Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 14.12.2009

OVG NRW (antrag, wiedereinsetzung in den vorigen stand, gesetzliche frist, abweisung der klage, zeitpunkt, behörde, begründung, gesetz, bewilligung, verwaltungsgericht)

Oberverwaltungsgericht NRW, 12 A 3324/08
Datum:
14.12.2009
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
12. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
12 A 3324/08
Tenor:
Das angefochtene Urteil wird soweit es Gegenstand des
Berufungsverfahrens ist geändert.
Mit dem Begehren, Blindengeld auch für die Zeit vom 1. Juni 2002 bis
zum 28. Februar 2006 zu gewähren, wird die Klage abgewiesen.
Im Umfang der Änderung der erstinstanzlichen Entscheidung trägt die
Klägerin die Kosten des Verfahrens beider Instanzen; Gerichtskosten
werden nicht erhoben.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig
vollstreckbar. Die Klägerin darf die Voll-streckung durch
Sicherheitsleistung in Höhe des beizutreibenden Betrags abwenden,
wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben
Höhe leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
1
Die Beteiligten streiten darum, ob die von der Klägerin begehrte Sozialleistung nach
landesrechtlichen Vorschriften auch für die Zeit vor ihrer Beantragung gewährt werden
muss.
2
Am 6. März 2006 reichte die Klägerin beim Sozialamt der Stadt C. einen Antrag
an den Beklagten auf Gewährung von Blindengeld nach dem Landesgesetz über Hilfen
für Blinde und Gehörlose NRW (GHBG) ein. Mit Bescheid vom 17. Mai 2005 hatte das
Versorgungamt L. den Grad der Behinderung (GdB) der Klägerin mit 100 sowie das
Merkzeichen "aG" festgestellt. Mit weiterem Bescheid vom 2. August 2006 stellte das
Versorgungamt L. rückwirkend ab dem 1. Juni 2002 auch das Merkzeichen "Bl"
(Blindheit) fest.
3
Mit Bescheid vom 17. August 2006 gewährte der Beklagte der Klägerin daraufhin ab
dem 1. März 2006 gem. §§ 1, 2 GHBG Blindengeld in Höhe von monatlich 293,-- Euro.
Hiergegen erhob die Klägerin am 4. September 2006 Widerspruch. Zur Begründung
machte sie geltend, sie sei schwerstbehindert geboren. Von den mit ihrem Fall
befassten Behörden sei es versäumt worden, ihre Mutter als ihre Vertreterin schon früher
auf die Möglichkeit der Beantragung des Blindengeldes aufmerksam zu machen. Erst im
März 2006 sei sie von einer Sachbearbeiterin der ARGE hierauf hingewiesen worden.
Bei zeitgerechter Information wäre der Antrag bereits im Jahre 2000 gestellt worden. Es
seien insoweit die Voraussetzungen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs
gegeben.
4
Mit Widerspruchsbescheid vom 1. Februar 2007 wies der Beklagte den Widerspruch der
Klägerin zurück. Das Blindengeld könne nicht rückwirkend gewährt werden, weil vor
März 2006 kein Antrag gestellt worden sei.
5
Die Klägerin hat daraufhin am 2. März 2007 Klage erhoben.
6
Zur Begründung hat sie ihr Vorbringen aus dem Vorverfahren wiederholt und vertieft.
7
Die Klägerin hat zunächst beantragt,
8
den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 17. August 2006 in
Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. Februar 2007 zu verpflichten,
der Klägerin Blindengeld ab dem 1. Januar 2002 zu gewähren.
9
Betreffend den Zeitraum vom 1. Januar 2002 bis 31. Mai 2002 hat die Klägerin in der
mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht die Klage zurück genommen.
10
Sie hat sodann beantragt,
11
den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 17. August 2006 in
Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. Februar 2007 zu verpflichten,
der Klägerin Blindengeld mindestens ab dem 1. Juni 2002 zu gewähren.
12
Der Beklagte hat beantragt,
13
die Klage abzuweisen.
14
Zur Begründung hat er insbesondere auf die Ausführungen im Widerspruchsbescheid
verwiesen.
15
Mit Urteil vom 6. November 2008 hat das Verwaltungsgericht das Verfahren im Umfang
der Klagerücknahme eingestellt und den Beklagten zur Gewährung von Blindengeld
auch für die Zeit vom 1. Juni 2002 bis zum 28. Februar 2006 verpflichtet. Zur
Begründung hat das Verwaltungsgericht sich maßgebend den Erwägungen des OVG
NRW im Beschluss vom 27. Juni 2008 – 16 E 611/07 – über die Gewährung von
Prozesskostenhilfe angeschlossen, wonach sich dem geltenden Recht – anders als der
bis 1992 geltenden Fassung des Landesblindengesetzes – nicht entnehmen lasse,
wann der grundsätzlich erforderliche Antrag gestellt werden müsse. Es sei nicht
erkennbar, dass die nach § 7 GHBG entsprechend anwendbaren Vorschriften des SGB
oder der Rechtscharakter der Leistungen nach dem GHBG eine rückwirkende
16
Gewährung von Blindenleistungen ausschlössen, und das -das Sozialhilferecht
prägende - Strukturprinzip "Keine Hilfe für die Vergangenheit" auch im Recht der
Blinden- und Gehörlosenhilfe nach dem GHBG anwendbar sei.
