Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 21.02.1997
OVG NRW (wiedereinsetzung in den vorigen stand, kläger, bundesrepublik deutschland, ablauf des verfahrens, eltern, muttersprache, deutsch, antrag, ungarisch, sprache)
Oberverwaltungsgericht NRW, 2 A 45/95
Datum:
21.02.1997
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
2. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
2 A 45/95
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Köln, 22 K 3727/92
Tenor:
Das angefochtene Urteil wird geändert.
Der Bescheid des Bundesverwaltungsamtes vom 12. November 1991 in
der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 1. Juni 1992 wird
aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen sind nicht
erstattungsfähig.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die
Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder
Hinterlegung in Höhe des beizutreibenden Betrages abwenden, wenn
nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
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Der Kläger wurde am 18. August 1970 in H. , Kreis Sathmar (Rumänien), geboren.
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Unter dem 7. März 1990 beantragte er mit beim Landratsamt C. eingereichten
Unterlagen seine Übernahme in das Bundesgebiet. Er gab an, er sei rumänischer
Staatsangehöriger und deutscher Volkszugehöriger. Seine Muttersprache sei Deutsch,
die jetzige Umgangssprache in der Familie Schwäbisch- Ungarisch. Die Frage nach der
Teilnahme an Einrichtungen der deutschen Volksgruppe ließ der Kläger unbeantwortet.
Er sei bis 1985 in H. , danach in T. zur Schule gegangen. Seine Eltern seien deutsche
Volkszugehörige. Die Familie habe stets in H. gelebt. Der Vater habe bis 1940 eine
deutsche Schule besucht. Im Ergänzungsblatt zum Übernahmeantrag ist als seine
Muttersprache Schwäbisch- Ungarisch, als die seiner Eltern mit Schwäbisch
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angegeben. Weitere Angaben betreffen die Großeltern des Klägers, die deutsche
Volkszugehörige gewesen seien und nach dem Zweiten Weltkrieg
Verfolgungsmaßnahmen erlitten hätten. Der Kläger legte ferner Erklärungen von sieben
Auskunftspersonen vor, die Angaben über Eltern, Großeltern und andere Verwandte des
Klägers enthalten und zum Teil seine deutsche Abstammung bestätigen.
Unter dem 9. März 1990 wandte sich das Landratsamt C. an die Heimatauskunftsstelle
Rumänien beim Landesausgleichsamt Bayern und bat um Mitteilung, ob dort
"Anhaltspunkte bzw. Unterlagen vorliegen, "die auf die deutsche Abstammung bzw. das
Bekenntnis zum deutschen Volkstum schließen lassen", da zum Antrag des Klägers
außer eigenen Angaben keine Unterlagen beigebracht worden seien.
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Mit Schreiben vom 17. Mai 1990 antwortete die Heimatauskunftsstelle, die Großväter
und der Vater des Klägers seien nach ihren Ermittlungen deutsche Volkszugehörige.
Der Kläger sei "in deutschem Sinne" erzogen worden.
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Mit Datum vom 2. August 1991 erteilte das Bundesverwaltungsamt dem Kläger einen
Aufnahmebescheid.
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Am 29. Oktober 1991 reiste der Kläger in die Bundesrepublik Deutschland ein und
beantragte seine Registrierung. Bei einer Befragung am 11. November 1991 stellte das
Bundesverwaltungsamt fest, daß der Kläger keine deutschen oder schwäbischen
Sprachkenntnisse hatte. Der Kläger gab an, die Umgangssprachen im Elternhaus seien
Ungarisch und Rumänisch gewesen. Die Großeltern hätten noch deutsch (schwäbisch)
gesprochen; der Kläger habe sie aber nicht mehr gekannt. Die Eltern hätten als
Umgangssprache hauptsächlich Ungarisch gesprochen. Der Kläger habe keine
deutschen Kulturveranstaltungen besucht und sei im Internat erzogen worden.
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Mit Bescheid vom 12. November 1991 nahm das Bundesverwaltungsamt den
Aufnahmebescheid vom 2. August 1991 zurück und führte zur Begründung aus: Der
Aufnahmebescheid sei rechtswidrig, weil er auf Angaben beruhe, die in wesentlicher
Beziehung unrichtig seien. Der Kläger habe in seinem Antrag angegeben, er sei
deutscher Volkszugehöriger und seine Mutter- und Umgangssprache seien jeweils
Deutsch/Ungarisch. Er verfüge jedoch über keinerlei deutsche Sprachkenntnisse.
