Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 13.02.2004

OVG NRW: wiederkehrende leistung, vorverfahren, gemeinde, widerspruchsverfahren, schenkung, vollstreckung, sozialhilfe, verwaltung, ausnahme, gerichtsakte

Oberverwaltungsgericht NRW, 16 A 2221/02
Datum:
13.02.2004
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
16. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
16 A 2221/02
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Düsseldorf, 13 K 336/98
Tenor:
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens, für das
Gerichtskosten nicht erhoben werden.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der
Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des
beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der
Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
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Im Mai 1995 beantragte die Klägerin beim Sozialamt der Gemeinde T. die Gewährung
von Hilfe zum Lebensunterhalt. Sie gab an, sie habe ihre Erwerbstätigkeit in einem
Altenheim verloren. Arbeitslosengeld habe sie beantragt, sei aber momentan ohne
Einkommen. Den in ihrer Vermögenserklärung vom 23. Mai 1995 aufgeführten PKW
hatte sie zur Vermeidung von Schwierigkeiten bei der Sozialhilfegewährung bereits am
22. Mai 1995 auf Herrn H. I. C. überschrieben. Mit Bescheid vom 28. Juni 1995 lehnte
der Gemeindedirektor der Gemeinde T. den Antrag ab und führte zur Begründung im
Wesentlichen aus: Die Klägerin könne sich selbst helfen, da das Kraftfahrzeug, das sie
kurz vor der Antragstellung Herrn C. überschrieben habe, verwertbares Vermögen sei.
Sie müsse die Schenkung von Herrn C. zurückfordern und das Kfz dann veräußern oder
die Zahlung von Unterhaltsleistungen mit Herrn C. vereinbaren. Wenn die Klägerin
geltend mache, sie sei wegen ihrer Behinderung auf die Benutzung des Fahrzeugs, die
ihr Herr C. ermögliche, angewiesen, so müsse sie sich zum einen entgegen halten
lassen, dass durch die Eigentumsübertragung ein direkter Zugriff auf das Auto nicht
dauerhaft gesichert sei; zum anderen könne sie nach Rückforderung und Veräußerung
des PKW aus dem Erlös ein Kraftfahrzeug mit geringerem Wert anschaffen.
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Hiergegen erhob die Klägerin, vertreten durch ihre Prozessbevollmächtigten,
Widerspruch mit der Begründung: Der Pkw sei kein verwertbares Vermögen. Er sei nach
einem Unfall in einem schlechten Zustand und nur noch 1.000 DM bis 1.500 DM wert.
Sie habe den Pkw Herrn C. auch nur deshalb überschrieben, um Kosten zu vermeiden.
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Nachdem der Prozessbevollmächtigte der Klägerin im Januar 1997 mit der Erhebung
einer Untätigkeitsklage bzw. der Einlegung einer Dienstaufsichtsbeschwerde gedroht
hatte, gab der Beklagte mit Bescheid vom 19. März 1997 dem Widerspruch "insoweit
statt, als eine darlehensweise Hilfegewährung hätte erfolgen müssen". Die
Voraussetzungen für eine Hilfegewährung nach § 15 b BSHG hätten vorgelegen. Der
Bescheid des Gemeindedirektors der Gemeinde T. sei seinerzeit rechtswidrig gewesen.
Im Hinblick darauf, dass die Klägerin seit dem Sommer 1995 nicht mehr auf dem
Sozialamt vorgesprochen habe, der Widerspruch erst im Dezember 1995 begründet
worden sei und von einer rückwirkenden und noch laufenden Bewilligung von
Leistungen des Arbeitsamtes ausgegangen werden müsse, fehle es inzwischen aber an
einer Sozialhilfebedürftigkeit der Klägerin.
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Unter dem 27. März 1997 beantragte die Klägerin, die Hinzuziehung eines
Bevollmächtigten im Vorverfahren gemäß § 63 Abs. 2 SGB X für notwendig zu erklären.