Zur Begründung seiner mit Senatsbeschluss vom 16. April 2009 zugelassenen
Berufung trägt der Beklagte im Wesentlichen Folgendes vor: Leistungen nach dem
nordrhein-westfälischen Gesetz über Blinde und Gehörlose (GHBG) könnten nach
Maßgabe von § 6 Abs. 1 GHBG nur für Zeiten nach Antragstellung zuerkannt werden. Im
gegenläufigen Beschluss des OVG NRW vom 20. Juni 2008
17
– 16 E 611/07 – sei nur eine summarische Prüfung vorgenommen und im Aus-
gangspunkt lediglich als zweifelhaft sowie der endgültigen Klärung in einem
Klageverfahren vorbehalten angesehen worden, ob Leistungen nach dem GHBG nur für
Zeiten nach Antragstellung oder zumindest in begrenztem Umfang auch rückwirkend
zuerkannt werden könnten. Ungeachtet der vom Verwaltungsgericht auch im Übrigen
ohne eine dementsprechende Auseinandersetzung in Bezug genommenen Argumente
habe sich jedenfalls dadurch, dass § 9 Abs. 2 des Landesblindengeldgesetzes vom 16.
Juni 1970, wonach die Gewährung von Blin-dengeld frühestens mit dem Ersten des
Antragsmonats beginne, durch die Neu-fassung des Landesblindengesetzes durch Art.
4 des Dritten Gesetzes zur Änderung des Verwaltungsverfahrensgesetzes für das Land
Nordrhein-Westfalen und zur Änderung anderer verwaltungsrechtlicher Vorschriften vom
24. November 1992 ersatzlos entfallen sei, an dem grundsätzlichen Ausschluss
rückwirkender Leistungen im Recht der Blinden- und Gehörlosenhilfe nach Maßgabe
auch der Rechtsprechung des VG Düsseldorf jedoch richtigerweise nichts geändert. Es
sei auch nicht ersichtlich, dass der Gesetzgeber mit der Formulierung etwa der jetzt
geltenden Fassung des § 6 Abs. 1 GHBG diesen Grundsatz habe außer Kraft setzen
wollen. Aus dem Gesetzesentwurf LT-Drucks. 11/3080, der der Änderung des § 9 des
Landesblindengeldgesetzes a. F. zugrunde gelegen habe, sei ersichtlich, dass der
Gesetzgeber gerade keine inhaltliche Änderung habe herbeiführen wollen. Er sei
vielmehr davon ausgegangen, dass eine eigenständige Verfahrensregelung im
Landesblindengeldgesetz überflüssig und eine Verweisung auf die Vorschriften des
Sozialgesetzbuches ausreichend sein würde. Durch die generelle Verweisung auf das
Sozialgesetzbuch sei der § 9 Abs. 2 des Landesblindengeldgesetzes a. F. nach Ansicht
des Landesgesetzgebers entbehrlich geworden, ohne dass das hinter dieser Regelung
steckende Prinzip, dass ein – nunmehr auch nach § 6 Abs. 1 GHBG erforderlicher –
Antrag anspruchsauslösend sein solle, aufgegeben worden sei.
18
Das gelte für Leistungen nach dem GHBG auch unter Berücksichtigung des § 7 GHBG,
nach dem im Übrigen die Vorschriften des Sozialgesetzbuches entsprechend gelten
würden. Der Regelung des § 16 Abs. 2 Satz 2 SGB I, nach der – ist eine Sozialleistung
von einem Antrag abhängig – der Antrag als zu dem Zeitpunkt gestellt gelte, in dem er
auch bei einem unzuständigen Leistungsträger eingegangen sei, gehe von einer
anspruchssichernden Wirkung in dem Sinne aus, dass frühestmöglicher Zeitpunkt für
eine Bewilligung der Zeitpunkt der Antragstellung sei.
19
Daraus, dass das Strukturprinzip der Sozialhilfe "Keine Hilfe für die Vergangenheit"
nach den Ausführungen des OVG NRW im Prozesskostenhilfebeschluss
20
16 E 611/07 im Recht der Blinden- und Gehörlosenhilfe keine Anwendung finde, dürfe
ebenso wenig der Rückschluss gezogen werden, dass Leistungen nach dem GHBG
unabhängig von einer Antragstellung für einen vergangenen Zeitraum erbracht werden
21
müssten. In dem vom OVG NRW insoweit in Bezug genommenen Urteil des OVG NRW
vom 8. November 2007 – 16 A 252/05 – sei es um einen Fall gegangen, in dem ein
Anspruch auf Rücknahme eines bestandskräftigen Versagungsbescheides nach § 44
SGB X, sowie auf Bewilligung von Blindengeld für einen vergangenen Zeitraum bejaht
worden sei, nachdem ein Bescheid des Versorgungsamtes geändert worden sei und
dieses für einen weitergehenden Zeitraum das Merkmal "Bl" zuerkannt habe. Zu der
Frage, ob Leistungen nur für Zeiten nach Antragstellung erbracht werden können,
verhalte sich das Urteil demgegenüber nicht, zumal sich das Problem eines fehlenden
Antrages für die Entscheidung nicht gestellt habe. In der dortigen Konstellation –
rechtswidrig abgelehnte Hilfegewährung – habe nämlich anders als hier ein Antrag
zugrunde gelegen.
Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 7 GHBG i. V. m. § 27 SGB X
komme nicht in Betracht. Es sei nicht i. S. v. § 27 SGB X eine gesetzliche Frist versäumt
worden, sondern ein nach dem GHBG erforderlicher Antrag. Es sei auch nicht
ersichtlich, dass die Antragstellung schuldlos versäumt worden sei. Zudem sei ein
Wiedereinsetzungsantrag jedenfalls nicht rechtzeitig innerhalb von zwei Wochen nach
Wegfall des Hindernisses (vgl. § 27 Abs. 2 Satz 1 SGB X) gestellt worden, nachdem mit
Bescheid des Versorgungsamtes vom 2. August 2006 ab dem 1. Juni 2002 das
Merkzeichen "Bl" zuerkannt, aber allenfalls mit der Begründung des Widerspruchs vom