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Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger am 9. Dezember 1991 Widerspruch. Er trug
vor: Er sei nach seinen Großeltern und Eltern deutscher Volkszugehöriger und habe
sich zum deutschen Volkstum bekannt. Die bereits seit 1848 einsetzende
Madjarisierung der Sathmarer Schwaben und das Fehlen deutscher Schulen hätten
dazu geführt, daß viele Sathmarer Schwaben ihrer Muttersprache verlustig gegangen
seien. Seine Muttersprache sei die deutsche, d.h. die schwäbische Mundart. Dies
entspreche der Wahrheit, weil seine Mutter noch relativ gut schwäbisch spreche. Wegen
der besonderen Situation der Sathmarer Schwaben sei er seiner Muttersprache verlustig
gegangen. Er sei jedoch mit schwäbischen Sitten und in schwäbischer Kultur
aufgewachsen. Bei seiner Aufnahmeprüfung in T. habe er als seine Nationalität deutsch
angegeben. Während seiner Schulzeit habe er deutsche Veranstaltungen (u.a.
Trachten-abende, Schwabenbälle, Theateraufführungen) besucht. Obwohl er nicht alles
verstanden habe, habe er sich zu diesen Veranstaltungen hingezogen gefühlt. Auch
durch Erzählungen seiner Eltern von der Unterdrückung der Schwaben sei er in
deutschem Sinne geprägt worden.
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Der Kläger legte ferner Aussagen von H. G. , K. I. und K. C. vor, auf deren Inhalt Bezug
genommen wird.
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Mit Widerspruchsbescheid vom 1. Juni 1992 wies das Bundesverwaltungsamt den
Widerspruch zurück und führte zur Begründung aus: Der Kläger sei kein deutscher
Volkszugehöriger, wie sich insbesondere aus den bei der Anhörung am 11. November
1991 festgestellten mangelhaften deutschen bzw. schwäbischen Sprachkenntnissen
ergebe. Andere objektive Merkmale, die auf eine Weitergabe deutschen
Volkstumsbewußtseins auf den Kläger hinwiesen, seien nicht feststellbar. Die
Rücknahme des Aufnahmebescheides sei auch nach Abwägung der für die
Aufrechterhaltung sprechenden Gesichtspunkte mit dem Interesse an der Herstellung
des nach §§ 26 bis 28 des Bundesvertriebenengesetzes gebotenen Rechtszustandes
rechtmäßig. Das öffentliche Interesse verlange die gleichmäßige Anwendung des
Gesetzes. Es verstoße gegen das Gebot der sozialen Gerechtigkeit, den
Aufnahmebescheid einer Person zu belassen, die ihn nicht beanspruchen könne. Bei
Personen, die Rechte und Vergünstigungen nach dem Bundesvertriebenengesetz nicht
in Anspruch nehmen könnten, würde ein Daueraufenthalt zu einer erheblichen
Belastung der Allgemeinheit führen, weil die Mittel zur Bestreitung des
Lebensunterhaltes von den örtlichen Sozialhilfeträgern und somit von der Allgemeinheit
aufgebracht werden müßten. Ein der objektiven Rechtslage nicht entsprechender
Aufnahmebescheid könne zudem eine Störung des sozialen Friedens zur Folge haben.
Das Vertrauen des Klägers auf den Bestand des Aufnahmebescheides habe kein
Gewicht, weil die Rechtswidrigkeit auf unzutreffenden Angaben zur Mutter- und
Umgangssprache in der Familie im Übernahmeantrag beruhten.
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Am 30. Juni 1992 hat der Kläger Klage erhoben. Er hat sein Vorbringen im
Verwaltungsverfahren wiederholt und weiter ausgeführt: Es möge zutreffen, daß seine
deutschen Sprachkenntnisse mangelhaft seien. Aufgrund des Umfeldes in Rumänien
könne er aber über ordentliche deutsche Sprachkenntnisse gar nicht verfügen. Er werde
recht schnell die deutsche Sprache erlernen. In einem Internat habe er lediglich 1989 für
nur vier Monate gelebt.
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Der Kläger hat beantragt,
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den Bescheid des Bundesverwaltungsamtes vom 12. November 1991 in der Fassung
des Widerspruchsbescheides vom 1. Juni 1992 aufzuheben.
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Die Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie hat ihre Auffassung wiederholt und vertieft, daß der Kläger kein deutscher
Volkszugehöriger ist.
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Der Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.
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Das Verwaltungsgericht hat die Klage durch das angefochtene Urteil abgewiesen, auf
das Bezug genommen wird.
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Gegen das am 8. November 1994 zugestellte Urteil hat der Kläger mit Schriftsatz vom 6.
