Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 08.09.2004

OVG NRW (grundstück, errichtung, abstand, anlass, verwaltungsgericht, antragsteller, aufstockung, inhalt, linie, teil)

Oberverwaltungsgericht NRW, 7 B 1494/04
Datum:
08.09.2004
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
7. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
7 B 1494/04
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Arnsberg, 4 L 800/04
Tenor:
Der angefochtene Beschluss wird geändert.
Der Antrag wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens einschließlich der
außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 2.500,-- EUR
festgesetzt.
G r ü n d e:
1
Die zulässige Beschwerde ist begründet. Es lässt sich nicht feststellen, dass das den
Beigeladenen genehmigte Vorhaben zu Lasten des Antragstellers gegen
nachbarschützende Vorschriften des öffentlichen Baurechts verstößt.
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Der vom Verwaltungsgericht angenommene Verstoß gegen die landesrechtlichen
Abstandregelungen liegt nicht vor.
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Allerdings wahrt das Vorhaben der Beigeladenen, namentlich der auf dem vorhandenen
Flachdachgebäude genehmigte, dem Grundstück des Antragstellers zugewandte
Giebel, den nach § 6 Abs. 5 Satz 5 BauO NRW erforderlichen Mindestabstand von 3 m
zum Grundstück des Antragstellers nicht. Die Abstandunterschreitung um 74 cm ist
jedoch unschädlich, da durch die auf dem Grundstück des Antragstellers lastende
Baulast gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 BauO NRW gesichert ist, dass die erforderliche
Abstandfläche (0,74 m Tiefe auf einer Länge von 10,24 m) nicht überbaut und auf die auf
dem Grundstück des Antragstellers erforderlichen Abstandflächen nicht angerechnet
werden kann.
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Die Baulasterklärung hat folgenden Wortlaut:
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"Wir... sind Eigentümer des Flurstücks 439.... Auf dem benachbarten Flurstück 438...
beabsichtigt... die Errichtung eines Einfamilienwohnhauses. Gem. § 7 Abs. 1 und 2
BauO NW... müsste das Gebäude in einem Abstand von mindestens 3,00 m von unserer
Grenze errichtet werden. Nach den eingereichten Plänen beträgt der Abstand aber nur
2,26 m. Gem. § 9, 99 der BauO NW gestatten wir hiermit, dass der fehlende Abstand von
0,74 m auf einer Länge von 10,24 m auf unser o.a. Flurstück 439 übernommen wird und
erkennen gegenüber dem Kreis T. als Bauaufsichtsbehörde an, dass die dadurch
entstehende Linie (3,00 m von dem geplanten Gebäude) als bauaufsichtliche Grenze für
unser Grundstück gilt. Erst von dieser neuen bauaufsichtlichen Linie an werden die für
unser Grundstück vorgeschriebenen Bauwiche, hinteren Grenzabstände,
Abstandflächen oder Abstände gerechnet. Auf einen Überbau des auf unser Grundstück
übernommenen Bauwiches verzichten wir ausdrücklich."
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Mit diesem Wortlaut ist im Sinne der Regelungen des seinerzeit maßgeblichen § 9 Abs.
1 BauO NRW 1970 (nunmehr: § 7 Abs. 1 BauO NRW 2000) festgelegt worden, dass der
von der Baulast erfasste Teil des Grundstücks des Antragstellers für die Berechnung der
jeweiligen Abstandflächen - und zwar auf beiden Grundstücken - als Teil des
Grundstücks der Beigeladenen zu betrachten ist.
7
Ebenso zu § 7 LBO BW: VGH BW, Beschluss vom 30. Juli 2001 - 8 S 1485/01 - BRS 64
Nr. 131.
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Dem Antragsteller verbleibt zwar das Eigentum an der mit der Baulast belasteten Fläche
mit der Folge, dass er diese auch zu solchen baulichen Zwecken nutzen darf, die
generell in den Abstandflächen eines Gebäudes zulässig sind, sie insbesondere - wie
hier geschehen - etwa auch mit einer grenzständigen Garage bebauen darf.
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Vgl.: OVG NRW, Urteil vom 29. September 1981 - 11 A 2133/80 - BRS 38 Nr. 133.
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Mit einer Baulast nach § 9 Abs. 1 BauO NRW 1970 (bzw. § 7 Abs. 1 BauO NRW 2000),
wie sie hier bewilligt worden ist, wird jedoch der Bauwich (bzw. die Abstandfläche) ganz
oder teilweise auf das Nachbargrundstück verlagert, um die bauliche Ausnutzbarkeit
des "begünstigten" Grundstücks zu erweitern und zugleich zu sichern.
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Vgl.: OVG NRW, Urteil vom 29. September 1981 - 11 A 2133/80 - BRS 38 Nr. 133.
12
Für die abstandrechtliche Beurteilung des begünstigten Grundstücks ist damit nicht die
tatsächliche Grundstücksgrenze maßgeblich, sondern die fiktive Größe des um die
Baulastfläche vergrößerten Grundstücks.
13
Vgl. zu § 7 LBO BW: VGH BW, Beschluss vom 30. Juli 2001 - 8 S 1485/01 - BRS 64 Nr.