Mit Bescheid vom 29. Dezember 1997 ergänzte der Beklagte unter 2. den
Widerspruchsbescheid vom 19. März 1997 um eine Kostenentscheidung, wonach a) der
Gemeindedirektor T. die Verfahrenskosten trage und b) die Hinzuziehung eines
Rechtsbeistandes nicht notwendig gewesen sei. Zur Begründung führte er im
wesentlichen aus, die Klägerin habe ihren Standpunkt auch im Widerspruchsverfahren
ohne Hilfe eines Rechtskundigen geltend machen können, wie schon ihr
vorangegangenes Verhalten gezeigt habe. Außerdem sei der Vortrag ihrer
Verfahrensbevollmächtigten ohne rechtliche Relevanz gewesen; dem Widerspruch sei
aus anderen Gründen stattgegeben worden.
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Mit ihrer rechtzeitig erhobenen Klage hat die Klägerin geltend gemacht, die
Hinzuziehung ihres Bevollmächtigten im Vorverfahren sei notwendig gewesen; denn die
Zuziehung eines Rechtsanwaltes sei im Regelfall für notwendig zu erachten, da der
Bürger nur ausnahmsweise in der Lage sei, seine Rechte und Interessen gegenüber der
sachlich und personell überlegenen Verwaltung wahrzunehmen.
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Die Klägerin hat schriftsätzlich sinngemäß beantragt,
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den Beklagten unter entsprechender teilweiser Aufhebung seines Bescheides vom 29.
Dezember 1997 zu verpflichten, die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im
Vorverfahren für notwendig zu erklären.
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Der Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,
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die Klage abzuweisen,
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und zur Begründung ergänzend ausgeführt: Es sei zwar das gute Recht des Bürgers,
sich durch einen Rechtsanwalt gegenüber der Verwaltung vertreten zu lassen; dies
müsse allerdings nicht stets für notwendig erachtet werden, da es jedenfalls einem
Sozialhilfeempfänger zumutbar sei, sich zunächst durch Rückfragen bei der Behörde
Klarheit zu verschaffen.
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Das Verwaltungsgericht hat mit dem angefochtenen Urteil der Klage stattgegeben. Auf
die Entscheidungsgründe des Urteils wird Bezug genommen.
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Mit seiner rechtzeitig eingelegten, vom Verwaltungsgericht zugelassenen Berufung trägt
der Beklagte unter Vertiefung seines erstinstanzlichen Vortrags im wesentlichen vor, die
Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren sei nicht notwendig gewesen.
Der Klägerin sei es zumutbar gewesen, das Widerspruchsverfahren ohne anwaltliche
Hilfe zu betreiben.
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Der Beklagte beantragt, das angefochtene Urteil zu ändern und die Klage abzuweisen.
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Die Klägerin beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
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Sie vertritt die Auffassung, ein vernünftiger Bürger mit ihrem Bildungs- und
Erfahrungsstand hätte sich bei der gegebenen Sachlage ebenfalls eines
Rechtsanwaltes bedient. Den richtigen Erwägungen des Verwaltungsgerichts sei nichts
hinzuzufügen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte und des Verwaltungsvorganges des Beklagten Bezug genommen.
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Entscheidungsgründe:
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Die Berufung des Beklagten hat keinen Erfolg. Die Klage ist zulässig und begründet. Mit
ihr wird lediglich um die unter 2. b) des angefochtenen Bescheides vom 29. Dezember
1997 geregelte Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im
Vorverfahren gestritten. Eine der Klägerin günstige Kostengrundentscheidung hat der
Beklagte unter 2. a) des angefochtenen Bescheides vom 29. Dezember 1997 bereits
getroffen, so dass nicht mehr zu prüfen ist, ob und inwieweit der Widerspruch der
Klägerin gegen den Bescheid des Gemeindedirektors der Gemeinde T. vom 28. Juni
1995 erfolgreich gewesen ist.
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Das Verwaltungsgericht hat den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 27.
