkeit des Pflegewohngeldanspruchs festgestellt worden ist, datieren
vom 9. Mai 2003. Bis dem Antragsgegner die hierüber informierende Pressemitteilung
bekannt wurde, dürften einige Tage vergangen sein. Nachfolgend ergab sich für den
Antragsgegner die Notwendigkeit, unter Heranziehung der Hilfeakten die Feststellung
zu treffen, welche der bislang Pflegewohngeld beziehenden Heimbewohner (vermutlich
bzw. mit hoher Wahrscheinlichkeit) Vermögen oberhalb der Schongrenze von 2.301
Euro besaßen; es liegt angesichts der Fallzahlen auf der Hand, dass dies einen nicht
unerheblichen Zeitaufwand forderte. Dass im Anschluss an diese Feststellungen die
Zeit nicht mehr reichte, um zunächst die Betroffenen, also die jeweiligen
Einrichtungsträger und die pflegebedürftigen Heimbewohner, in einer dem Sinn und
Zweck des § 24 SGB X genügenden Weise anzuhören und dann noch rechtzeitig vor
dem 1. Juni 2003 die Rücknahmebescheide zu erlassen, ist für den Senat
nachvollziehbar, zumal der Monat Mai 2003 mit einem Feiertag (Christi Himmelfahrt, 29.
Mai), einem sog. Brückentag und schließlich einem Samstag zu Ende ging. Im Übrigen
würde das laufende Widerspruchsverfahren Gelegenheit bieten, die Anhörung der
Antragstellerin nachzuholen und einen etwa vorliegenden dahingehenden
Verfahrensmangel gemäß § 41 Abs. 1 Nr. 3 und Abs. 2 SGB X zu heilen; es spricht
nichts gegen die Erwartung, dass die Widerspruchsbehörde die Einwendungen der
Antragstellerin zur Kenntnis nehmen und bei der Widerspruchsentscheidung in
Erwägung ziehen wird.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 17.August 1982 - 1 C 22.81 -, BVerwGE 66, 111 (114).
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Der auf § 45 Abs. 1 SGB X gestützte Rücknahmebescheid ist auch in materieller
Hinsicht offensichtlich rechtmäßig.
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Ausgehend von der Senatsrechtsprechung, der zufolge der Anspruch auf Gewährung
des bewohnerbezogenen Pflegewohngeldes auch vom Vermögen des jeweiligen
Heimbewohners abhängt,
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vgl. Urteil vom 9. Mai 2003 - 16 A 2789/02 -, Juris; dieses Urteil ist - wie auch die
Parallelentscheidungen vom selben Tage -, inzwischen rechtskräftig, nachdem das
Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) mit Beschluss vom 5. September 2003 - 5 B 60.03
- die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision zurückgewiesen und
innerhalb seines beschränkten Prüfungsrahmens keine Abweichung von
bundesrechtlichen Vorgaben festgestellt hat,
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war der zuletzt (am 10. Februar 2003) mit Wirkung bis zum 29. Februar 2004 erlassene
Bewilligungsbescheid mit hoher Wahrscheinlichkeit rechtswidrig, weil die
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Antragstellerin über Vermögen oberhalb der maßgeblichen Schongrenze von 2.301
Euro (vgl. § 88 Abs. 2 Nr. 8 BSHG iVm § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 der hierzu ergangenen
Verordnung) verfügte. Noch im Januar 2003, d.h. wenige Wochen vor dem Erlass des
Bewilligungsbescheides, hatte die Antragstellerin ihr Sparvermögen mit 11.041,25 Euro
angegeben; im laufenden gerichtlichen Verfahren hat sie dies ausdrücklich bestätigt. Es
kann mithin davon ausgegangen werden, dass die Antragstellerin im Zeitpunkt des
Erlasses sowohl des Bewilligungsbescheides als auch des Rücknahmebescheides
ungeschütztes Vermögen besaß, aus dem sie bis auf Weiteres den auf die sog.