131.
14
Ob dieses "Zuwachsen" der Baulastfläche zu dem begünstigten Grundstück zwecks
Ermittlung der erforderlichen Abstandflächen grundsätzlich nicht auf einen einmaligen
Vorgang etwa in der Weise beschränkt ist, dass die Baulastfläche durch die
Genehmigung des Vorhabens, aus dessen Anlass die Baulast bewilligt worden ist,
gewissermaßen "verbraucht" wird, sondern gem. § 7 BauO NRW in der gleichen Weise
auch bei späteren Bauvorhaben - etwa der Erweiterung des in der Folgezeit errichteten
Gebäudes oder dessen Ersetzung durch einen Neubau - zu beachten ist,
15
- so zu § 7 LBO BW: VGH BW, Urteil vom 27. Oktober 2000 - 8 S 1445/00 - BRS 63 Nr.
184 -,
16
oder ob (genehmigungspflichtige) Veränderungen des Vorhabens, dessen Errichtung
Anlass zur Bewilligung der Abstandsbaulast war, im Einzelfall nicht mehr von der
Baulast gedeckt sind, so dass bei solchen Veränderungen die katastermäßigen
Grundstücksgrenzen zu beachten sind, lässt sich nicht abschließend in dem einen oder
anderen Sinne beantworten. Entscheidend ist vielmehr, wie der Inhalt der jeweiligen
konkreten Baulast bei verständiger Würdigung zu verstehen ist.
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Soweit das Verwaltungsgericht zur Begründung seiner Wertung, dass die hier strittige
Aufstockung des vorhandenen Flachdachgebäudes der Beigeladenen von der Baulast
nicht mehr gedeckt sei, ausgeführt hat, die Baulast sei "nach nordrhein-westfälischem
Landesrecht vorhabenbezogen", ist zunächst klarzustellen, dass in der vom
Verwaltungsgericht angesprochenen Rechtsprechung des beschließenden Gericht zwar
verschiedentlich von einer "Vorhabenbezogenheit" der Baulast die Rede ist. Ein
Rechtssatz des Inhalts, dass Baulasten aller Art, insbesondere auch Abstandsbaulasten
nach § 7 BauO NRW, nach dem im Land Nordrhein-Westfalen maßgeblichen
Landesrechts stets in dem Sinne vorhabenbezogen wären, dass sie jeweils nur das
konkrete Vorhaben absichern, dessen sonst nicht genehmigungsfähige Errichtung
Anlass für die Bestellung der Baulast war, lässt sich dieser Rechtsprechung jedoch
nicht entnehmen.
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Soweit in der Rechtsprechung des beschließenden Gerichts eine
"Vorhabenbezogenheit" der Baulast betont wurde, handelte es sich regelmäßig um
Fallgestaltungen, in denen der genaue Umfang der durch die Baulast begründeten
Duldungspflichten einer Auslegung bedurfte, die Baulast mithin auslegungsbedürftig
und auslegungsfähig war. Dies betraf insbesondere Fallgestaltungen, in denen die
Baulast die Erschließung eines bestimmten Vorhabens auf dem begünstigten
Grundstück durch Duldung des über das belastete Grundstück zu führenden
Erschließungsverkehrs sichern sollte. Hierzu wurde ausgeführt, dass Baulasten, die zur
Erschließung eines bestimmten Vorhabens übernommen werden, regelmäßig dahin
auszulegen sind, dass sie nur für den Verkehr gelten, der durch die typische Nutzung
dieses Vorhabens ausgelöst wird.
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Vgl.: OVG NRW, Urteil vom 30. November 1989 - 7 A 772/88 - BRS 49 Nr. 130 und
Urteil vom 15. Mai 1992 - 11 A 890/91 - BRS 54 Nr. 158.
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Dieser Grundsatz zur Auslegung des Inhalts einer Baulast zwecks Sicherung der
wegemässigen Erschließung eines Grundstücks wurde auch auf Baulasten zur
Sicherung von Leitungsrechten übertragen.
21
Vgl.: OVG NRW, Beschluss vom 10. Oktober 1997 - 7 B 1974/97 - BRS 59 Nr. 228.
22
Auch soweit in der Fachliteratur
23
- vgl.: Hoppenberg/de Witt, Handbuch des öffentlichen Baurechts (Stand: Januar 2004),
A I Rd Nr. 222 -
24
ausgeführt wird, eine Abstandsbaulast rechtfertige nicht die spätere Aufstockung eines
Gebäudes, auch wenn die Tiefe der baulastmäßig übernommenen Abstandfläche
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rechnerisch für die beabsichtigte Erhöhung des Gebäudes ausreicht, lässt sich der dort
in Bezug genommenen Rechtsprechung
- OVG NRW, Beschluss vom 5. Mai 1999 - 7 A 5359/98 -
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keine generelle Aussage zu den Wirkungen einer (Abstands-) Baulast entnehmen. In
jenem Beschluss des Senats ist vielmehr konkret darauf abgestellt worden, die dort in
Rede stehende Baulast sei "ausdrücklich nur zur Übernahme des Bauwichs für die
1964 zur genehmigte Aufstockung und damit vorhabenbezogen erteilt worden".