Dezember 1997 zu Recht verpflichtet, die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das
Widerspruchsverfahren gegen den Bescheid des Gemeindedirektors der Gemeinde T.
vom 28. Juni 1995 für notwendig zu erklären. Die Zuziehung eines Bevollmächtigten im
Widerspruchsverfahren war im Sinne des § 63 Abs. 2 SGB X notwendig. Für die
Beantwortung der Frage, ob die Zuziehung eines Rechtsanwaltes oder eines sonstigen
Bevollmächtigten im Vorverfahren notwendig gewesen ist, sind im Anwendungsbereich
des § 63 Abs. 2 SGB X (ebenso wie in jenem des § 80 VwVfG) die Grundsätze zu
berücksichtigen, die zu der entsprechenden Regelung in § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO
entwickelt worden sind,
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vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 10. April 1978 - 6 C 27.77 -, BVerwGE 55, 299 (306); OVG
NRW, Urteil vom 28. November 1995 - 8 A 5370/94 -, m.w.N.
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Die Notwendigkeit der Zuziehung eines Bevollmächtigten schon im Vorverfahren ist
anzuerkennen, wenn sie unter Würdigung der jeweiligen Verhältnisse vom Standpunkt
einer verständigen Partei für erforderlich gehalten werden durfte und dem Beteiligten
nicht zumutbar war, das Verfahren allein zu führen. Maßgebend ist, ob sich ein
vernünftiger Bürger mit gleichem Bildungs- und Erfahrungsstand bei der gegebenen
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Sach- und Rechtslage eines Rechtsbeistandes bedient hätte. Notwendig ist die
Zuziehung eines Bevollmächtigten nur dann, wenn es dem Beteiligten nach seinen
persönlichen Verhältnissen und wegen der Schwierigkeiten der Sache nicht zuzumuten
war, das Verfahren selbst zu führen.
vgl. BVerwG, Urteil vom 6. Dezember 1963 - VII C 14.63 -, NJW 1964, 686; Urteil vom
14. August 1987 - 8 C 129.84 -, Buchholz 316 § 80 VwVfG Nr. 25, S. 7; Urteil vom 17.
Dezember 2001 - 6 C 19.01 -, Buchholz 448.0 § 20 b WpflG Nr. 3, S. 8; OVG NRW,
Beschluss vom 25. Oktober 1982 - 13 B 3767/82 -, NVwZ 1983, 356; Kopp Schenke,
Verwaltungsgerichtsordnung, 13. Aufl., 2003, § 162 Rn. 18, m.w.N.
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In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist zwischenzeitlich klargestellt
worden, dass für die Auslegung und Anwendung von § 80 Abs. 2 VwVfG bzw. § 63 Abs.
2 SGB X und § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO weniger das Begriffspaar "Regel/Ausnahme"
als vielmehr die Feststellung aussagekräftig ist, dass die Erstattungsfähigkeit von
Anwaltskosten im Vorverfahren - anders als diejenige im gerichtlichen Verfahren (§ 162
Abs. 2 Satz 1 VwGO) - nicht automatisch, sondern je nach Lage des Einzelfalles nur
unter der Voraussetzung der konkreten Notwendigkeit anerkannt werden kann.
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BVerwG, Urteil vom 17. Dezember 2001 - 6 C 19.01 -, a.a.O., S. 8,9.
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Im vorliegenden Falle durfte es die Klägerin vom Standpunkt einer verständigen, nicht
rechtskundigen Partei aus für erforderlich halten, sich im Widerspruchsverfahren
anwaltlichen Beistandes zu bedienen. Es konnte ihr nicht zugemutet werden, auf
anwaltliche Hilfe zu verzichten und das Verfahren ohne einen Rechtsanwalt zu führen.
