Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 04.10.2006

OVG NRW: ausländer der zweiten generation, sicherheit, egmr, ausweisung, emrk, begriff, staatsangehörigkeit, unbefristet, abgabe, vertragsstaat

Oberverwaltungsgericht NRW, 18 A 3084/06
Datum:
04.10.2006
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
18. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
18 A 3084/06
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Düsseldorf, 22 K 1618/05
Tenor:
Der Antrag wird abgelehnt.
Der Kläger trägt die Kosten des Antragsverfahrens.
Der Streitwert wird auch für das Antragsverfahren auf 10.000,- EUR
festgesetzt.
G r ü n d e :
1
Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
2
Das Vorbringen des Klägers führt nicht auf den zunächst geltend gemachten
Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3
VwGO).
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Grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO hat eine
Rechtssache nur dann, wenn sie eine bisher höchstrichterlich (oder obergerichtlich)
nicht beantwortete Frage aufwirft, die im Interesse der Einheitlichkeit der
Rechtsprechung oder einer bedeutsamen Fortentwicklung des Rechts der Klärung
bedarf und die für die Entscheidung erheblich sein wird, oder wenn die in der
Berufungsentscheidung zu erwartende Klärung von Tatsachenfragen
verallgemeinerungsfähige, d. h. einer unbestimmten Vielzahl von Fällen dienende
Auswirkung entfaltet.
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Vgl. die Senatsbeschlüsse vom 3. Februar 2004 - 18 A 4822/03 - und vom 1. Juni 2006 -
18 A 3003/05 - m.w.N.
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Zur Darlegung dieses Zulassungsgrundes (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) ist eine
konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage aufzuwerfen und substantiiert darzulegen, warum
sie klärungsbedürftig und entscheidungserheblich ist und warum der Kläger sie für
grundsätzlich bedeutsam hält.
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Vgl. die Senatsbeschlüsse vom 29. August 2005 - 18 A 2429/05 - und vom 1. Juni 2006
- 18 A 3003/05 - m.w.N.
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Die vom Kläger formulierte Frage, "welcher Begriff der öffentlichen Sicherheit anzulegen
ist für die Frage, ob ein assoziations-freizügigkeitsberechtigter türkischer Staatsbürger
ausgewiesen werden darf oder nicht", bedarf nicht der grundsätzlichen Klärung durch
den Senat in einem Berufungsverfahren. Dabei kann der Senat ebenso wie in seiner
bisherigen Rechtsprechung
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vgl. Senatsbeschluss vom 2. Dezember 2005 - 18 B 1529/05 -; vgl. auch
Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Urteil vom 16. Mai 2006 - 11 LC 324/05 -,
InfAuslR 2006, 350 (354)
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offen lassen, ob die vom Kläger in der Begründung des Zulassungsantrags als
Grundlage für seinen Schutz vor Ausweisung benannte Richtlinie 2004/38/EG des
Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 (Amtsblatt der
Europäischen Union L 158 vom 30. April 2004, S. 77 ff) - Freizügigkeitsrichtlinie -
überhaupt, wie er meint, assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige in gleicher
Weise erfasst wie Unionsbürger. Der Senat hat nämlich bereits grundsätzlich geklärt,
dass aus Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG nicht hergeleitet werden kann, dass
eine Ausweisung von assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen - im Falle
der Anwendung der Richtlinie auf sie - nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen
Sicherheit des Staates verfügt werden dürfe.
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Vgl. Senatsbeschlüsse vom 2. Dezember 2005 - 18 B 1529/05 - und vom 2. März 2006 -
18 A 142/06 -, InfAuslR 2006, 257 (258).
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Der Hinweis auf eine nach Ansicht des Klägers gegenläufige Rechtsprechung einer
Kammer des Verwaltungsgerichts E. zur gemeinschaftsrechtlichen Auslegung des
Begriffs der öffentlichen Sicherheit vermag dessen weitere Klärungsbedürftigkeit durch
den Senat nicht zu begründen, zumal in der Richtlinie 2004/38/EG selbst in Art. 30 Abs.
