Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 16.02.2006

OVG NRW: steuerfreie einkünfte, vorverfahren, rechtsgrundlage, jugendhilfe, vermietung, kapitalvermögen, verpachtung, abschätzung, widerspruchsverfahren, abgabenrecht

Oberverwaltungsgericht NRW, 12 A 3680/05
Datum:
16.02.2006
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
12. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
12 A 3680/05
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Köln, 16 K 2012/03
Tenor:
Das angefochtene Urteil wird geändert.
Der Bescheid der Beklagten vom 24. September 2002 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 26. Februar 2003 wird aufgehoben,
soweit darin für den Zeitraum Juni bis Oktober 2002 ein monatlicher
Elternbeitrag von mehr als 73,11 EUR festgesetzt worden ist.
Die Beklagte wird verpflichtet, den Widerspruchsbescheid vom 26.
Februar 2003 zu ergänzen und in Bezug auf die erfolgte Abhilfe
(Zeitraum November 2001 bis Mai 2002) die Hinzuziehung eines
Bevollmächtigten für das Vorverfahren für notwendig zu erklären.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens beider Instanzen.
Der Beschluss ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig
vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch
Sicherheitsleistung in Höhe des beizutreibenden Betrages abwenden,
wenn nicht die Kläger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leisten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Streitwert wird für das zweitinstanzliche Verfahren in der Wertstufe
bis 300,00 EUR festgesetzt.
I.
1
Über die Berufung kann gemäß § 130a VwGO durch Beschluss entschieden werden,
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weil der Senat die Berufung einstimmig für begründet und die Durchführung einer
mündlichen Verhandlung nicht für erforderlich hält (§ 130a Satz 1 VwGO). Die
Beteiligten sind hierzu nach § 130a Satz 2 VwGO i. V. m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO
durch Schreiben des Gerichts vom 5. Januar 2006 angehört worden.
Im Anhörungsschreiben hat der beschließende Senat auf die ausführlichen
Erläuterungen seiner Rechtsauffassung und die darauf beruhende Neuberechung des
zugrundezulegenden Einkommens der Kläger im Zulassungsbeschluss vom 28.
November 2005 sowie auf seinen Beschluss vom 18. November 2005 -12 A 4219/02 -
Bezug genommen. Darüber hinaus hat der Senat darauf hingewiesen, dass das
Begehren der Kläger im Berufungsverfahren dahin auszulegen ist, dass - neben der
Verpflichtung des Beklagten, die Zuziehung des Bevollmächtigten für das Vorverfahren
für notwendig zu erklären - eine Aufhebung des streitgegenständlichen Bescheides
insoweit erstrebt wird, als darin für den Zeitraum Juni bis Oktober 2002 ein monatlicher
Elternbeitrag von mehr als 73,11 EUR festgesetzt worden ist. Einwände sind hiergegen
nicht erhoben worden. Soweit die Prozessbevollmächtigten der Beklagten mit
Schriftsatz vom 24. Januar 2006 eine Stellungnahme zur Berufungsbegründung wegen
der Klärung einiger Vorfragen erst für Februar 2006 angekündigt haben, braucht diese
nicht abgewartet zu werden. Es ist nichts dafür ersichtlich oder vorgetragen, dass die
Besprechung mit der Beklagten nicht innerhalb der mittlerweile verstrichenen Zeit von
mehr als acht Wochen seit der am 2. Dezember 2005 erfolgten Zustellung des
Senatsbeschlusses vom 28. November 2005 hätte stattfinden können. Dies und die
Absicht des Senats, nunmehr kurzfristig zu entscheiden, ist den
Prozessbevollmächtigten der Beklagten mit Telefax vom 26. Januar 2006 mitgeteilt
worden. Eine Reaktion hierauf, die den Senat hätte veranlassen können, die
Entscheidung aufzuschieben, ist nicht erfolgt.
