Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 29.03.2006

OVG NRW: bebauungsplan, satzung, abschätzung, zahl, betriebsgebäude, gemeinde, öffentlich, stadt, bekanntmachung, vollzug

Oberverwaltungsgericht NRW, 10 B 1908/05.NE
Datum:
29.03.2006
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
10. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
10 B 1908/05.NE
Tenor:
Der Vollzug der 4. vereinfachten Änderung des Bebauungsplans Nr. 22
"C. Straße West" der Stadt T. wird bis zur Entscheidung über den
Normenkontrollantrag des Antragstellers im Verfahren 10 D 58/05.NE
ausgesetzt.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 10.000,00 Euro festgesetzt.
G r ü n d e :
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Der sinngemäß gestellte Antrag,
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den Vollzug der 4. vereinfachten Änderung des Bebauungsplans Nr. 22 "C. Straße
West" der Stadt T. bis zur Entscheidung über den Normenkontrollantrag des
Antragstellers im Verfahren 10 D 58/05.NE auszusetzen,
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ist zulässig.
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Insbesondere ist der Antragsteller antragsbefugt. Nach § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO kann
den Normenkontrollantrag stellen, wer geltend macht, durch die angegriffene
Rechtsvorschrift oder deren Anwendung in seinen Rechten verletzt zu sein oder in
absehbarer Zeit verletzt zu werden. Diese Anforderungen gelten gleichermaßen für
einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 47 Abs. 6 VwGO.
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Nach dem tatsächlichen Vorbringen des Antragstellers ist es möglich, dass er in dem
ihm zustehenden Recht auf gerechte Abwägung seiner privaten Interessen verletzt wird.
Das in § 1 Abs. 7 BauGB verankerte Abwägungsgebot hat drittschützenden Charakter
hinsichtlich solcher privater Belange, die für die Abwägung erheblich sind und kann
deshalb ein "Recht" im Sinne von § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO sein. Das Interesse des
Antragstellers an einer ungehinderten Ausübung des vorhandenen Kälber- und
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Schweinemastbetriebs im Rahmen der genehmigten Variationsbreite war in die
Abwägung der durch die Änderungsplanung berührten Interessen einzustellen. Die
Ermöglichung von Wohnbebauung etwa 200 m nördlich des Betriebs kann
Nutzungseinschränkungen zum Nachteil des Antragstellers zur Folge haben.
Der Antragsbefugnis steht nicht entgegen, dass auch schon mit dem
Ursprungsbebauungsplan Nr. 22 "C. Straße West" (Bekanntmachung der Genehmigung
am 29. März 1988) für einen Bereich, der weitgehend mit dem hier in Rede stehenden
Plangebiet übereinstimmt, ebenfalls ein allgemeines Wohngebiet festgesetzt worden
war. Zwar kann es an der für die Antragsbefugnis erforderlichen Möglichkeit einer
Rechtsverletzung fehlen, wenn der Bebauungsplan die bisher geltende Rechtslage
hinsichtlich der vom Antragsteller geltend gemachten Rechtsposition unberührt lässt.
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Vgl. dazu OVG NRW, Beschluss vom 29. Oktober 1996 - 10a B 2571/96.NE - und Urteil
vom 7. Februar 1997 - 7a D 93/95.NE -.
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Dies ist hier jedoch bereits deshalb nicht der Fall, weil der Ursprungsbebauungsplan
aller Voraussicht nach unwirksam ist. Das im Osten des Ursprungsbebauungsplans
festgesetzte Mischgebiet ist mit der Einschränkung "zulässig sind nur Vorhaben i.S. des
§ 4 BauNVO" versehen, so dass die allgemeine Zweckbestimmung des Baugebiets als
Mischgebiet (vgl. § 6 BauNVO) nicht mehr gewahrt ist. Der Rat der Antragsgegnerin hat
im Ergebnis die Wirkungen eines anderen Baugebietstypus - hier eines allgemeinen
Wohngebiets - hergestellt, ohne dieses als solches festzusetzen.
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Vgl. BVerwG, Beschluss vom 8. Februar 1999 - 4 BN 1.99 -, BRS 62 Nr. 71, m.w.N.
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Darüber hinaus ist der Ursprungsbebauungsplan unbestimmt und in sich
widersprüchlich. Er stellt in verschiedenen Teilen des Plangebiets insgesamt 22
"geplante Gebäude" dar und trifft für diese gestalterische Festsetzungen zur
Firstrichtung, obwohl sie sich nach den Festsetzungen zu den überbaubaren
Grundstücksflächen jenseits der Baugrenzen befinden.
