Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 11.09.2000

OVG NRW: anbau, grundstück, vermessung, erlass, abbruchverfügung, form, vertreter, gebäude, kontrolle, protokollierung

Oberverwaltungsgericht NRW, 10 B 939/00
Datum:
11.09.2000
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
10. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
10 B 939/00
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, 5 L 968/00
Tenor:
Der angefochtene Beschluss wird geändert.
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung
verpflichtet, dem Beigeladenen durch sofort vollziehbare und mit
Zwangsgeldandrohung zu versehende Bauordnungsverfügung die
Stilllegung der Arbeiten zur Errichtung eines rückwärtigen Anbaus an
das Haus M. straße 11 in E. (Gemarkung R. Flur 4 Flurstücke 329, 330)
aufzugeben.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge.
Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen sind nicht
erstattungsfähig.
Der Streitwert wird unter Änderung der erstinstanzlichen Wertfestsetzung
für beide Rechtszüge auf jeweils 7.500,- DM festgesetzt.
G r ü n d e :
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Die zulässige Beschwerde ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat die Gewährung
vorläufigen Rechtsschutzes zu Unrecht abgelehnt.
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I. Zwar ist mit dem Verwaltungsgericht davon auszugehen, dass der gemäß § 80 Abs. 5
i.V.m. § 80 a Abs. 3 VwGO statthafte Antrag der Antragstellerin auf Anordnung der
aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs vom 14. April 2000 gegen die dem
Beigeladenen erteilte Baugenehmigung des Antragsgegners vom 31. Au-gust 1999
keinen Erfolg haben kann, weil der Beigeladene von der angefochtenen
Baugenehmigung keinen Gebrauch gemacht, sondern ein anderes als das genehmigte
Vorhaben errichtet hat ("aliud"). Infolge dessen ging der Antrag auf Aussetzung der
Vollziehung der Baugenehmigung vom 31. August 1999 ins Leere. Der von dem
Beigeladenen errichtete Anbau mit Dachterrasse weicht von den zur Baugenehmigung
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vom 31. August 1999 gehörigen, mit Genehmigungsvermerk versehenen Bauvorlagen
ab. Das Vorhaben hält nicht den im Lageplan eingezeichneten Grenzabstand von 3 m,
sondern - aus-weislich einer von dem Antragsgegner durchgeführten Vermessung
(Vermessungsprotokoll vom 15. Juni 2000) - lediglich einen solchen von 2,60 m bis 2,62
m ein. Des Weiteren weist der Anbau einen nach den genehmigten Bauvorlagen nicht
genehmigten Dachüberstand in Richtung auf das Grundstück der Antragstellerin von ca.
0,65 m (einschließlich Traufe) auf. Schließlich hat der errichtete Anbau in der dem
Grundstück der Antragstellerin zugewandten Außenwand ein in den Bauvorlagen nicht
eingezeichnetes Fenster erhalten. Angesichts dieser erheblichen Abweichungen kann
offen bleiben, ob und ggf. inwieweit der errichtete Anbau hinsichtlich seiner Höhe von
den genehmigten Bauvorlagen abweicht.
II. Das Verwaltungsgericht hat aber den weiter gestellten Antrag der Antragstellerin,
"vergleichbaren vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren", zu Unrecht abgelehnt. Dieser
Antrag ist dahin auszulegen, dass die Antragstellerin den Erlass einer einstweiligen
Anordnung gemäß § 123 Abs. 1 VwGO begehrt, durch die dem Antragsgegner
aufgegeben wird, dem Beigeladenen die Fortführung der Bauarbeiten zu untersagen.
Der Antrag ist zulässig (1.) und begründet (2.). Die Antragstellerin hat einen
Anordnungsanspruch (a), dessen Geltendmachung nicht wegen einer zuvor gegebenen
Nachbarzustimmung ausgeschlossen ist (b), und einen Anordnungsgrund (c) glaubhaft
gemacht.
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1. Der Antragstellerin fehlt nicht das Rechtsschutzbedürfnis für ihren Antrag. Zwar ist
das Vorhaben weitgehend vollendet; lediglich im Bereich der Dachterrasse und des
Gebäudeinneren sind noch Arbeiten auszuführen. Die Antragstellerin wehrt sich aber
nicht nur gegen die aus der Errichtung des Gebäudes als solchen herrührenden
Beeinträchtigungen, sondern auch gegen die aus der bevorstehenden Nutzung zu
erwartenden nachteiligen Auswirkungen.
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Vgl. zum Rechtsschutzinteresse bei geltend gemachter Beeinträchtigung von