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Die Kläger wenden sich gegen den Bescheid des Beklagten vom 24. September 2002
in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Februar 2003, soweit darin für den
Zeitraum Juni bis Oktober 2002 ein monatlicher Elternbeitrag von mehr als 73,11 EUR
festgesetzt worden ist. Darüber hinaus begehren sie die Verpflichtung der Beklagten,
den Widerspruchsbescheid vom 26. Februar 2003 zu ergänzen und in Bezug auf die
erfolgte Abhilfe (Zeitraum November 2001 bis Mai 2002) die Hinzuziehung eines
Bevollmächtigten für das Vorverfahren für notwendig zu erklären. Sie sind der
Auffassung, dass die der Festsetzung zugrundeliegende Hochrechnung der Einkünfte
nach § 17 Abs. 5 Satz 2 GTK und die daraus folgende Einordnung in die
Einkommensgruppe von 49.084,01 EUR bis 61.355,00 EUR zu Unrecht erfolgt sei.
Darüber hinaus sei die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren
notwendig gewesen.
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Wegen des Sachverhalts im Übrigen und zum erstinstanzlichen Verfahren vor dem
Verwaltungsgericht wird auf das angefochtene Urteil Bezug genommen.
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Das Verwaltungsgericht hat in Bezug auf die im Berufungsverfahren anhängigen
Begehren der Kläger die Klage abgewiesen. Wegen der Begründung im Einzelnen wird
auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils Bezug genommen.
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Das beschließende Gericht hat die Berufung der Kläger zugelassen. Zur Begründung
ihrer Berufung wiederholen die Kläger ihr Vorbringen aus dem Verwaltungs- und dem
erstinstanzlichen Klageverfahren; ergänzend nehmen sie Bezug auf die Gründe des
Senatsbeschlusses vom 28. November 2005.
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Die Kläger beantragen,
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Das angefochtene Urteil zu ändern und
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den Bescheid der Beklagten vom 24. September 2002 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 26. Februar 2003 aufzuheben, soweit darin für den
Zeitraum Juni bis Oktober 2002 ein monatlicher Elternbeitrag von mehr als 73,11 EUR
festgesetzt worden ist und
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die Beklagte zu verpflichten, den Widerspruchsbescheid vom 26. Februar 2003 zu
ergänzen und in Bezug auf die erfolgte Abhilfe (Zeitraum November 2001 bis Mai 2002)
die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren für notwendig zu
erklären.
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Die Beklagte stellt keinen Antrag und nimmt zur Berufung keine Stellung.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorganges der Beklagten Bezug
genommen.
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II.
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Die zulässige Berufung der Kläger ist begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 24.
September 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Februar 2003 ist
rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO),
soweit darin für den Zeitraum Juni bis Oktober 2002 ein monatlicher Elternbeitrag von
mehr als 73,11 EUR festgesetzt worden ist.
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Rechtsgrundlage für die Heranziehung der Kläger zum Elternbeitrag ist § 90 SGB VIII in
der Fassung der Bekanntmachung vom 8. Dezember 1998 (BGBl. I S. 3546) i. V. m. § 17
Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 und Abs. 5 des Gesetzes über Tageseinrichtungen für
Kinder - GTK - vom 29. Oktober 1991, GV NRW S. 380, zuletzt geändert durch Art. 42
des zum 1. Januar 2002 in Kraft getretenen Gesetzes zur Anpassung des Landesrechts
an den Euro in Nordrhein-Westfalen vom 25. September 2001, GV NRW S. 708.
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Maßgebend ist danach das Jahreseinkommen der Kläger im Beitragsjahr 2002 gemäß §
17 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 4 GTK. Der im Wege der Prognose nach § 17 Abs. 5 Satz 2
GTK zu ermittelnde Ersatzwert kann nur solange zugrundegelegt werden, solange es an
ausreichenden Erkenntnissen über das aktuelle Jahreseinkommen fehlt und aus diesem
Grund eine Änderung der Festsetzung nach § 17 Abs. 5 Satz 3 GTK noch nicht
vorgenommen werden kann. Liegt - wie hier - ein bestandskräftiger
Einkommenssteuerbescheid vor, sind in Bezug auf die steuerpflichtigen positiven
Einkünfte ausreichende Erkenntnisse über das Jahreseinkommen gegeben und es ist
grundsätzlich auf den Einkommenssteuer abzustellen. Gemäß § 17 Abs. 4 Satz 3 GTK
sind dem Einkommen die - hier ebenfalls offengelegten - steuerfreien Einkünfte
hinzuzurechnen.