27
Eine Baulast, die aus Anlass der Errichtung eines bestimmten Bauvorhabens
übernommen wurde, sichert mithin nicht stets nur die Errichtung eben dieses
Vorhabens. Sie kann - selbstverständlich - auch mit dem Inhalt übernommen werden,
dass sie über die Errichtung des ihren Anlass bildenden Vorhabens hinaus auch
künftige Änderungen eben dieses Vorhabens deckt, wenn und soweit solche
Änderungen mit dem Inhalt der übernommenen Verpflichtung vereinbar sind. Eine
Einschränkung der Baulast auf die Sicherung eines konkreten Vorhabens setzt - nicht
zuletzt auch mit Blick auf die weitreichenden Auswirkungen der Eintragung einer
Baulast (vgl. § 83 Abs. 1 Satz 3 BauO NRW) - voraus, dass das Vorhaben in der
Baulasterklärung unmissverständlich und eindeutig so konkret bezeichnet wird, dass
sich die Rechtswirkungen der Baulast hinreichend verlässlich eingrenzen lassen.
28
Vgl. auch: Niedersächsisches OVG, Urteil vom 27. September 2001 - 1 LB 1137/01 -
BRS 64 Nr. 130.
29
Gemessen an diesen Maßstäben lässt sich im vorliegenden Fall nicht feststellen, dass
die 1975 bewilligte Baulast die hier in Rede stehende Veränderung des bestehenden
Flachdachgebäudes der Beigeladenen nicht mehr abdeckt.
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Zwar ist in den Eingangssätzen der Baulasterklärung, die deren Anlass erläutern, die
Rede von der beabsichtigten Errichtung eines Einfamilienwohnhaus sowie weiter
davon, dass das Gebäude "nach den eingereichten Plänen" nicht den erforderlichen
Grenzabstand aufweist, so dass "der fehlende Abstand" auf das belastete Grundstück
des Antragstellers übernommen wurde. Die weiteren Ausführungen, die den Inhalt der
Baulast festlegen, enthalten jedoch keine eindeutige Einschränkung, dass die als
"bauaufsichtliche Grenze" bzw. "neue bauaufsichtliche Linie" bezeichnete Abgrenzung
der Baulastfläche zu dem übrigen, unbelasteten Teil des Grundstücks des Antragstellers
ausschließlich für die Errichtung und den Bestand des seinerzeit geplanten Vorhabens
in seiner konkreten, durch bestimmte Pläne fixierten baulichen Ausgestaltung gelten
soll. Ob die Bezugnahmen auf das den Anlass der Baulastbewilligung bildende
Vorhaben in der Baulasterklärung ggf. dahin zu werten sind, dass jedenfalls
Umnutzungen des Gebäudes - etwa die Umnutzung des Wohnhauses zu einem
gewerblichen Objekt - nicht mehr von der Baulast gedeckt sind, bedarf aus Anlass des
vorliegenden Verfahrens keiner weiteren Vertiefung. Der Baubestand des begünstigten
Gebäudes ist jedenfalls nicht näher eingegrenzt, so dass die Baulast auch solche
Änderungen eben dieses Gebäudes abdeckt, die abstandrechtlich unter
Berücksichtigung der Baulastfläche zulässig sind.
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Aus dem im Beschwerdeverfahren vorgetragenen Umstand, dass der zu seinem
Grundstück vorgesehene, mit Öffnungen versehene Giebel auf dem Haus der
Beigeladenen in einem Abstand von weniger als 2,50 m errichtet werde und daher
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jedenfalls gegen § 31 Abs. 1 Nr. 1 BauO NRW verstoße, kann der Antragsteller keine
nachbarlichen Abwehrrechte herleiten. Durch die Baulast ist öffentlich-rechtlich
gesichert, dass der - tatsächlich vorhandene - Abstand zwischen den Gebäuden auf den
Grundstücken des Antragstellers und der Beigeladenen insgesamt das Maß von 6 m
auch künftig nicht unterschreitet. Damit muss der Giebel nicht gemäß § 31 Abs. 1 Nr. 1
BauO NRW als Gebäudeabschlusswand ausgestaltet werden.
Schließlich kommt es nicht darauf an, ob die den Beigeladenen genehmigte
Aufstockung Fenster im Wohnhaus des Antragstellers bezüglich Besonnung,
Belichtung, Belüftung u.a.m. tatsächlich spürbar beeinträchtigt. Der - auch künftig durch
die Baulast gesicherte - Abstand von insgesamt 6 m ist vom Antragsteller hinzunehmen.
Er entspricht exakt dem Abstand, der dann einzuhalten wäre, wenn beide Häuser
entsprechend den gesetzlich an sich maßgeblichen Abstandsregelungen, nämlich
jeweils mit einem Grenzabstand von 3 m, errichtet würden, und liegt damit in jeder
Hinsicht im Rahmen der "Normalität".
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Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 3 VwGO, die
Streitwertfestsetzung auf den §§ 53 Abs. 3 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG n.F..
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).
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