Hinsichtlich der persönlichen Verhältnisse der Klägerin hat das Verwaltungsgericht in
dem angefochtenen Urteil zu Recht darauf abgestellt, dass die Klägerin nur einen
Hauptschulabschluss erreicht und eine Berufsausbildung nicht abgeschlossen hat. Sie
hatte in sozialhilferechtlichen Angelegenheiten auch keine eingespielten Erfahrungen
im Umgang mit den Behörden, die es nahegelegt hätten, zunächst auf Grund der
bestehenden Kontakte das Sozialamt aufzusuchen, um dort Rücksprache zu nehmen
und eventuelle Aufklärungsmöglichkeiten auszuschöpfen.
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Anders gelagert der Sachverhalt, der dem Urteil des OVG Rheinland-Pfalz vom 13. April
1982 - 7 A 15/82 -, FEVS 32, 426, zugrunde gelegen hat.
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Die vorgelegten Verwaltungsvorgänge lassen vielmehr annehmen, das die Klägerin vor
dem im März 1995 gestellten Hilfeantrag unabhängig von der Sozialhilfe gelebt hat.
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Die im maßgeblichen Zeitpunkt der Hinzuziehung des Rechtsanwalts
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- vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Dezember 2001 - 6 C 19.01 -, a.a.O., S. 9 -
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im Raum stehenden Rechts- und Tatsachenfragen wiesen auch durchaus nicht
unerhebliche Schwierigkeiten auf. Nach Aktenlage kann auch heute nicht zuverlässig
beurteilt werden, ob das seinerzeit in Rede stehende Kraftfahrzeug nun einen Zeitwert
von 5.800 bzw. 6.500 DM aufgewiesen hat - so die behördlicherseits eingeholte
Auskunft laut "Schwacke- Liste" - oder von 1.000 bis 1.500 DM, wie von der Klägerin
unter Bezug auf Unfallschäden geltend gemacht worden ist. Die in der obergerichtlichen
Rechtsprechung ursprünglich streitigen Rechtsfragen im Zusammenhang mit der
Vermögensschongrenze des § 88 Abs. 2 Nr. 8 BSHG bei geringwertigen
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Kraftfahrzeugen
- vgl. etwa OVG NRW, Urteil vom 27. Oktober 1992 - 24 A 655/92 -, FEVS 43, 338;
ferner OVG Lüneburg, Beschluss vom 30. Juni 1995 - 4 M 3049/95 -, FEVS 46, 146 -
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sind erst durch die Urteile des Bundesverwaltungsgerichts vom 18. Dezember 1997 - 5
C 6.97 -, ZfSH/SGB 1998, 428, und 19. Dezember 1997 - 5 C 7.96 -, FEVS 48, 145,
geklärt worden. Zu Recht hat das Verwaltungsgericht auch hinsichtlich des im
Ausgangsbescheid des Gemeindedirektors der Gemeinde T. zugrunde gelegten
Schenkungsrückforderungsanspruchs rechtliche Schwierigkeiten gesehen. So
übersehen die Ausführungen im Ausgangsbescheid vom 28. Juni 1995 beispielsweise,
dass aufgrund von § 528 BGB jeweils nur ein zur Bedarfsdeckung erforderlicher Teil der
Schenkung herausverlangt werden kann, bei wiederkehrendem Bedarf also eine
wiederkehrende Leistung in der dem Bedarf entsprechenden Höhe, nicht jedoch von
vornherein die gesamte Schenkung.
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Vgl. BVerwG, Urteil vom 25. Juni 1992 - 5 C 37/88 -, FEVS 43, 104.
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Und die Möglichkeit der darlehensweisen Bewilligung von Sozialhilfe bei nur
vorübergehender Notlage nach § 15 b BSHG hat sich - wohl angesichts der
angenommenen Verwertbarkeit des Kraftfahrzeugs - selbst der beteiligten Fachbehörde
nicht so aufgedrängt, dass dieser Gesichtspunkt im Ausgangsbescheid vom 28. Juni
1995 noch angesprochen worden wäre.
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Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2, 188 Satz 2 VwGO.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO
i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
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Die Voraussetzung für die Zulassung der Revision nach § 132 Abs. 2 VwGO sind nicht
gegeben.
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