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Vgl. OVG NRW, Zulassungsbeschluss vom 28. November 2005 - 12 A 3680/05 -,
Beschluss vom 18. November 2005 - 12 A 4219/02 -, Beschluss vom 28. November
2005 - 12 A 4393/03 -.
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Aufgrund des eingereichten Einkommenssteuerbescheides vom 6. Februar 2004 und
der Erklärung der Kläger vom 4. November 2005 zu den steuerfreien Einkünften der
Klägerin zu 1. ist von folgendem Jahreseinkommen der Kläger für das Jahr 2002
auszugehen:
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Positive steuerpflichtige Einkünfte der Klägerin zu 1.: 0,00 EUR
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Positive steuerpflichtige Einkünfte des Klägers zu 2.: 37.418,00 EUR
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a) Einkünfte aus selbständiger Arbeit: 19.166,00 EUR
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b) Einkünfte aus Kapitalvermögen: 879,00 EUR
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Abzüglich des Werbungskostenpauschbetrags 102,00 EUR
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Verbleiben: 777,00 EUR
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c) Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung: 17.475,00 EUR
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Gemäß § 17 Abs. 4 Satz 2 GTK ist ein Ausgleich mit Verlusten aus anderen
Einkunftsarten und mit Verlusten des zusammenveranlagten Ehegatten nicht zulässig.
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3. Steuerfreie Einkünfte der Klägerin zu 1.: 3.900,00 EUR
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Danach errechnet sich ein Gesamteinkommen der Kläger im Jahr 2002 von 41.318,00
DM. Die Einstufung des Jahreseinkommens der Kläger in die vom Beklagten
zugrundegelegte Einkommensgruppe von 49.084,01 EUR bis 61.355 EUR ist somit
nicht gerechtfertigt; die Kläger haben lediglich Beiträge nach der niedrigeren
Einkommensgruppe von 36.813,01 EUR bis 49.084,00 EUR in Höhe von 73,11 EUR zu
entrichten.
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Rechtsgrundlage für die Verpflichtung der Beklagten, die Zuziehung eines
Bevollmächtigten für das Vorverfahren für notwendig zu erklären, ist § 80 Abs. 2 VwVfG
NRW. Die Zuziehung war aus der Sicht eines verständigen, nicht rechtskundigen
Bürgers notwendig. Die Abschätzung, welche Nachweise im Einzelnen vom örtlichen
Träger der öffentlichen Jugendhilfe zu Recht gefordert werden dürfen, kann vor dem
Hintergrund der Sanktionsnorm des § 17 Abs. 3 Satz 4 GTK einem verständigen, nicht
rechtskundigen Bürger nicht zugemutet werden, zumal der nicht rechtskundige Bürger in
der Regel nicht in der Lage ist, die damit zusammenhängenden komplexen Fragen des
nach § 17 Abs. 4 GTK zugrundezulegenden Einkommens zu überschauen, die
Erfolgsaussichten eines - nicht gerichtskostenfreien - verwaltungsgerichtlichen
Verfahrens zu beurteilen und dadurch seine Rechte angemessen zu wahren.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die
vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
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Die Revision wird nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO
nicht gegeben sind.
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Die Streitwertfestsetzung für das Berufungsverfahren beruht auf §§ 47, 52 Abs. 3 GKG.
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Streitigkeiten betreffend die Erhebung von Elternbeiträgen nach § 17 GTK sind in
Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts dem
Abgabenrecht zuzurechnen und nicht dem Sachgebiet der Jugendhilfe, für das § 188
Satz 2 VwGO Gerichtskostenfreiheit gewährt.
Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 15. November 2002 - 16 B 2228/02 -, NVwZ-RR 2003,
607.
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Die Höhe des Streitwerts ergibt sich aus dem streitigen Differenzbetrag für die Monate
Juni bis Oktober 2002 (209,65 EUR) und dem Kosteninteresse der
Prozessbevollmächtigten der Kläger aus ihrer Tätigkeit im Widerspruchsverfahren (§§
25, 26, 118, 119, BRAGebO).
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