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Für die Festsetzung "I+D" ("ein Vollgeschoss als Höchstgrenze und Dachgeschoss als
Vollgeschoss im Dachraum zulässig") fehlt es an einer wirksamen
Ermächtigungsgrundlage. Für die Vollgeschosse erlaubt § 16 Abs. 2 Nr. 3 BauNVO
allein die Festsetzung ihrer Zahl. Weitere planerische Festsetzungen sind in diesem
Zusammenhang weder vorgesehen noch angesichts des abschließenden Charakters
der Regelung möglich.
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Vgl. BVerwG, Beschluss vom 5. Juli 1991 - 4 NB 22.91 -, Buchholz 406.12 § 16
BauNVO Nr. 1.
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Anhaltspunkte dafür, dass es sich nicht um eine planungsrechtliche, sondern nur
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um eine rein gestalterische Festsetzung handelt, die ihre Ermächtigungsgrundlage in §
81 Abs. 4 BauO NRW 1984 fände, liegen nicht vor.
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Vgl. dazu OVG NRW, Urteil vom 25. Juni 1998 - 10a D 159/95.NE -, Juris.
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Die dargestellten Mängel führen zur Unwirksamkeit des Ursprungsbebauungsplans
insgesamt.
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Aber selbst für den Fall, dass man den Ursprungsbebauungsplan für wirksam halten
wollte, ist der Antragsteller antragsbefugt, weil der hier zur Überprüfung stehende
Änderungsbebauungsplan die Rechtsposition des Antragstellers nicht unberührt lässt.
Der in der Ursprungsplanung u.a. im Südosten des Plangebiets vorgesehene Streifen
mit einem Pflanzgebot für Bäume und Sträucher entfällt. Das allgemeine Wohngebiet
rückt in diesem Bereich um etwa 5 m und die überbaubare Grundstücksfläche um etwa
10 m weiter nach Süden an die Betriebsgebäude des Antragstellers heran.
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Der Antragsbefugnis steht schließlich nicht entgegen, dass sich südlich des Plangebiets
auf den Flurstücken 96 und 452 der Flur 4 der Gemarkung P. nach Angaben der
Antragsgegnerin bereits seit 1949 bzw. 1946 zwei Wohngebäude befinden. Denn diese
Bebauung liegt nicht in einem festgesetzten allgemeinen Wohngebiet, sondern im
Außenbereich, so dass ihr nur ein verminderter Schutzanspruch gegenüber dem im
Außenbereich privilegiert zulässigen landwirtschaftlichen Betrieb des Antragstellers
zukommt.
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Der Antrag ist auch begründet.
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Gemäß § 47 Abs. 6 VwGO kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung
erlassen, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen
Gründen dringend geboten ist. Die Entscheidung über den Antrag nach § 47 Abs. 6
VwGO setzt eine Gewichtung der widerstreitenden Interessen voraus, bei der
insbesondere auf die Folgen für den Antragsteller abzustellen ist, die einträten, wenn
die einstweilige Anordnung nicht erginge, der Normenkontrollantrag in der Hauptsache
jedoch Erfolg hätte.
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Nach diesen Maßstäben ist es dringend geboten, die Vollziehung des angegriffenen
Bebauungsplans bis zur Entscheidung über den Normenkontrollantrag im
Hauptsacheverfahren auszusetzen, um schwere Nachteile zu Lasten des Antragstellers
abzuwehren.
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Es besteht die Gefahr, dass der Betrieb des Antragstellers ohne die einstweilige
Anordnung Einschränkungen unterworfen würde, wenn die durch die Planung
ermöglichte Wohnbebauung bis zur rechtskräftigen Entscheidung des
Normenkontrollhauptsacheverfahrens weitgehend fertiggestellt würde und insbesondere
die den Betriebsgebäuden am nächsten gelegenen Wohnhäuser im südöstlichen
Planbereich Geruchsemissionen des Betriebs ausgesetzt wären, die den Begriff der
schädlichen Umwelteinwirkungen gemäß § 3 Abs. 1 BImSchG erfüllen. In einem
solchen Fall könnte die zuständige Behörde - unabhängig davon, ob es sich um einen
nach dem BImSchG genehmigungsbedürftigen Betrieb handelt oder nicht - entweder
nach § 17 Abs. 1 BImSchG oder nach § 24 Satz 1 BImSchG die erforderlichen
Anordnungen nachträglich treffen und den Betrieb einschränken.