Investitionskosten entfallenden Teil der Heimaufwendungen bestreiten konnte. Allein
das vorgerückte Alter und die Pflegebedürftigkeit der Antragstellerin begründen auch
keine der Vermögensanrechnung entgegenstehende Härte iSv § 88 Abs. 3 BSHG. Das
folgt schon daraus, dass diese Gesichtspunkte bereits in der nach Maßgabe des § 88
Abs. 4 BSHG erlassenen Verordnung zu § 88 BSHG berücksichtigt werden und zur
Erhöhung des ansonsten auf 1.279 Euro bemessenen sozialhilferechtlichen
Schonbetrages geführt haben; sonstige Härten sind weder geltend gemacht worden
noch ersichtlich. Schließlich verhält es sich - entgegen dem in der
Presseberichterstattung über die oben skizzierte Senatsrechtsprechung zur
Vermögensabhängigkeit des Pflegewohngeldanspruches hervorgerufenen Eindruck -
auch nicht etwa so, dass diese Entscheidungen noch einer wie auch immer gearteten
"Umsetzung", etwa durch den (Landes-)Gesetzgeber, bedurft hätten, um für die
Verwaltungspraxis maßgeblich zu sein; vielmehr haben die genannten Urteile gerade
aufgezeigt, wie - bis zum 1. August 2003 - die Gesetzeslage war.
Der Antragsgegner hat des Weiteren im Hinblick auf den bei der Rücknahme
begünstigender Verwaltungsakte anzustellenden Vertrauensschutz (§ 45 Abs. 1 Halbs.
2 iVm Abs. 2 SGB X) eine zutreffende Abwägung vorgenommen. Auch wenn in diese
Abwägung die Belange beider Begünstigter, also der Antragstellerin und des
Einrichtungsträgers, einzubeziehen waren, musste das öffentliche Interesse des
Antragsgegners dahinter nicht zurückstehen; dieses öffentliche Interesse besteht darin,
nicht weiterhin als rechtswidrig erkannte Leistungen erbringen zu müssen, wobei die
vom Antragsgegner dargelegten und glaubhaften finanziellen Probleme zusätzlich zu
Buche schlagen. Dem stehen keine gleichwertigen Schutzbedürfnisse des
Einrichtungsträgers bzw. der Antragstellerin gegenüber.
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Zunächst ist zu berücksichtigen, dass der Antragsgegner die
Pflegewohngeldbewilligung lediglich für die Zukunft, nicht etwa, wie grundsätzlich
gleichfalls vom Gesetz eröffnet, auch für die Vergangenheit zurückgenommen hat. In
einem solchen Falle stellt sich nicht das Problem, dass der Leistungsempfänger bereits
im Vertrauen auf die Rechtsbeständigkeit der Bewilligungsbescheide über die ihm
gewährten Leistungen verfügt hätte. Auch für konkrete Vermögensdispositionen, die in
Erwartung der Weitergewährung von Pflegewohngeld getroffen worden sind, ist nichts
ersichtlich. Ohnehin beschränkt sich die nachteilige Wirkung der
Bewilligungsrücknahme bzw. der daraus resultierenden Leistungseinstellung für den
Einrichtungsträger darauf, dass er darauf verwiesen wird, den auf die investiven Kosten
entfallenden Teil des (im Ausgangspunkt) vom Heimbewohner zu bestreitenden Heim-
und Pflegeentgelts nunmehr diesem in Rechnung zu stellen. Die
Heimaufnahmeverträge sehen die Einstandspflicht der Bewohner für diese Kosten
regelmäßig vor (vgl. auch die §§ 5 Abs. 5 und 7 Abs. 1 und 2 des Heimgesetzes). Es ist
auch nicht zu erkennen, dass die Geltendmachung der investiven Heimkosten bei der
Antragstellerin auch nur zeitweilig Entgeltausfälle oder aber einen unzumutbaren
Verwaltungsaufwand zur Folge hätte. Auch die Antragstellerin hat nicht dargelegt bzw.
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glaubhaft gemacht, dass die Aktivierung ihres Sparvermögens für die künftige
Bestreitung des erhöhten Heimentgelts besondere Schwierigkeiten mit sich brächte.