Dezember 1994, beim Verwaltungsgericht eingegangen am 12. Dezember 1994,
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Berufung eingelegt. Auf einen entsprechenden Hinweis des Senats hat er
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt und u.a. unter Vorlage zweier
eidesstattlicher Versicherungen des damaligen Prozeßbevollmächtigten und einer
Mitarbeiterin von dessen Anwaltsbüro vorgetragen, der Berufungsschriftsatz sei am 6.
Dezember 1994 zur Post gegeben worden. Zur Begründung seiner Berufung trägt der
Kläger vor: Er sei deutscher Volkszugehöriger. Aufgrund der besonderen Verhältnisse in
T. könne ihm seine Unkenntnis der deutschen Sprache nicht entgegengehalten werden.
Er beherrsche Deutsch muttersprachlich in Form des sathmar-schwäbischen Dialekts.
Bei der Vorsprache in S. habe er Probleme gehabt, mit dem Hochdeutsch der dortigen
Sachbearbeiter zurechtzukommen. Falsche Angaben würden ihm zu Unrecht
vorgehalten.
Der Kläger legt ferner (zum Teil erneute) Aussagen von K. C. , F. T. und Q. X. vor.
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Der Kläger beantragt,
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das angefochtene Urteil zu ändern und den Bescheid der Beklagten vom 12. November
1991 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 1. Juni 1992 aufzuheben.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Sie vertritt weiterhin die Auffassung, daß der Kläger kein deutscher Volkszugehöriger
ist.
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Der Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte
und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten (2 Hefte) Bezug
genommen.
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Entscheidungsgründe:
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Die Berufung ist zulässig. Zwar hat der Kläger die einmonatige Berufungsfrist (vgl. § 124
Abs. 2 Satz 1 VwGO in der bis zum 31. Dezember 1996 geltenden Fassung, die hier
gemäß Artikel 10 Abs. 1 des Sechsten Gesetzes zur Änderung der
Verwaltungsgerichtsordnung und anderer Gesetze vom 1. November 1996 (BGBl. I S.
1626) maßgebend ist) nicht eingehalten, weil die Berufung gegen das am 8. November
1994 zugestellte Urteil erst am 12. Dezember 1994 beim Verwaltungsgericht
eingegangen ist. Dem Kläger ist auf seinen Antrag jedoch Wiedereinsetzung in den
vorigen Stand gemäß § 125 Abs. 1 iVm § 60 VwGO zu gewähren, weil er glaubhaft
gemacht hat, daß er ohne Verschulden verhindert war, die Berufungsfrist einzuhalten.
Nach seinem ausreichend glaubhaft gemachten Vortrag ist die Berufungsschrift am 6.
Dezember 1994 zur Post gegeben worden. Mit einer Postlaufzeit von mehr als zwei
Tagen brauchte der Kläger nicht zu rechnen.
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Vgl. Kopp, VwGO, 10. Auflage 1994, § 60 Rn. 10 mit zahlreichen Nachweisen.
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Die Berufung ist auch begründet. Der Bescheid des Bundesverwaltungsamtes vom 12.
November 1991 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 1. Juni 1992 ist
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rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.
Rechtsgrundlage für die Rücknahme des Aufnahmebescheides ist allein § 48 Abs. 1
Satz 1 VwVfG, weil § 18 BVFG in der bis zum 31. Dezember 1992 geltenden Fassung
bereits nach seinem Wortlaut allein den Fall der Einziehung eines
Vertriebenenausweises und nicht auch eines Aufnahmebescheides regelt. Nach dieser
Vorschrift kann ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar
geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit
zurückgenommen werden. Der Senat braucht nicht abschließend zu entscheiden, ob
der dem Kläger erteilte Aufnahmebescheid vom 2. August 1991 rechtswidrig ist, weil der
Kläger kein deutscher Volkszugehöriger ist, wofür nach dem Akteninhalt manches
spricht. Selbst wenn dies zu Lasten des Klägers unterstellt wird, ist die
Rücknahmeentscheidung rechtswidrig, weil die Beklagte von dem ihr eingeräumten
Rücknahmeermessen nicht fehlerfrei Gebrauch gemacht hat.
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Ist die Behörde ermächtigt, nach ihrem Ermessen zu handeln, hat sie gemäß § 40
VwVfG ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die
gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten. Hierzu gehört unter anderem, daß
die Behörde alle Ergebnisse ihrer Sachverhaltsermittlungen und alle sonst
einschlägigen wesentlichen Gesichtspunkte berücksichtigt und nicht von unzutreffenden
tatsächlichen oder rechtlichen Voraussetzungen ausgeht.
