Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 10.12.2010

OVG NRW (bundesrepublik deutschland, aufschiebende wirkung, aufenthaltserlaubnis, annahme, aufenthalt, ausweisungsgrund, verurteilung, prüfung, strafbefehl, verlängerung)

Oberverwaltungsgericht NRW, 18 B 1598/10
Datum:
10.12.2010
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
18. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
18 B 1598/10
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Köln, 5 L 1318/10
Schlagworte:
Ausweisungsgrund Aufenthaltserlaubnis
Normen:
AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 2
Leitsätze:
Die Prüfung von Ausweisungsgründen (§ 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) im
Verfahren um die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis dient dem Zweck,
gegenwärtig bzw. in absehbarer Zukunft zu befürchtende
Beeinträchtigungen der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung oder
sonstiger erheblicher Interessen der Bundesrepublik Deutschland im
Sinne von § 55 Abs. 1 AufenthG abzuwenden. Ein in der Vergangenheit
liegendes Fehlverhalten kann, weil es um die Erlaubnis für einen
zukünftigen Aufenthalt geht, daher nur herangezogen werden, wenn es
noch hinreichend aktuell ist.
Tenor:
Der angefochtene Beschluss wird geändert.
Die aufschiebende Wirkung der Klage 5 K 5578/10 gegen den Bescheid
des Antragsgegners vom 31. August 2010 wird angeordnet.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 2.500 Euro
festgesetzt.
G r ü n d e :
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Die Beschwerde hat Erfolg. Die geltend gemachten Gründe geben Anlass den
angefochtenen Beschluss zu ändern (§ 146 Abs. 6 Satz 6 VwGO).
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Die gemäß § 80 Abs. 5 VwGO zu treffende Abwägung des öffentlichen Interesses an der
sofortigen Vollziehung des angefochtenen Bescheides mit dem Interesse der
Antragstellerin an der Aussetzung der Vollziehung fällt zu Gunsten der Antragstellerin
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aus. Es bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen
Verfügung, mit der der Antragsgegner die Verlängerung der begehrten
Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke des Studiums wegen des Vorliegens eines
Ausweisungsgrundes (§ 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) - andere Versagungsgründe sind
gegenwärtig nicht ersichtlich - versagt und der Antragstellerin die Abschiebung in den
Iran angedroht hat.
Die Prüfung von Ausweisungsgründen im Verfahren um die Erteilung einer
Aufenthaltserlaubnis dient dem Zweck, gegenwärtig bzw. in absehbarer Zukunft zu
befürchtende Beeinträchtigungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung oder
sonstiger erheblicher Interessen der Bundesrepublik Deutschland im Sinne von § 55
Abs. 1 AufenthG abzuwenden. Ein in der Vergangenheit liegendes Fehlverhalten kann,
weil es um die Aufenthaltserlaubnis für einen zukünftigen Aufenthalt geht, daher nur
herangezogen werden, wenn es noch hinreichend aktuell ist.
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Vgl. Senatsbeschluss vom 7. September 2010 - 18 A 2399/09 -; Bay VGH,
Beschluss vom 14. Dezember 2009 - 19 CS 09.2408 -, juris; Bäuerle, GK-
AufenthG, Stand November 2006, § 5 Rdnr. 104; Möller, in: HK-AufenthG,
2008, § 5 Rdnr. 14; Hail-bronner, AuslR, 2008, § 5 Rdnr. 31.
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Ob dies der Fall ist, bestimmt sich nicht nur danach, wie lange die Umstände, auf denen
der Ausweisungsgrund beruht, zurückliegen. Zu berücksichtigen sind insbesondere
auch das Gewicht des Ausweisungsgrundes, die Schwere der strafrechtlichen
Verurteilung, die Dauer des straffreien Aufenthalts im Verhältnis zur
Gesamtaufenthaltsdauer, die Dauer des bisherigen rechtmäßigen Aufenthalts und die
aktuelle persönliche Situation des Betroffenen. Voraussetzung ist insoweit stets, dass
die Gefährdungslage, der mit der Versagung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis
begegnet werden soll, auch tatsächlich und nicht nur theoretisch besteht. Die lediglich
entfernte Möglichkeit weiterer Störungen, etwa weil nicht ausgeschlossen werden kann,
dass der Ausländer sein bisheriges Verhalten wiederholt, kann die Annahme einer
aktuellen Gefährdung nicht tragen.
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Vgl. BayVGH, Beschluss vom 2. November 2010 19 B 10.1941 -, juris.
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Je gewichtiger der Ausweisungsgrund ist, umso weniger strenge Anforderungen sind
jedoch an die Prüfung des weiteren Vorliegens einer aktuellen Gefährdung zu stellen.
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Vgl. Bay.VGH, Beschluss vom 14. Dezember 2009, a.a.O..
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Gemessen hieran kann die durch Strafbefehl vom 11. Januar 2010 erfolgte
strafrechtliche Verurteilung der Antragstellerin wegen eines Ladendiebstahls eine
Versagung der Aufenthaltserlaubnis voraussichtlich nicht rechtfertigen. Es ist
gegenwärtig nicht ersichtlich, dass es sich bei der Tat - die Antragstellerin hat nach der
Sachverhaltsdarstellung im Strafbefehl des Amtsgerichts am 7. Oktober 2009
gemeinsam mit einer Bekannten bei der Fa. L. Parfüm und Kleidungsstücke im Wert
von 369,40 Euro entwendet - nicht lediglich um ein einmaliges Fehlverhalten handelt.
Die Antragstellerin, die sich durch den Besuch von Deutschkursen über Jahre in der
Heimat offensichtlich zielstrebig auf ihren Aufenthalt im Bundesgebiet vorbereitet hat,
hat sich seit ihrer im Jahr 2008 erfolgten Einreise ansonsten nichts zu Schulden
kommen lassen. Angesichts der gravierenden Folgen weiterer strafrechtlicher
Verurteilungen, die den Verlust des Aufenthaltsrechts zur Folge hätten und die die
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Fortführung des im Bundesgebiet begonnen Medizinstudiums voraussichtlich
ausschließen würden, vermag der Senat nicht zu erkennen, dass die Antragstellerin
sich die Verurteilung nicht zur Warnung hat dienen lassen. Auch die Schadenshöhe und
die Umstände der Tatbegehung zwingen nicht ohne Weiteres zu der Annahme, die
Antragstellerin könne erneut Straftaten begehen, wobei offen bleiben kann, ob die
diesbezügliche Darstellung der Antragstellerin im Einzelnen zutrifft. Schließlich
rechtfertigen auch die persönliche Situation und die finanzielle Lage der Antragstellerin
nicht die Annahme, diese werde nochmals strafrechtlich in Erscheinung treten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf §§
47 Abs. 1, 52 Abs. 1 und 2, 53 Abs. 2 GKG.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar.
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