Dass sie aufgrund der jahrelangen Bewilligungspraxis des Antragsgegners in ihrer
Erwartung, das ersparte Vermögen auch in Zukunft weithin ungeschmälert erhalten zu
können, enttäuscht worden ist, steht außer Frage und wird auch vom Senat erkannt. Es
darf aber nicht aus dem Blick geraten, dass diese vielfach als hart empfundene
Vermögensanrechnung ausdrücklich aus dem Gesetz hervorgeht und bei nicht wenigen
pflegebedürftigen Heimbewohnern bereits seit geraumer Zeit praktiziert worden ist; die
im Widerspruch zur Gesetzeslage stehende Weiterbewilligung des Pflegewohngeldes
an vermögende Heimbewohner würde die faktische Ungleichbehandlung der
regelungsbetroffenen Personen, von der die Antragstellerin bis einschließlich Mai 2003
mit der Folge eines entsprechend höheren Restvermögens profitiert hat, noch
verstärken. Nach alledem kann zugunsten der Antragstellerin auch nicht berücksichtigt
werden, dass die mehrjährige gesetzeswidrige Gewährung des Pflegewohngeldes -
auch für frühere Bewilligungszeiträume war stets erhebliches Sparvermögen
angegeben worden - und damit die Erwartung weiterer Leistungen dem Antragsgegner
anzulasten ist, zumal die Rechtslage wegen der lediglich die Einkommensanrechnung
aufgreifenden Pflegewohngeldverordnung unübersichtlich war und von zahlreichen
Hilfeträgern fehlgedeutet worden ist. Abgesehen davon setzt § 45 SGB X allgemein
voraus, dass eine fehlerhafte Leistungsbewilligung vorliegt; es ist nicht gerechtfertigt,
außerhalb des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X, wo spezielle Fälle der Fehlerverursachung
durch den Begünstigten geregelt sind, die alleinige oder überwiegende
Verantwortlichkeit der Behörde als entscheidenden Abwägungsfaktor zu
berücksichtigen.
Vgl. BSG, Urteil vom 14. November 1985 - 7 RAr 123/84 -, BSGE 59, 157 (164).
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Schließlich können die Antragstellerin und gegebenenfalls der Einrichtungsträger auch
nicht unter Hinweis auf den langen Bewilligungszeitraum - der vorliegend im August
1999 begonnen hat - Vertrauensschutz beanspruchen. Insoweit wirkt sich aus, dass
dieser Gedanke in § 45 Abs. 3 Satz 1 SGB X eine besondere Regelung erfahren hat, die
Voraussetzungen dieser Vorschrift aber nicht vorliegen. § 45 Abs. 3 Satz 1 SGB X
bestimmt, dass ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nur bis zum Ablauf
von zwei Jahren nach seiner Bekanntgabe zurückgenommen werden kann. Ein
derartiger Fall liegt hier selbst dann nicht vor, wenn die Vorschrift erweiternd auch auf
Fälle angewandt wird, in denen vor mehr als zwei Jahren ein rechtswidriger
Ausgangsbescheid und nachfolgend Anpassungsbescheide, die an demselben Fehler
leiden, erlassen worden sind.
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Vgl. BSG, Urteil vom 15. August 1996 - 9 RV 22/95 -, BSGE 79, 92 (94 ff.); Wiesner, in
von Wulffen, SGB X, Kommentar, 4. Auflage (2001), § 45 Rn. 28.
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Denn vorliegend gelten die einzelnen Bewilligungsbescheide jeweils nur für begrenzte
Zeiträume und beruhen jeweils auf eigenständigen, alle Berechnungsfaktoren
aufgreifenden Neuberechnungen; sie lassen sich mithin gerade nicht in ein
hierarchisches Schema mit einem die Grundlagen dauerhaft regelnden Bescheid zu
Beginn und nachfolgenden bloßen Anpassungsbescheiden bringen. Liegen danach die
Voraussetzungen des die Rücknahme untersagenden Tatbestandes gemäß § 45 Abs. 3
Satz 1 SGB X nicht vor, verbietet es sich, die längere Bewilligungsdauer auch über den
Regelungsbereich des § 45 Abs. 3 Satz 1 SGB X hinaus als
vertrauensschutzbegründenden Umstand heranzuziehen.