9. Januar 2007 ein Wiedereinsetzungsantrag gestellt worden sei.
22
Schließlich könne auch der sozialrechtliche Herstellungsanspruch nicht zu einem
Anspruch auf Blindengeld für den Zeitraum vom 1. Juni 2002 bis zum 28. Februar 2006
führen. Allein die Tatsache, dass der Beklagte an die schwerbehindertenrechtliche
Statusfeststellung des Versorgungsamtes gebunden gewesen sei, rechtfertige es nicht,
ein etwaiges Verschulden der Versorgungsverwaltung bei der Beratung der Klägerin
dem Beklagten zuzurechnen. Nach den Feststellungen des OVG NRW im Beschluss
vom 20. Juni 2008 – 16 E 611/07 – solle eine Zurechnung auf Fälle beschränkt sein, in
denen ein Teil des jeweiligen Verwaltungsverfahrens auf eine andere Behörde verlagert
worden sei. Hintergrund der Bindungswirkung bzw. der umfassenden Nachweisfunktion
der Feststellungen des Versorgungsamtes sei es hingegen, dass es dem
Schwerbehinderten erspart werden solle, bei der Inanspruchnahme von Rechten und
Vergünstigungen stets aufs Neue wieder seine Behinderung und die damit
verbundenen Gesundheitsbeeinträchtigungen untersuchen und beurteilen lassen zu
müssen. Daraus könne nicht der Schluss gezogen werden, dass ein Teil des
Verwaltungsverfahrens auf das Versorgungsamt verlagert worden sei, bzw. dass hier
eine arbeitsteilige Einschaltung einer anderen Behörde vorgelegen habe. Selbst für den
Fall, dass das Versorgungsamt sinnvoller Weise gehalten gewesen wäre, die Mutter der
Klägerin auf denkbare Ansprüche hinzuweisen, habe sich ein etwaiger sozialrechtlicher
Herstellungsanspruch jedenfalls deshalb nicht gegen den Beklagten richten können,
weil jedenfalls nicht vom Bestehen einer umfassenden Beratungspflicht des
Versorgungsamtes auszugehen sei. Für die außerhalb der Stellung eines konkreten
Leistungsantrages geltende Aufklärungs- und Beratungspflicht nach §§ 13 und 14 SGB I
gelte nämlich grundsätzlich das Zuständigkeitsprinzip, d. h. die jeweilige Behörde habe
die betroffenen Personen für ihren eigenen Zuständigkeitsbereich umfassend zu
unterrichten. Für den weitergehenden Auskunftsanspruch nach § 15 SGB I müsse schon
ein besonderer Anlass für das Tätigwerden des Leistungsträgers – regelmäßig eine
ausdrückliche Nachfrage des Berechtigten – bestehen. Eine allgemeine und
umfassende Rechtsberatungspflicht von beliebigen Sozialleistungsträgern für alle Arten
von Sozialleistungen habe der Gesetzgeber hingegen nicht geregelt.
23
Der Beklagte beantragt sinngemäß,
24
das angefochtene Urteil zu ändern und die Klage insoweit, als die
Verpflichtung zur Gewährung von Blindengeld auch für die Zeit vom 1. Juni
2002 bis zum 28. Februar 2006 begehrt wird, abzuweisen.
25
Die Klägerin tritt dem Berufungsbegehren des Beklagten entgegen und trägt dazu
maßgeblich wie folgt vor: Das Verwaltungsgericht habe zutreffend angenommen, dass
sich ihr Anspruch daraus ergebe, dass das Strukturprinzip der Sozialhilfe "Keine Hilfe
für die Vergangenheit" vorliegend nicht gelte. Dies habe das OVG NRW im Urteil vom 8.
November 2007 – 16 A 292/05 – damit begründet, dass es sich bei den im GHBG
geregelten Hilfen eben nicht um fürsorgerische Leistungen zur Abwendung konkreter
Notlagen, sondern vielmehr um Leistungen mit dem Charakter einer
Versorgungsleistung bzw. eines Nachteilsausgleichs handele. Darüber hinaus habe die
Entscheidung selbst für den Fall der grundsätzlichen Geltung des Prinzips "Keine Hilfe
für die Vergangenheit" einen Ausnahmetatbestand für zwei Fallgruppen angenommen,
nämlich zum einen für Eilfälle, um der Effektivität der gesetzlichen Leistung willen und
für den Fall der Einlegung von Rechtsbehelfen, um der Effektivität des Rechtsschutzes
auf Sozialhilfe willen. Mit der vom OVG NRW insoweit entschiedenen Konstellation
einer nach Ablehnung der Feststellung der Blindheit nachträglich rückwirkend
geänderten Statusentscheidung sei auch der vorliegende Fall der Klägerin vergleichbar
und könne folgerichtig nicht anders beurteilt werden, zumal sie bereits
schwerstbehindert geboren und somit von Geburt an ein Pflegefall gewesen sei.
26
Obwohl die Kindesmutter praktisch von Geburt an ständig in Kontakt mit den
Sozialbehörden gewesen und bereits mit Bescheid vom 14. November 2000 der
Klägerin vom Versorgungsamt L. ein Grad der Behinderung von 100 nebst den
Merkzeichen "GB", "H" und "RF" unter ausdrücklicher Erwähnung des beidseitigen
Charakters der Einschränkung des Sehvermögens zuerkannt worden sei, habe man die
Kindesmutter weder auf die Möglichkeiten der Sehbehindertenfrühförderung noch auf
die Möglichkeit der Beantragung von Blindengeld für die Klägerin hingewiesen. Bei
zeitgerechter Information wäre der Antrag für die Klägerin auf Leistungen nach dem
GHBG rechtzeitig gestellt worden. Entsprechende Informationspflichten der zuständigen
Behörde für die schwerbehindertenrechtliche Statusfeststellung bestünden, wenn z. B.