2 ausdrücklich zwischen dem - in Art. 28 Abs. 3 verwendeten - Begriff der "Gründe der
öffentlichen Sicherheit" und der "Gründe der Sicherheit des Staates" unterschieden
wird.
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Der Kläger hat auch keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen
Urteils begründet (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Die Ansicht des Klägers, die kasuistische
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte - EGMR - sei
dahingehend zusammenzufassen, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in Art. 8
EMRK immer dann verletzt sei, wenn ein faktischer Inländer ohne Heimatbezug,
insbesondere ein Ausländer der zweiten Generation, ausgewiesen werde, trifft nicht zu.
Im Gegenteil hat das Bundesverfassungsgericht
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Beschluss vom 1. März 2004 - 2 BvR 1570/03 - EuGRZ 2004, 317 = DVBl. 2004, 1097 =
InfAuslR 2004, 280 = NVwZ 2004, 852
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unter eingehender Würdigung der vom Kläger herangezogenen zugunsten der
Betroffenen ergangenen Entscheidungen des EGMR vom 18. Februar 1991
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- 31/1989/191/291 -, EuGRZ 1993, 552 (N. , Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von
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zwei Jahren und zwei Monaten wegen Raubes und Diebstahlsdelikten)
und vom 26. September 1997
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- 85/1996/704/896, InfAuslR 1997, 430 (N1. , einheimische Ehefrau und drei
minderjährige Kinder)
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sowie einer Vielzahl zu Lasten der Betroffenen ergangener einschlägiger
Entscheidungen festgestellt, der Rechtsprechung des EGMR sei nicht zu entnehmen,
dass eine Ausweisung von straffällig gewordenen Ausländern der zweiten Generation,
die bereits als Kinder in den Vertragsstaat eingereist oder dort geboren und
aufgewachsen sind, regelmäßig gegen Art. 8 EMRK verstößt. Wesentliche Umstände für
die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit seien vielmehr die Schwere der begangenen
Straftaten und eine besondere familiäre Situation, aber auch der Bezug des Ausländers
zu dem Staat seiner Staatsangehörigkeit.
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Da der in Deutschland geborene und aufgewachsene unverheiratete und kinderlose
Kläger bereits über viele Jahre hinweg eine Fülle unterschiedlicher, in sechs Fällen
bereits mit Freiheitsstrafen geahndeter Straftaten begangen hatte, bevor er im Jahre
2002 wegen unerlaubten gewerbsmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in
nicht geringer Menge in neun Fällen, unerlaubter Abgabe von Betäubungsmitteln und
Betruges in zwei Fällen - also wegen sehr schwerwiegender Straffälligkeit - zu einer
Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt wurde, kann er aus der
von ihm zitierten Rechtsprechung des EGMR und des BVerfG zur Verhältnismäßigkeit
eines Eingriffs im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK nichts zu seinen Gunsten herleiten.
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Das gilt auch hinsichtlich der von ihm noch benannten Entscheidung des EGMR vom
11. Juli 2002,
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- 56811/00 - (B. ), InfAuslR 2004, 180,
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die wegen mangelnder sprachlicher und religiöser Beziehungen der Ehefrau und der
beiden Kinder zum Heimatland des Ausländers zu dessen Gunsten erging.
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Die gegen den Kläger als Assoziationsberechtigten ergangene Ausweisung ist
entgegen seiner Ansicht auch nicht unverhältnismäßig, weil sie unbefristet erfolgte.
Insoweit wird auf die zutreffenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts Bezug
genommen.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des
Streitwertes beruht auf §§ 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 3, 72 Nr. 1 GKG.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar. Das Urteil des Verwaltungsgerichts ist rechtskräftig
(§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).
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