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Vgl. Kopp, VwVfG, 6. Auflage 1996, § 40 Rdnr. 31.
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Maßgeblich sind dabei auch die Bestimmungen und der Zweck des Fachgesetzes, das
die Ermächtigung für die zurückgenommene Entscheidung enthält.
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Vgl. Kopp, aaO, § 48 Rdnr. 35.
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Diesen Maßstäben genügen die angefochtenen Bescheide nicht, weil das
Bundesverwaltungsamt mehrere wesentliche Gesichtspunkte nicht berücksichtigt hat
und teilweise von unzutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen ausgegangen ist.
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Zunächst geht das Bundesverwaltungsamt in den angefochtenen Bescheiden davon
aus, daß unzutreffende Angaben des Klägers zur Mutter- und Umgangssprache zur
Erteilung des Aufnahmebescheides geführt hätten. Das trifft jedoch nicht zu, wie der
Ablauf des Verfahrens zeigt: Die diesbezüglichen Angaben des Klägers im
Übernahmeantrag sind nicht eindeutig, sondern unklar und zumindest mehrdeutig. Laut
Blatt 2 des Formblattes D 1 des Übernahmeantrags ist seine Muttersprache Deutsch; im
"Ergänzungsblatt zum Antrag auf Übernahme", das gleichzeitig eingereicht wurde, findet
sich jedoch die Angabe, seine Muttersprache sei Schwäbisch-Ungarisch. Auch als
jetzige Umgangssprache ist Schwäbisch-Ungarisch angegeben. Das
Bundesverwaltungsamt konnte aufgrund dieser Angaben nicht davon ausgehen, daß
der Kläger die deutsche bzw. schwäbische Sprache überwiegend benutzte, zumal er
nur Schulen mit ungarischer und rumänischer Unterrichtssprache besucht hatte und
aufgrund des Schulbesuchs in T. seit 1985, als er 15 Jahre alt war, nicht mehr zu Hause
gewohnt haben konnte. Dies hat offenbar auch das Landratsamt C. so gesehen, das den
Antrag entgegennahm. Denn es bat die zuständige Heimatauskunftsstelle um
Anhaltspunkte oder Unterlagen, "die auf die deutsche Abstammung bzw. das
Bekenntnis zum deutschen Volkstum schließen lassen". Nachdem sich die
Heimatauskunftsstelle positiv geäußert hatte, erteilte das Bundesverwaltungsamt den
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Aufnahmebescheid, ohne weitere Ermittlungen anzustellen. Dem ist zu entnehmen, daß
das Bundesverwaltungsamt bei dieser Entscheidung nicht nur auf die nicht näher
dargelegten und nicht nachgewiesenen Sprachkenntnisse des Klägers abgestellt,
sondern (auch) andere Gesichtspunkte, insbesondere die positive Äußerung der
Heimatauskunftsstelle, berücksichtigt hat, zumal sich weder aus den Erklärungen der
sieben Auskunftspersonen noch aus der Äußerung der Heimatauskunftsstelle ergab,
daß der Kläger über deutsche oder schwäbische Sprachkenntnisse verfügen könnte.
Des weiteren hat das Bundesverwaltungsamt nicht berücksichtigt, daß die von ihm
zugrundegelegten Maßstäbe für die Erteilung des Aufnahmebescheides und die
Rücknahmeentscheidungen unterschiedlich sind. Bei der Rücknahme des
Aufnahmebescheides ging das Bundesverwaltungsamt davon aus, daß in erster Linie
die deutschen bzw. schwäbischen Sprachkenntnisse für die Prüfung der deutschen
Volkszugehörigkeit entscheidend seien. Das ergibt sich aus der Bezugnahme auf die
einschlägige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur
Bekenntnisüberlieferung auf Spätgeborene, die der Benutzung der deutschen Sprache
als Muttersprache oder bevorzugte Umgangssprache "ganz entscheidende Bedeutung"
beimesse. Dieses Kriterium hat jedoch bei der Erteilung des Aufnahmebescheides
ersichtlich keine entscheidende Rolle gespielt, weil die Angaben des Klägers zur
Sprache nicht erkennen lassen, ob Deutsch seine Muttersprache oder seine bevorzugte
Umgangssprache war. Es kommt hinzu, daß die wesentliche Frage nach dem für den
Sprachgebrauch entscheidenden Zeitpunkt, der nach der Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts beim Eintritt der Selbständigkeit liegt,
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vgl. grundlegend BVerwG, Urteil vom 15. Mai 1990 - 9 C 51.89 - Buchholz 412.3 § 6
BVFG Nr. 64,
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im Übernahmeantrag gar nicht gestellt worden war. Im Rahmen seiner
Ermessensentscheidung hätte das Bundesverwaltungsamt daher berücksichtigen
müssen, daß der Aufnahmebescheid jedenfalls auch aufgrund anderer und
großzügigerer Maßstäbe erteilt wurde als nunmehr der Rücknahmeentscheidung
zugrundeliegen. Dies gilt um so mehr, als der Kläger nach Erteilung des
Aufnahmebescheides - dem Zweck des Aufnahmeverfahrens nach dem
Bundesvertriebenengesetz entsprechend - seine gesamte Existenz in Rumänien
aufgegeben hat, um nach Deutschland überzusiedeln. Es kann nicht Zweck des
Aufnahmeverfahrens sein, den Aufnahmebewerbern zunächst unter Anwendung relativ
großzügiger Maßstäbe und ohne vertiefte Ermittlungen einen Aufnahmebescheid zu
erteilen, sie dadurch zu einer einschneidenden und nicht ohne weiteres zu
revidierenden Änderung ihrer gesamten Lebensführung zu veranlassen, um dann den
Aufnahmebescheid unter Anlegung strengerer Maßstäbe zu überprüfen.