bei einer Vorsprache zweckmäßige Gestaltungsmöglichkeiten klar zu Tage träten, die
der Berechtigte bei verständiger Betrachtung einer entsprechenden Information
voraussichtlich nutzen würde. In der Rechtsprechung des BSG sei eine Einstandspflicht
für objektive Pflichtverletzungen eines Mitarbeiters eines anderen Sozialleistungsträgers
anerkannt. Eine solche Einstandspflicht bestehe bereits dann, wenn die
Zuständigkeitsbereiche beider Stellen materiell-rechtlich eng miteinander verknüpft
seien. Dies sei dadurch, dass die Gewährung von Leistungen nach dem GHBG an die
Feststellung der Behinderung durch das Versorgungsamt gebunden sei, vorliegend der
Fall. Aufgrund des bestehenden Kontaktes sei das pflichtwidrig handelnde
Versorgungsamt der aktuelle Ansprechpartner für die Klägerin gewesen. Eine objektive
Pflichtverletzung liege bereits dann vor, wenn erkennbar sei, dass der Antragsteller im
Hinblick auf das andere sozialrechtliche Gebiet einen dringenden Beratungsbedarf
habe.
27
Auch aus Gründen der Gleichbehandlung dürfe die Klägerin nicht schlechter gestellt
werden, als derjenige, der einen Leistungsanspruch nicht erst nach rückwirkender
28
Feststellung der Blindheit durch das Versorgungsamt, sondern quasi ins Blaue hinein
auf Vorrat gestellt habe.
Vor dem Hintergrund all dessen müsse schließlich davon ausgegangen werden, dass
der Gesetzgeber bewusst in die Neufassung des Landesblindengeldgesetzes die alte
Regelung aus § 9 Abs. 1 Satz 2 nicht mehr aufgenommen habe, da es sich bei den dort
geregelten Leistungen dem Wesen nach um solche handele, die den Charakter einer
Versorgungsleistung bzw. den eines Nachteilsausgleichs und eben nicht um
fürsorgerische Leistungen zur Abwendung konkreter Notlagen handele.
29
Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten
wird auf den Inhalt der Gerichtsakten 12 A 3324/08 (26 K 870/07, VG L. ) und 12 A
3325/08 (26 K 1151/07, VG L. ) sowie die dazu beigezogenen Verwaltungsvorgänge
(jeweils 1 Heft) Bezug genommen.
30
Entscheidungsgründe:
31
Das Gericht kann gem. §§ 125 Abs. 1, 101 Abs. 2 VwGO mit Einverständnis der
Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden.
32
Die zulässige Berufung hat auch in der Sache Erfolg.
33
Die Berufung ist begründet und das Urteil unter entsprechender Abweisung der Klage
zu ändern. Die Ablehnung von Leistungen für den dem Antrag vom 6. März 2006
vorausgegangenen Zeitraum durch den Bescheid vom 17. August 2006 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheids vom 1. Februar 2007 ist rechtmäßig und verletzt die
Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO), weil die Klägerin für den
Zeitraum vom 1. Juni 2002 bis zum 28. Februar 2006 keinen Anspruch auf Gewährung
von Blindengeld nach dem Gesetz über Hilfen für Blinde und Gehörlose NRW – GHBG
– vom 25. November 1997 (GV.NRW. 1997, S. 430), letzte zu berücksichtigende
Änderung durch Gesetz vom 5. April 2005 (GV.NRW., S. 332), besitzt.
34
Nach § 6 Abs. 1 GHBG werden Leistungen nach diesem Gesetz auf Antrag gewährt.
Dieses Antragserfordernis hat nicht nur formell-rechtliche, sondern auch materiell-
rechtliche Bedeutung,
35
vgl. insoweit zu Jugendhilfeleistungen etwa: BVerwG, Beschluss vom 22.
Mai 2008 – 5 B 130.07 –, JAmt 2008, 600; OVG NRW, Beschluss vom 4.
Juli 2007 – 12 A 1266/07 –,
36
Juris, jew. m. w. N.,
37
d. h. die Stellung eines Antrages auf Bewilligung von Blindengeld ist nicht nur
Voraussetzung dafür, dass die Bewilligungsbehörde in die Prüfung eintritt, ob die
gesetzlichen Voraussetzungen eines Anspruchs vorliegen oder nicht. Vielmehr ist ein
Antrag selbst Voraussetzung für das Entstehen eines Anspruches. Leistun-
38
gen für die Zeit vor der Antragstellung sind damit ausgeschlossen.
39
Diesem insbesondere am Willen des Gesetzgebers orientierte Gesetzesverständnis
stehen weder die Gesetzeshistorie noch die Verweisung in § 7 GHBG auf die
40
Vorschriften des Sozialgesetzbuchs (SGB) im Übrigen und auch nicht die
Strukturunterschiede zum Sozialhilferecht entgegen.
Ob der Gesetzgeber der Antragstellung im Einzelfall materiell-rechtliche Bedeutung
beigemessen hat, ist durch Auslegung zu ermitteln. Dazu müssen ggf. auch die an
einem Gesetzeswerk im Laufe der Zeit vorgenommenen Veränderungen und die Motive
des Gesetzgebers bei der Weiterentwicklung des Gesetzes in den Blick genommen
werden.
41
Vgl. insoweit zu Folgendem bereits: VG Düs-
42
seldorf, Urteil vom 6. Februar 2009 – 21 K 4062/08 – rechtskräftig infolge der
Ablehnung
43
der Berufungszulassung durch Senatsbeschluss – 12 A 655/09 – vom 18.
Mai 2009.
44
In der ursprünglichen Regelung des § 9 Abs. 1 des Landesblindengesetzes vom 16.