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Die mithin unter Vertrauensschutzgesichtspunkten unbedenkliche Rücknahme der
Pflegewohngeldbewilligung ist auch nicht ermessensfehlerhaft. Der Antragsgegner war
sich, wie aus dem angefochtenen Rücknahmebescheid hervorgeht, seines
Ermessensspielraums bewusst und hat seine diesbezüglichen Erwägungen - die sich
nicht in eindeutiger Weise von den Erwägungen trennen lassen, die bereits im Rahmen
des zu wahrenden Vertrauensschutzes anzustellen waren - offengelegt. Der Senat
vermag nicht zu erkennen, dass dabei Umstände übersehen oder fehlerhaft gewichtet
worden sind, die gegen die getroffene Rücknahmeentscheidung hätten sprechen
können. Der Antragsgegner war insbesondere nicht gehalten, schon für die
Bewilligungsmonate Juni und Juli 2003 die nachfolgend, seit August 2003, geltende
günstigere Rechtslage hinsichtlich des Vermögenseinsatzes vorwirkend zu
berücksichtigen. Wenngleich dies für Heimbewohner mit einem Vermögen zwischen
dem bislang geltenden niedrigen Schonbetrag von 2.301 Euro und dem neuen
Schonbetrag von 10.000 Euro (zuzüglich zweier Monatsbeträge des Pflegewohngeldes)
bedeutete, dass sie für die genannten zwei Monate ganz oder zum Teil solches
Vermögen für die nunmehr ihnen in Rechnung gestellten investiven Heimkosten
aufwenden mussten, welches ihnen nach der Neuregelung in Zukunft anrechnungsfrei
verbleiben würde, musste der Antragsgegner darin keinen ermessensrelevanten
Tatbestand erblicken. Es kann schon nicht angenommen werden, dass zur Zeit des
Erlasses des Rücknahmebescheides, also Ende Mai 2003, die Änderung des
Vermögensschonbetrages auf 10.000 Euro mit Wirkung ab August 2003 hinreichend
sicher feststand. Es lag seinerzeit der Gesetzentwurf der Landesregierung vom 3.
Februar 2003 vor, dessen § 12 mit Wirkung vom 1. Juli 2003 den Einsatz von Vermögen
oberhalb von 10.000 Euro vorsah. Nach einer öffentlichen Anhörung am 30. April 2003
und Ausschussberatungen, die sich bis zum 23. Juni 2003 erstreckten, wurde das
Gesetz am 4. Juli 2003 vom Landtag verabschiedet, wobei es unter Zurückweisung der
insoweit abweichenden Änderungsanträge der Fraktionen von CDU und FDP bei der
Vermögensgrenze von 10.000 Euro blieb; als Tag des Inkrafttretens wurde
abschließend der 1. August 2003 bestimmt. Der Antragsgegner dürfte mithin gewusst
haben, dass im Parlament über eine Änderung des Landespflegegesetzes, auch
hinsichtlich der Regelungen über die Vermögensanrechnung, beraten wurde und
manches für eine bevorstehende Änderung auch der materiellen
Anspruchsvoraussetzungen sprach; ein genaues Ergebnis war indessen noch nicht
abzusehen, zumal nicht ausgeschlossen werden konnte, dass die am 9. Mai 2003 und
damit während des Gesetzgebungsverfahrens ergangenen Senatsurteile zum
Pflegewohngeld neue Überlegungen des Gesetzgebers auslösen würden. Abgesehen
davon sprachen keine durchgreifenden Gründe dafür, die sonach allenfalls in Umrissen
absehbare Änderung der Vermögensschongrenze schon im Vorgriff auf das Inkrafttreten
des Änderungsgesetzes ermessenssteuernd zu berücksichtigen. Das geltende Recht
sah nun einmal für die Monate Juni und Juli 2003 noch den niedrigeren Schonbetrag
von 2.301 Euro vor. Es wäre auf eine Korrektur des Gesetzgebers hinausgelaufen, im
Ermessenswege die erst ab August 2003 geänderte Anrechnungsregelung schon in den
beiden vorangegangenen Monaten anzuwenden. Außerdem hätte ein solches
Vorgehen in einem nicht hinnehmbaren Maße diejenigen pflegebedürftigen
Heimbewohner in Nordrhein-Westfalen benachteiligt, auf deren
Pflegewohngeldanspruch schon vor den klarstellenden Senatsentscheidungen in
Übereinstimmung mit dem bereits damals geltenden Recht alles Vermögen oberhalb
der Marke von 2.301 Euro angerechnet worden ist.