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Schließlich hat das Bundesverwaltungsamt nicht berücksichtigt, daß in unmittelbarem
zeitlichen Zusammenhang mit der Stellung des Übernahmeantrags eine
Rechtsänderung vor allem hinsichtlich des Übernahme- bzw. Aufnahmeverfahrens
eingetreten ist. Während der Übernahmeantrag auf dem vom Kläger verwendeten
Formular ursprünglich nicht zwingend von jedem Vertriebenen zu stellen war und
lediglich als Entscheidungsgrundlage für eine ausländerrechtliche Einreiseerlaubnis für
Vertriebene diente, deren Vertriebeneneigenschaft umfassend erstmalig bei der
Registrierung nach ihrer Einreise in die Bundesrepublik Deutschland geprüft wurde, ist
seit dem 1. Juli 1990 nach Inkrafttreten des Gesetzes zur Regelung des
Aufnahmeverfahrens für Aussiedler (Aussiedleraufnahmegesetz) vom 28. Juni 1990
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(BGBl. I S. 1247) die Einreise als Aussiedler nur noch mit einem Aufnahmebescheid
nach Abschluß eines Aufnahmeverfahrens möglich, in dem eine vorläufige Prüfung der
Vertriebeneneigenschaft des Aufnahmebewerbers bereits im Herkunftsgebiet stattfindet.
Mit dieser Neuregelung der Aufnahme ist deshalb auch eine Änderung der
verfahrensrechtlichen Anforderungen an die Prüfung der Vertriebeneneigenschaft der
Aufnahmebewerber verbunden. Dies kommt etwa dadurch zum Ausdruck, daß das vom
Bundesverwaltungsamt im Aufnahmeverfahren verwendete Antragsformular im
Verhältnis zum Antragsformular für den Übernahmeantrag erheblich umfangreicher ist
und unter anderem differenziertere Fragen zur deutschen Volkszugehörigkeit,
insbesondere zur Sprache und zur Pflege des deutschen Volkstums enthält. Vor diesem
Hintergrund hätte der vorliegende Fall dem Bundesverwaltungsamt Veranlassung
geben können, nach Stellung des Antrags auf den "alten" Übernahmeformularen im
März 1990 vor der Erteilung des Aufnahmebescheides nach neuem Recht im August
1991 weitere Ermittlungen hinsichtlich der Volkszugehörigkeit des Klägers anzustellen,
weil er die Fragen zu seinen deutschen Sprachkenntnissen nicht eindeutig und die
Frage nach der Teilnahme an Einrichtungen der deutschen Volksgruppe im Heimatland
überhaupt nicht beantwortet hatte. Daß das Bundesverwaltungsamt solche Ermittlungen
nicht anstellte und dem Kläger gleichwohl einen Aufnahmebescheid auf der Grundlage
eines vergleichsweise wenige Angaben enthaltenden Übernahmeantrages erteilte,
hätte es bei seiner Ermessensentscheidung über die Rücknahme dieses
Aufnahmebescheides wegen falscher Angaben im Übernahmeantrag zugunsten des
Klägers berücksichtigen müssen.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 und 162 Abs. 3 VwGO. Die
Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergeht gemäß § 167 VwGO iVm §§
708 Nr. 10, 711 ZPO.
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Die Revision ist nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO
nicht vorliegen.
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