Juni 1970 (GV.NRW. S. 435) als Ausgangsgesetz hieß es bereits, dass Blindengeld nur
auf Antrag gewährt wird. § 9 Abs. 2 Satz 1 des Landesblindengesetzes vom 16. Juni
1970 bestimmte darüber hinaus ausdrücklich, dass die Gewährung des Blindengeldes
mit dem Ersten des Monats beginnt, in dem die Voraussetzungen erfüllt sind, frühestens
mit dem Ersten des Antragsmonats. Durch eben den zweiten Halbsatz ist klargestellt
worden, dass die Antragstellung im Falle der Blindengeldgewährung materiell-
rechtliche Wirkung hat, d. h. eine Bewilligung von Blindengeld für die Zeit vor der
Antragstellung selbst dann ausgeschlossen ist, wenn der Antragsteller nachweisen
kann, dass er schon vor der Antragstellung blind war.
45
Das Landesblindengesetz vom 16. Juni 1970 wurde neu gefasst durch Art. 4 des Dritten
Gesetzes zur Änderung des Verwaltungsverfahrensgesetzes für das Land Nordrhein-
Westfalen und zur Änderung anderer verwaltungsrechtlicher Vorschriften vom 24.
November 1992 (GV.NRW. S. 446). In der Begründung der Landesregierung zu dem
Gesetzentwurf heißt es zu den Motiven des Gesetzes wörtlich (LT-Drucks. 11/3080, A
Nr. 5):
46
"Das Landesblindengeldgesetz enthält noch aus der Zeit vor Inkrafttreten
des Sozialgesetzbuches eine Reihe von speziellen Verfahrensregelungen,
auf die angesichts der Sozialgesetzbuch-Rege-lungen verzichtet werden
kann."
47
Dementsprechend enthielt die Neufassung des Landesblindengesetzes vom
11. November 1992 an verfahrensrechtlichen Regelungen nur noch das Antrags-
erfordernis in § 3 Abs. 1 sowie den allgemeinen Verweis auf die Vorschriften des
Sozialgesetzbuches in § 4. Eine über die Bereinigung verfahrensrechtlicher Re-
gelungen hinausgehende Änderung des materiellen Rechts war daher mit der
Neufassung des Gesetzes vom 11. November 1992 ersichtlich nicht gewollt. Die
ausschließlich verfahrensrechtliche Zielsetzung der Gesetzesnovellierung ergibt sich
darüber hinaus auch aus der Begründung zu Artikel 4 (Neufassung des
Landesblindengeldgesetzes) "A. Allgemeines". Danach war allein eine
Rechtsbereinigung infolge des Inkrafttretens des Sozialgesetzbuches beabsichtigt. Die
Verfahrensregelungen des Landesblindengeldgesetzes wurden ausweislich der
48
Gesetzesmotive zu "B. Begründung zu den einzelnen Vorschriften, 4. Zu § 4" als
entbehrlich, also überflüssig erachtet. Durch das Inkrafttreten des Sozialgesetzbuches
bestand die Möglichkeit, das Landesblindengeldgesetz zu straffen. Deshalb ist die
Neufassung auch im Rahmen eines Artikelgesetzes erfolgt, durch das nicht nur das
Landesblindengeldgesetz geändert wurde, sondern eine Reihe von Gesetzen, die
überflüssig gewordene Verfahrensvorschriften enthielten. Indem der Gesetzgeber an
dem Antragserfordernis in § 3 Abs. 1 der Neufassung des Landesblindengeldgesetzes
vom 11. November 1992 als solchem jedoch ausdrücklich festgehalten hat, obwohl
auch § 16 Abs. 1 Satz 1 SGB I eine Antragstellung als formell-rechtliche
Verfahrensvoraussetzung vorsieht, hat er zum Ausdruck gebracht, dass die
Antragstellung bei der Bewilligung von Blindengeld nach wie vor auch materiell-
rechtliche Bedeutung haben sollte. Die gestrichene Regelung in § 9 Abs. 2 Satz 1 des
Landesblindengeldgesetzes vom 16. Juni 1970 ist also gleichsam in die Regelung der
Neufassung vom 11. November 1992 hineinzulesen.
Eine andere Auslegung ergibt sich unter dem Gesichtspunkt der Gesetzessystematik
nicht etwa daraus, dass der Landesgesetzgeber seinerzeit in § 4 der Neufassung des
Landesblindengeldgesetzes durch das Änderungsgesetz vom 24. November 1992 und
heute in § 7 GHBG bestimmt, dass im Übrigen "die Vorschriften des Sozialgesetzbuchs
entsprechend gelten sollen". Abgesehen davon, dass schon der Wortlaut der sich an die
Regelung über das beibehaltene Antragserfordernis anschließenden Bestimmung mit
der Formulierung "im Übrigen" eindeutig zum Ausdruck bringt, dass die insoweit
angeordnete entsprechende Geltung der "Vorschriften des Sozialgesetzbuchs (SGB)"
das spezialgesetzlich festgelegte Antragserfordernis (und damit auch seinen materiell-
rechtlichen Bedeutungsgehalt) unberührt lassen soll, verweist der Beklagte zu Recht
darauf, dass etwa die Regelung des § 16 Abs. 2 Satz 2 SGB I, nach der – ist eine
Sozialleistung von einem Antrag abhängig – der Antrag als zu dem Zeitpunkt gestellt
gilt, in dem er auch bei einem unzuständigen Leistungsträger eingegangen ist, von eben
einer anspruchssichernden Wirkung in dem Sinne ausgeht, dass frühestmöglicher
Zeitpunkt für eine Bewilligung der Zeitpunkt der Antragstellung ist. Auch § 28 SGB X
verdeutlicht den Grundsatz, dass Sozialleistungen einen rechtzeitigen Antrag
voraussetzen, der nicht lediglich auf eine nachträgliche Übernahme von Kosten
gerichtet ist.
49
Aus § 40 Abs. 1 SGB I, wonach Ansprüche auf Sozialleistungen entstehen, sobald ihre
im Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes bestimmten Voraussetzungen vorliegen, folgt
nichts anderes. Ob zu diesen Voraussetzungen ein rechtzeitiger Antrag gehört, ist nicht
§ 40 Abs. 1 SGB I zu entnehmen, sondern den Besonderheiten des Rechts der
jeweiligen Sozialleistungen.