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Es ist in keiner Weise gesichert, dass der Antragsteller mit entsprechenden
nachträglichen Auflagen und Anordnungen nicht rechnen müsste. Der Rat hat keine
prognostische Abschätzung der zu erwartenden Immissionen vorgenommen, denn er ist
von der Wirksamkeit des Ursprungsbebauungsplans ausgegangen. Er meint daher zu
Unrecht, es bedürfe keiner immissionsschutzrechtlichen Betrachtung der
Geruchssituation, weil eine Ausweitung der Wohnsiedlungsfläche nicht vorgesehen sei
und die aus der Rechts- und Bestandskraft der Ursprungsplanung erwachsene
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Rechtsposition nicht aufgegeben werde (vgl. Punkt B3 der Abwägung der Anregungen
der beteiligten Träger öffentlicher Belange und der Bürgerbeteiligung sowie Ziffer 6. der
Planbegründung). Dass aber jedenfalls für den südöstlichen Planbereich mit
Nutzungskonflikten zu rechnen ist, ergibt sich bereits aus dem vom Antragsteller
überreichten, im Rahmen der Bauleitplanung zur Ergänzung und Erweiterung des
Baugebiets Nr. 16 "C. Straße Ost" erstellten Geruchsgutachten des
Sachverständigenbüros V. + Partner vom 27. Januar 1999. Für den Bereich um den
landwirtschaftlichen Betrieb W. , der unmittelbar südöstlich an das Plangebiet angrenzt,
wurde ein Immissionswert von 0,51 ermittelt. Der in der Tabelle 1 der Nr. 3.1 der
Geruchsimmissions-Richtlinie (GIRL) genannte Immissionswert von 0,10 für
Wohngebiete - dieser beschreibt die Geruchshäufigkeit, indem er prozentual die Zahl
der Jahresstunden angibt, in denen es zu Geruchswahrnehmungen auf den jeweiligen
Beurteilungsflächen kommt - wird damit in unmittelbarer Nähe zum Plangebiet erheblich
überschritten.
Nichts anderes gilt für den Fall, dass man - entgegen den oben dargestellten
Unwirksamkeitsgründen - von der Wirksamkeit des Ursprungsbebauungsplans
ausgehen wollte. Auch insoweit hätte es einer Immissionsabschätzung im Hinblick auf
das näher an die Betriebsgebäude des Antragstellers heranrückende allgemeine
Wohngebiet bzw. die dort festgesetzten Baufenster bedurft. Dass eine Ausdehnung des
Plangebiets nach Süden bzw. Südosten "eine vollständig neue
immissionsschutzrechtliche Betrachtung der Geruchssituation nach sich ziehen würde",
nimmt auch der Rat der Antragsgegnerin selbst an (vgl. Ziffer 1. der Sitzungsvorlage zur
Ratssitzung am 20. April 2005, Vorlagen-Nr. 80079).
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Nach allem überwiegt das Aussetzungsinteresse des Antragstellers das Interesse der
Eigentümer der im Plangebiet gelegenen Grundstücke, von den ihnen durch den
Bebauungsplan eingeräumten Bebauungsmöglichkeiten noch vor der rechtskräftigen
Entscheidung im Normenkontrollhauptsacheverfahren Gebrauch machen zu können.
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Unabhängig von einer möglichen Außervollzugsetzung wegen drohender schwerer
Nachteile für den Antragsteller können Gesichtspunkte, die für die Unwirksamkeit des
Bebauungsplans vorgebracht werden, nach der Rechtsprechung der mit
Normenkontrollverfahren befassten Senate des beschließenden Gerichts dann eine
einstweilige Anordnung gemäß § 47 Abs. 6 VwGO rechtfertigen, wenn der
Normenkontrollantrag auf Grund dieser Gesichtspunkte im Hauptsacheverfahren
offensichtlich Erfolg haben wird.
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Der angegriffene Bebauungsplan ist wegen formeller Fehler offensichtlich unwirksam,
weil er nicht ordnungsgemäß ausgefertigt ist. Durch die Ausfertigung des als Satzung
und damit als Rechtsnorm beschlossenen Bebauungsplans soll sichergestellt werden,
dass der Inhalt des Plans mit dem Willen des gemeindlichen Beschlussorgans
übereinstimmt, wobei das Bundesrecht offen lässt, welche Anforderungen an eine
solche Ausfertigung zu stellen sind.