Nachbarrechten (auch) durch die Nutzung des Vorhabens, OVG NRW, Beschlüsse vom
30. Dezember 1999 - 10 B 1342/99 - und 6. April 2000 - 10 B 409/00 -.
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2. a) Die Antragstellerin hat das Bestehen eines Anordnungsanspruchs glaubhaft
gemacht. Sie hat nachvollziehbar dargelegt, dass der von dem Beigeladenen errichtete
Anbau sie in ihren Nachbarrechten verletzt. Die Richtigkeit ihrer Ausführungen ist durch
die Erkenntnisse aus dem Ortstermin, den der Berichterstatter zweiter Instanz
durchgeführt hat, sowie durch die von dem Senat durchgeführte Auswertung der
Baupläne und des Vermessungsprotokolls bestätigt worden. Die dem Grundstück der
Antragstellerin zugewandte nordöstliche Außenwand des Anbaus hält nicht die gemäß
§ 6 Abs. 5 BauO NRW erforderliche Mindesttiefe der Abstandfläche von 3,0 m, sondern
lediglich eine solche von 2,60 m bis 2,62 m ein (vgl. Vermessungsprotokoll vom 15. Juni
2000). Der errichtete Anbau verstößt ferner mit seinem Dachüberstand an der dem
Grundstück der Antragstellerin zugewandten Außenwand - der Dachüberstand beträgt
nach der im Ortstermin zweiter Instanz vorgenommenen Vermessung 0,65 m
(Dachüberstand 0,48 m zuzüglich Traufe 0,17 m) - gegen § 6 Abs. 7 BauO NRW. Zwar
bleiben nach dieser Vorschrift Dachvorsprünge, wenn sie nicht mehr als 1,50 m
vortreten, bei der Bemessung der Tiefe der Abstandflächen außer Betracht. Sie müssen
aber nach dem Gesetzeswortlaut von gegenüberliegenden Nachbargrenzen mindestens
2,0 m entfernt bleiben. Da die Außenwand zwischen 2,60 m und 2,62 m von der
Grundstücksgrenze der Antragstellerin entfernt liegt, nähert sich der 0,65 m tiefe
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Dachüberstand dieser Grenze auf 1,95 m bis 1,97 m und hält damit den Mindestabstand
nicht ein.
b) Eine Berufung auf die Verletzung ihrer Nachbarrechte ist der Antragstellerin nicht
deshalb verwehrt, weil sie unter dem 2. Juli 1999 ihre Zustimmung zu dem seinerzeit
geplanten Bauvorhaben des Beigeladenen erteilt hat. Denn die in der Zustimmung
enthaltene Bedingung, dass der Beigeladene sich "an den Bauplan der Firma H. " hält,
ist nicht eingetreten.
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Es kann dahinstehen, ob bereits der Umstand, dass der Beigeladene andere als die der
Nachbarzustimmung zugrunde liegende Bauvorlagen zum Gegenstand des
Baugenehmigungsverfahrens gemacht hat, zum Wegfall der Zustimmung geführt hat.
Jedenfalls ist das tatsächlich errichtete Gebäude (aliud), das der Beigeladene in
Abweichung von den der Nachbarzustimmung zugrunde liegenden Bauplänen
verwirklicht hat, nicht von der gegebenen Zustimmung gedeckt.
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Vgl. zu Bedeutung, Reichweite und Wegfall einer Nachbarzustimmung OVG NRW,
Beschluss vom 30. August 2000 - 10 B 1145/00 -.
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c) Die Antragstellerin hat entgegen den Ausführungen des Verwaltungsgerichts auch
das Bestehen eines Anordnungsgrundes glaubhaft gemacht. Ohne den Erlass der
begehrten einstweiligen Anordnung drohen eine weitere Verfestigung und
Fortschreitung des nachbarrechtswidrigen Bauzustandes sowie unzumutbare
Nachbarrechtsbeeinträchtigungen infolge einer ohne gerichtlichen Rechtsschutz in
Kürze zu erwartenden Nutzungsaufnahme.
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Mit der Gewährung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) unvereinbar ist die
Auffassung des Verwaltungsgerichts, das Bestehen eines Anordnungsgrundes lasse
sich mit der Erwägung verneinen, der Vertreter des Antragsgegners habe während des
erst-instanzlichen Ortstermins vom 30. Mai 2000 klargestellt, dass bauaufsichtlich gegen
den Beigeladenen, ggf. in Form einer Abbruchverfügung, eingeschritten werde, falls die
Einmessung des Gebäudes die Nichteinhaltung der zum Grundstück der Antragstellerin
zu beachtenden Abstandflächen belege. Abgesehen davon, dass sich mangels
Protokollierung nicht einmal der genaue Inhalt dieser Erklärung feststellen lässt, sind
rechtlich unverbindliche Äußerungen eines Vertreters der Bauaufsichtsbehörde nicht
geeignet, der Antragstellerin den Anordnungsgrund abzusprechen. Der weitere Verlauf
der Dinge zeigt zudem, dass der Antragsgegner seine Erklärung offenbar nicht in dem
vom Verwaltungsgericht angenommenen Sinne verstanden, sich jedenfalls aber nicht
daran gebunden gefühlt hat. Obwohl die zwischenzeitlich durchgeführte Vermessung
einen Abstandflächenverstoß des Vorhabens ergeben hat, hat der Antragsgegner sich
unter Verzicht auf den Erlass einer Abbruchverfügung (oder auch nur einer
Stilllegungsverfügung) mit einer Kontrolle der Baustelle und der Versicherung des
Beigeladenen begnügt, dass nicht weiter gebaut werde.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, § 162 Abs. 3 VwGO, die
Streitwertfestsetzung auf § 20 Abs. 3, § 13 Abs. 1 Satz 1 GKG. Der Senat hat den
Streitwert im Hinblick auf die Bedeutung der in Rede stehenden
Nachbarrechtsverletzungen angemessen erhöht, § 25 Abs. 2 Satz 2 GKG.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar.
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