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Erweist sich danach der Rücknahmebescheid als offensichtlich rechtmäßig, kann nicht
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allein wegen der rechtlichen Ausgestaltung der Rücknahme begünstigender Bescheide
als Ermessensentscheidung in Frage gestellt werden, dass der Widerspruch der
Antragstellerin dann auch offensichtlich erfolglos bleiben wird. Allein wegen der nur in
Ausnahmefällen von vornherein auszuschließenden Möglichkeit, dass die
Widerspruchsbehörde die tatbestandlichen Rücknahmevoraussetzungen bejaht und
dennoch im Ermessenswege zu einer Abhilfeentscheidung gelangt, ist es nicht
gerechtfertigt, in derartigen Fällen generell von der Feststellung einer offensichtlichen
Erfolglosigkeit des Widerspruchs Abstand zu nehmen. Eine solche Herangehensweise
würde letztlich den Behörden bei als eilbedürftig bewerteten Ermessensentscheidungen
umfassend die Möglichkeit entziehen, in "gerichtsfester" Weise die rechtlichen
Voraussetzungen des sofortigen Vollzuges herbeizuführen. Zutreffend ist es vielmehr,
auch im Bereich von Ermessensentscheidungen jedenfalls dann von der
Offensichtlichkeit einer rechtmäßigen Behördenentscheidung auf die offensichtliche
Erfolglosigkeit des dagegen angestrengten Rechtsbehelfs zu schließen, wenn - wie
vorliegend - keine hinreichend gewichtigen Ermessensgesichtspunkte für eine
zusprechende Entscheidung im Widerspruchsverfahren zutagegetreten sind.
Der Antragsgegner kann sich schließlich auch auf ein öffentliches Interesse an der
sofortigen Vollziehung des Rücknahmebescheides vom 26. Mai 2003 stützen, ohne
dass es dabei allein auf die gemäß § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO gegebene schriftliche
Begründung des Antragsgegners ankäme.
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Vgl. dazu etwa OVG NRW, Beschluss vom 5. Juli 1994 - 18 B 1171/94 -, NWVBl. 1994,
424 (425); Finkelnburg/Jank, aaO., Rn. 855; Puttler, in Sodan/Ziekow, VwGO, Loseblatt-
Kommentar (Stand: Januar 2003), § 80 Rn. 165; Redeker/von Oertzen, VwGO,
Kommentar, 13. Aufl. (2000), § 80 Rn. 52; J.Schmidt, in: Eyermann, VwGO, Kommentar,
11. Aufl. (2000), § 80 Rn. 71; Schoch, in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO,
Loseblatt-Kommentar (Stand: Januar 2003), § 80 Rn. 265; anders Kopp/Schenke,
VwGO, Kommentar, 13. Aufl. (2003), § 80 Rn. 149 und 153, und wohl auch OVG
Schleswig-Holstein, Beschluss vom 19. Juni 1991 - 4 M 43/91 -, NVwZ 1992, 688 (690).
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Der Senat hält, wie bereits im Zusammenhang mit dem Unterlassen einer Anhörung
nach § 24 SGB X erörtert, die in Rede stehenden fiskalischen Interessen des
Antragsgegners für ein den Sofortvollzug rechtfertigendes öffentliches Interesse, vor
allem im Hinblick auf die bekanntermaßen angespannte Haushaltslage der Kommunen,
die bereits zu umfangreichen Sparmaßnahmen, auch im sozialen Bereich, geführt hat.
Die Frage, ob und inwieweit die spätere Rückforderung einstweilen weitergeleisteter
Mittel gefährdet oder jedenfalls erschwert wäre, muss daneben nicht mehr erörtert
werden.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 und 2 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung richtet sich nach den §§ 13 Abs. 2, 14 Abs. 1 und 20 Abs. 3
GKG und berücksichtigt - wie auch die erstinstanzliche Festsetzung -, dass die
Rücknahmeentscheidung des Antragsgegners einen Zeitraum von neun Monaten und
daher eine Leistungsbewilligung in Höhe von 5.489,28 Euro erfasste und dass wegen
der Vorläufigkeit des erstrebten Rechtsschutzes eine Halbierung dieses Betrages die
Bedeutung des Verfahrens angemessen wiedergibt (vgl. zum Letzteren Ziffer I.7. des
sog. Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit, abgedruckt etwa bei
Redeker/von Oertzen, aaO., § 165 Rn. 19).
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Dieser Beschluss ist gemäß § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.
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