50
Vgl. zu Vorstehendem: BVerwG, Beschluss vom 22. Mai 2008 – 5 B 130.07
–, a. a. O.
51
Vor diesem Hintergrund hat sich auch durch die Neuregelung der Vorschriften im
Gesetz über die Hilfen für Blinde und Gehörlose (GHBG) nichts geändert. Bezüglich der
verfahrensrechtlichen Vorschriften enthält das GHBG nämlich gegenüber dem
Landesblindengeldgesetz keine inhaltlichen Neuerungen, die auf einen
Änderungswillen des Gesetzgebers schließen lassen könnten.
52
Diesem Verständnis des Antragserfordernis steht nicht entgegen, dass das OVG NRW
im Urteil vom 8. November 2007 – 16 A 292/05 – (FEVS 59, 259 = NWVBl. 2008, 269)
53
der Blindenhilfe in der Ausgestaltung durch das GHBG in Abwendung von seiner
früheren Rechtsprechung weithin den Charakter einer Versorgungs-leistung bzw. eines
Nachteilsausgleichs für den von einem besonders schweren Schicksal betroffenen
Personenkreis der Blinden zuerkannt und dadurch – an-stelle des bisher angewandten
Grundsatzes "Keine Hilfe für die Vergangenheit" – den Weg zu einer Anwendung des §
44 Abs. 1 SGB X eröffnet hat.
So schon Senatsbeschluss vom 18. Mai 2009
54
– 12 A 655/09 –.
55
Das besagt nämlich nichts dazu, dass hinter den Zeitpunkt der Antragstellung i. S. einer
nachträglichen Gewährung zurückgegangen werden kann. Abgesehen davon hat sich
in der Entscheidung 16 A 292/05 das Problem des fehlenden Antrags von vornherein
nicht gestellt, da in der dortigen Konstellation der rechtswidrig ab-gelehnten
Hilfegewährung ein vorausgegangener Antrag zugrunde gelegen hat.
Bezeichnenderweise heißt es in der Entscheidung: "Die Gewährung von zuvor
rechtswidrig abgelehnten Leistungen ist im Recht der Blinden- und Gehörlosenhilfe ...
nicht dadurch in Frage gestellt, dass § 6 Abs. 1 GHBG Leistungen nach diesem Gesetz
von einem Antrag abhängig macht, denn hier – und generell in den von § 44 Abs. 1 SGB
X erfassten Fällen – hat der rechtswidrigerweise abgelehnten Hilfegewährung ein
Antrag zugrunde gelegen." Dass ein Anspruch
56
– ungeachtet der Anwendbarkeit des § 44 Abs. 1 SGB X – frühestens mit der
Antragstellung entstehen kann, ist weder dem Rechtsgebiet der Versorgungsleistung,
57
vgl. etwa zur Kriegsopferversorgung: LSG NRW, Urteil vom 30. Oktober
2002 – L 10 V 16/02 –, Juris,
58
noch Normenwerken zum Nachteilsausgleich,
59
vgl. etwa zum Schwerbehindertenrecht: VG L. , Urteil vom 23. Januar 2002
– 21 K 9285/98 –, Behindertenrecht 2002, 215,
60
generell fremd. Das Verständnis des Antragserfordernisses als materiell-recht-liche
Anspruchsvoraussetzung für die Bewilligung von Blinden- und Gehörlosen-geld wird
neben den schon eingangs erwähnten Parallelen zum Jugendhilfegesetz ferner auch
dadurch bestätigt, dass aus der gesetzlichen Formulierung "werden auf Antrag gewährt"
auch in anderen Fällen geschlossen wird, dass Leistungen erst ab Antragstellung
bewilligt werden,
61
vgl. BSG, Urteile vom 23. März 1956 – 10 RV 385/55 –, BSGE 2, 289 ff. (zu
§ 1 Bundesversorgungsgesetz), und vom 16. Dezember 1975 – 11 RA
200/74 –, BSGE 41, 89 f. (zur Erstattung von Beiträgen aus der gesetzlichen
Rentenversicherung); § 19 SGB IV (betreffend die Leistungen in der
gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung, nach dem Recht der
Arbeitsförderung sowie in der sozialen Pflegeversicherung).
62
Diese Grundsätze stimmen mit der Rechtsprechung des OVG NRW überein,
63
Urteil vom 24. April 2008 – 16 A 3089/07 –, Juris,
64
nach der sich der Leistungszeitraum, der der gerichtlichen Prüfung unterliegt, bei
entsprechender Antragstellung von diesem Zeitpunkt an bis zum Ende des Monats der
gerichtlichen Entscheidung erstreckt.
65
Da es sich beim Antrag nach § 6 Abs. 1 GHBG um eine rechtswahrende materiell-
rechtliche Anspruchsvoraussetzung handelt, kommt eine Wiedereinsetzung nach § 7
GHBG i. V. m. § 27 SGB X von vornherein nicht in Betracht. Das Antragserfordernis wirkt
sich zwar bei einer Antragstellung zu einem späteren als dem frühestmöglichen
Zeitpunkt wie eine Fristversäumung aus, beinhaltet jedoch nicht schon aus sich heraus
eine gesetzliche Frist.
66
Vgl. zur Unanwendbarkeit der Wiedereinsetzungsregeln selbst bei materiell-
rechtlichen Fristen: OVG NRW, Urteil vom 2. Dezember 2009
67
– 12 A 271/08 –, m. w. N.
68
Dass die Klägerin erst im März 2006 den Leistungsantrag gestellt hat, kann vorliegend
auch nicht mittels des sogenannten "sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs"
überwunden werden. Dieser könnte zwar zum Inhalt haben, dass derjenige Bürger, der
infolge einer Verletzung behördlicher Nebenpflichten Antrags- oder Erklärungsfristen
versäumt hat, im Wege der Naturalrestitution so gestellt wird, als habe er die versäumte
Verfahrenshandlung noch rechtzeitig und ordnungsgemäß vorgenommen.