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Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 9. Mai 1996 - 4 B 60.96 -, BRS 58 Nr. 41 und vom 27.
Januar 1999 - 4 B 129.98 -, BRS 62 Nr. 29.
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Für das nordrhein-westfälische Landesrecht ist in der Rechtsprechung der
Normenkontrollsenate des erkennenden Gerichts geklärt, dass es für die Ausfertigung
von Bebauungsplänen ausreichend, aber auch erforderlich ist, wenn eine
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Originalurkunde geschaffen wird, auf welcher der Bürgermeister als Vorsitzender des
Rates - das zuständige Beschlussorgan der Gemeinde - zeitlich nach dem
Ratsbeschluss und vor der Verkündung der Satzung schriftlich bestätigt, dass der Rat
an einem näher bezeichneten Tag diesen Bebauungsplan als Satzung beschlossen hat.
Vgl. OVG NRW, Urteile vom 10. Dezember 2004 - 10a D 133/02.NE - und vom 16.
September 2005 - 7 D 62/04.NE - jeweils m.w.N.
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Danach liegt keine ordnungsgemäße Ausfertigung der 4. vereinfachten Änderung des
Bebauungsplans Nr. 22 "C. Straße West" vor. Dieser ist bereits am 21. April 2004
öffentlich bekannt gemacht worden, die Ausfertigung datiert jedoch erst vom 11. Mai
2005. Dieser Mangel könnte allerdings durch eine erneute Bekanntmachung des
Bebauungsplans nachträglich geheilt werden.
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Der Bebauungsplan weist aber zudem materielle Fehler auf, weil er mit
Abwägungsfehlern behaftet ist.
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Nach § 1 Abs. 7 BauGB sind bei der Aufstellung von Bebauungsplänen die öffentlichen
und privaten Belange gegen- und untereinander gerecht abzuwägen. Das
Abwägungsgebot ist verletzt, wenn eine sachgerechte Abwägung überhaupt nicht
stattfindet, wenn in die Abwägung der Belange nicht eingestellt wird, was nach Lage der
Dinge in sie eingestellt werden muss, wenn die Bedeutung der betroffenen Belange
verkannt oder wenn der Ausgleich zwischen den von der Planung berührten Belangen
in einer Weise vorgenommen wird, die zur objektiven Gewichtigkeit einzelner Belange
außer Verhältnis steht. Innerhalb des so gezogenen Rahmens ist dem
Abwägungserfordernis jedoch genügt, wenn sich die zur Planung berufene Gemeinde
im Widerstreit der verschiedenen Belange für die Bevorzugung des einen und damit
notwendigerweise für die Zurückstellung des anderen Belangs entscheidet.
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Hinsichtlich der erforderlichen Bewältigung der Konfliktlage zwischen dem
landwirtschaftlichen Betrieb des Antragstellers und der mit der Planung ermöglichten
Wohnbebauung liegt ein vollständiger Abwägungsausfall vor. Angesichts der
Unwirksamkeit des Ursprungsbebauungsplans hätte es einer neuen bzw. hinsichtlich
des Betriebs des Antragstellers einer erstmaligen Abschätzung der Immissionssituation
bedurft, zumal die Antragsgegnerin - wie oben bereits ausgeführt - für den unmittelbar
südwestlich an das Plangebiet angrenzenden Bereich eine deutliche Überschreitung
der Immissionswerte der GIRL festgestellt hatte.
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Auch für den Fall, dass man von der Wirksamkeit des Ursprungsbebauungsplans
ausgehen wollte, liegt ein teilweiser Abwägungsausfall vor. Der Rat der
Antragsgegnerin hat nicht erkannt und infolgedessen auch nicht in seiner
Abwägungsentscheidung berücksichtigt, dass das allgemeine Wohngebiet und die
festgesetzten Baufenster näher an den Betrieb des Antragstellers heranrücken.
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Die Abwägung ist ferner fehlerhaft, weil die Antragsgegnerin das Plangebiet
insbesondere im westlichen Bereich verkleinert und damit den Grundstückseigentümern
die durch die Ursprungsplanung verliehenen Baurechte wieder entzieht. Die dadurch
berührten und durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützten Eigentumsbelange - diese gehören
selbstverständlich und in hervorgehobener Weise zu den abwägungserheblichen
Belangen öffentlich-rechtlicher Planungsentscheidungen - hat sie nicht in ihre
Abwägungsentscheidung eingestellt.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 52 Abs. 1, 53 Abs. 3 Nr. 2 VwGO.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).
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