69
Vgl. zum Ganzen etwa: BSG, Urteil vom 26. April 2005 – B 5 RJ 6/04 R –,
SozR 4-2600 § 4 Nr. 2; Urteil vom 11. März 2004 – B 13 RJ 16/03 R –,
BSGE 92, 241 ff.; Urteil vom 24. Juli 2003 – B 4 RA 13/03 R -, SozR 4-1200
§ 46 Nr. 1; Urteil vom 5. August 1999 – B 7 AL 38/98 R -, NJW 2000, 2043
ff.; Urteil vom 15. Dezember 1994 – 4 RA 64/93 –, MDR 1995, 394 f.;
BVerwG, Urteil vom 18. April 1997 – 8 C 38.95 –, FEVS 48, 49 (53); OVG
NRW, Urteil vom 23. September 1999 – 16 A 461/99 –, FEVS 51, 361;
Pietzner/Müller, Herstellungsanspruch und Verwaltungsgerichtsbarkeit,
VerwArch 85 (1994), 603 ff., jeweils m. w. N.
70
Ein solcher sozialrechtlicher Herstellungsanspruch wird für nicht der
Sozialgerichtsbarkeit unterworfene Sozialleistungsmaterien außerhalb von
Spezialvorschriften gemeinhin aber nicht anerkannt,
71
vgl. BVerwG, Urteile vom 30. Oktober 1997 – 3 C 35.96 –, BVerwGE 105,
288 ff. und vom 24. März 1988 – 3 C 48.86 –, BVerwGE 79, 192 ff. – jew.
zum allgemeinen Verwaltungsrecht; OVG NRW, Beschluss vom 13.
Dezember 2007 – 12 E 1227/07 –; VGH Baden-Württemberg, Beschluss
vom 11. Mai 1994 – 7 S 2632/93 –, VGH BW-LS 1994, Beilage 8, B 2-3;
Rothkegel, Sozialhilferecht, 2005, Teil IV Kap. 3, S. 651 ff.(insb. Rdnr. 8, 9
und 14); Pietzner/Müller, a. a. O., S. 603; offengelassen: OVG
Berlin/Brandenburg, Beschluss vom 14. März 2006 – 6 M 6.06 –, FEVS 58,
58; OVG NRW, Urteil vom 23. September 1999 – 16 A 461/99 –, a. a. O.;
jeweils m. w. N.,
72
da eine Rechtsschutzlücke, die es durch Richterrecht wie den sozialrechtlichen
Herstellungsanspruch zu schließen gälte, in dem von der Verwaltungsgerichtsbarkeit
73
entwickelten Rechtsschutzsystem nicht gesehen wird.
So auch: BVerwG, Urteil vom 18. April 1997, a.a.O.
74
Davon abzurücken gibt auch der vorliegende Fall dem Senat keinen Anlass. Dem
stünde die einer Nachbewilligung anhaftende, im fehlenden Antrag begründete
materielle Rechtswidrigkeit entgegen, die die Behörde nach dem
verfassungsrechtlichen Grundsatz des gesetzmäßigen Verhaltens (Art. 20 Abs. 3 GG)
weiter zu beachten hätte. An dieser verfassungsrechtlichen Schranke des
Exekutivhandelns vermag der Herstellungsanspruch nichts zu ändern; hierin liegt auch
die rechtsstaatlich bedenkliche "Achillesferse" eines derartigen Anspruchs.
75
Vgl. Rothkegel, a.a.O., S. 653.
76
Es besteht auch keine Notwendigkeit, den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch zur
Anwendung zu bringen, weil eine Vereitelung einer frühzeitigeren Antragstellung
entweder über §§ 242, 162 BGB
77
- vgl. Rothkegel a.a.O., S. 655; Pietzner/Müller a.a.O., S. 618 f. -
78
oder ggf. im Wege eines Schadensersatzanspruchs wegen Amtspflichtverletzung nach
Art. 34 GG i. V. m. § 839 BGB als einem dem Ausgleich von Einbußen dienenden
Sekundäranspruch einer gesetzlich geregelten Problemlösung zugeführt werden kann,
die dem Charakter der Hilfen nach dem GHBG als Versorgungsleistungen bzw. eines
Nachteilsausgleichs in Beachtung der Verantwortungsbereiche von Leistungsträger
einerseits und Leistungsempfänger andererseits hinreichend Rechnung trägt.
79
Selbst wenn man den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch vorliegend für
einschlägig halten wollte, würde er jedenfalls daran scheitern, dass das behauptete
behördliche Fehlverhalten in Form unzureichender Beratung dem beklagten
Leistungsträger hier nicht zuzurechnen ist. Die Zurechnung eines Fehlverhaltens einer
anderen Behörde ist nämlich grundsätzlich auf Fälle beschränkt, in denen Teile des
jeweiligen Verwaltungsverfahrens auf die andere Behörde verlagert worden sind.
80
So schon OVG NRW, Beschluss vom 20. Juni 2008 – 16 E 611/07 –, mit
Hinweis auf: BSG, Urteile vom 17. Dezember 1980 – 12 RK 34/80 –, BSGE
51, 89; vom 24. Juli 1985 – 10 RKg 18/84 –, BSGE 58, 283, und vom 26.
April 2005 – B 5 RJ 6/04 R –, Juris; siehe auch: BSG, Urteil vom 22. Oktober
1996 – 13 RJ 69/95 -, Soz 3-1200 § 14 Nr. 22; BayVGH, Beschluss vom 14.
September 2009 – 12 C 09.1767 –, Juris.
81
Vor diesem Hintergrund ist es konsequent, wenn die Klägerin im Berufungsverfahren
nur noch das Verhalten des Versorgungsamtes als zuständige Behörde für die
schwerbehindertenrechtliche Statusfeststellung in den Blick nimmt. Zumindest muss
sich aus dem konkreten Verwaltungskontakt zwischen dem Bürger und dem fremden
Sozialleistungsträger ein spezieller Beratungsbedarf für einen Leistungsbereich
außerhalb der Zuständigkeit dieses Leistungsträgers aufdrängen.
82
Vgl. BSG, Urteil vom 26. April 2005, a. a. O., m. w. N.; BayVGH, Beschluss
vom 14. September 2009, a. a. O.
83
Weder das eine noch das andere liegt indessen allein schon deswegen vor, weil der
Beklagte - als für die Gewährung von Leistungen nach dem GHBG zuständige Behörde
- an die schwerbehindertenrechtliche Statusfeststellung des Versorgungsamtes
gebunden ist.
84
Vgl. zur Bindungswirkung: BVerwG, Urteile vom 11. Juli 1985 – 7 C 44.83 –,
BVerwGE 72, 8 und vom 27. Februar 1992 – 5 C 48.88 –, BVerwGE 90, 65;
OVG NRW, Urteile vom 8. September 1992 – 8 A 422/89 –, vom 8.
November 2007
85
– 16 A 292/05 –, a. a. O., und vom 20. März 2008 – 16 A 2399/05 –.
86
Eine "arbeitsteilige" Aufteilung der Aufgabenerfüllung auf mehrere Verwaltungs-träger
im Sinne einer Funktionseinheit,
87
vgl. BSG, Urteile vom 26. April 2005 und vom 22. Oktober 1996, a. a. O., m.
w. N.,
88
steht nämlich hinter dieser Bindungswirkung nicht, denn der Beklagte hat das Vorliegen
der Anspruchsvoraussetzungen "Blindheit" i. S. v. § 1 Abs. 1 GHBG bzw.
"Gehörlosigkeit" i. S. v. § 5 GHBG grundsätzlich im Rahmen des eigenen
Verwaltungsverfahrens zu überprüfen und festzustellen. Lediglich gelegentlich eines
Statusverfahrens beim Versorgungsamt erübrigen sich solche eigenen Ermittlungen.
Dem Schwerbehinderten soll erspart werden, bei der Inanspruchnahme von Rechten
und Vergünstigungen aufs Neue wieder seine Behinderung und die damit verbundenen
Gesundheitsbeeinträchtigungen untersuchen und beurteilen lassen zu müssen.
89
Ein spezielles Beratungserfordernis im Hinblick auf Leistungen nach dem GHBG ergab
sich ebenfalls nicht ohne weiteres. So ist der Gegenstand der Beratungspflicht nach §
14 SGB I prinzipiell durch die Zuständigkeit des angegangenen Leistungsträgers
begrenzt.
90
Vgl. etwa BSG, Urteil vom 26. April 2005, a. a. O.
91
Nur in diesem Rahmen ist ein Sozialleistungsträger dann auch ohne konkrete
Nachsuche um Beratung verpflichtet, bei Vorliegen eines konkreten Anlasses auf klar
zutage tretende Gestaltungsmöglichkeiten hinzuweisen, deren Wahrnehmung
offensichtlich so zweckmäßig ist, dass ein verständiger Leistungsempfänger sie
mutmaßlich nutzen würde.
92
Vgl. BSG, Urteil vom 5. August 1999, a. a. O.,
93
m. w. N.
94
Das Versorgungsamt als solches ist hier jedoch rein funktionell schon kein
Sozialleistungsträger, der es in den Blick nehmen müsste, welche Leistungsfolgen sich
aus seinen Feststellungen ergeben und inwieweit es zu den von ihm verwalteten
Leistungen alternative oder ergänzende Hilfen von anderen Sozialleistungsträgern gibt.
Die Gestaltungsmöglichkeit "Leistungen nach dem GHBG" lag hier zudem allenfalls mit
der Zuerkennung des Merkmals "Bl" durch Bescheid vom 2. August 2006 klar zutage.
Das bloße Anstrengen eines Verfahrens zur Feststellung des versorgungsrechtlichen
95
Status, von dem mangels anderslautendem Vortrag der Klägerin vorliegend
auszugehen ist, vermag hingegen schon wegen der Vielzahl der rechtlichen
Folgerungen (Leistungen, Vergünstigungen, Vorteile), die auf verschiedenen
Rechtsgebieten aus einer Statusfeststellung hervorgehen können, keine
Beratungspflicht auszulösen.
Auch Auskunft im Sinne des § 15 SGB I bedeutet allgemein nur die Information auf eine
gezielte Frage.
96
Vgl. BSG, Urteil vom 24. April 2005, a. a. O.
97
Nur wenn überhaupt ein Auskunftsersuchen gestellt wird, kommt es darauf an, ob ein
Beratungsbedarf vorgelegen hat.
98
Vgl. BSG, Urteil vom 26. April 2005, a. a. O.
99
Dass die Klägerin ein solches Auskunftsersuchen gegenüber dem Versorgungsamt
geltend gemacht hat, wird aber nicht behauptet.
100
Schließlich kann die Klägerin auch nicht nach Art. 3 Abs. 1 GG die Gleichbehandlung
mit demjenigen verlangen, "der ins Blaue hinein, quasi auf Vorrat einen Antrag gestellt
und nicht abgewartet hat, bis die Berechtigung zur Antragstellung vorgelegen hat". Die
rechtzeitige – noch vor der behördlichen Bestätigung getätigte – Antragstellung bloß in
der eigenen Überzeugung, die Anspruchsvoraussetzungen zu erfüllen, ist vielmehr ein
sachgerechtes Unterscheidungsmerkmal.
101
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 und 188 Satz 2 Halbsatz 1 VwGO.
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i. V. m. den §§
708 Nr. 10, 711 ZPO.
102
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO
nicht gegeben sind.
103