Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 11.03.2003

OVG NRW: öffentliche sicherheit, gewahrsam, landfriedensbruch, mittäterschaft, behörde, handbuch, gefahr, verhinderung, sammelstelle, strafrechtspflege

Oberverwaltungsgericht NRW, 5 E 1086/02
Datum:
11.03.2003
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
5. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
5 E 1086/02
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Köln, 20 K 4638/00
Tenor:
Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Köln vom 29. August 2002 wird
aufgehoben.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt der Beklagte.
Die Beschwerde gegen diesen Beschluss wird nicht zugelassen.
G r ü n d e :
1
I.
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Die Klägerin begehrt mit ihrer Klage die Feststellung der Rechtswidrigkeit ihrer am 5.
Juni 1999 erfolgten Ingewahrsamnahme und Verbringung zu einer
Gefangenensammelstelle.
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An diesem Tag fand auf der E. in L. eine nicht angemeldete Demonstration statt. In
deren Verlauf versuchte etwa gegen 13.15 Uhr eine Gruppe von Demonstranten eine
von Polizeibeamten gebildete Absperrung mit Gewalt zu durchbrechen. Trotz
Aufforderung, den Platz zu verlassen, wurden die Beamten getreten und geschlagen;
vier Beamte wurden dabei verletzt. Die Personalien der beteiligten Demonstranten
konnten zu diesem Zeitpunkt nicht festgestellt werden. Gegen 14.00 Uhr wurde die
Klägerin neben weiteren Personen an einer anderen Stelle in der Innenstadt L. (T.
gasse /L. gasse ) als mögliche Beteiligte an dem vorangegangenen Angriff erkannt und
daraufhin festgehalten. Hierzu heißt es in dem vom Leiter des Polizeieinsatzes noch am
selben Tag gefertigten Verlaufsbericht:
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"Durch Aufklärungskräfte konnten später weitere Teile der Personengruppe (ca. 30) auf
der T. gasse erkannt und durch andere Polizeikräfte im Bereich L. gasse fixiert werden.
Da sich unter ihnen auch Personen befinden mußten, die sich an den gemeinsamen
Angriffen auf die polizeiliche Durchlaßstelle am X. platz beteiligt hatten, wurden sie
wegen Verdachts der Täterschaft oder Mittäterschaft am Landfriedensbruch
festgenommen. Gleichzeitig erfolgte die polizeirechtliche Ingewahrsamnahme, um zu
verhindern, daß erneut schwerwiegende Ordnungswidrigkeiten oder sogar Straftaten
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begangen würden, da sich durch ihr vorheriges Verhalten gezeigt hatte, daß diese
Personen nicht bereit waren, sich an bestehende gesetzliche Regelungen zu halten."
Auf Nachfrage der Klägerin nach dem Grund ihrer Festnahme und Verbringung in die
Gefangenensammelstelle erklärte der Beklagte mit Schreiben vom 26. November 1999:
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"Es erfolgte eine polizeirechtliche Ingewahrsamnahme Ihrer Person und der gesamten
Personengruppe nach § 35 Absatz 1, Nr. 2, Polizeigesetz NRW, um zu verhindern, daß
erneut schwerwiegende Ordnungswidrigkeiten oder sogar Straftaten begangen würden.
Durch das vorangegangene Verhalten hatte die Gruppe gezeigt, daß sie nicht bereit
war, sich an bestehende gesetzliche Regelungen zu halten. Ferner bestand der
Verdacht der Täterschaft oder Mittäterschaft am oben erwähnten Landfriedensbruch auf
dem X. platz .
7
...
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Da sich bei der Polizei ein unbeteiligter Gastwirt gemeldet hatte, der angeblich Angaben
über die Beteiligung einzelner Personen an zu Landfriedensbruchdelikten und
Widerstandshandlungen machen konnte, wurden Sie der für diesen polizeilichen
Einsatz eingerichteten Gefangenensammelstelle in Brühl zugeführt.
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Nachdem sich aufgrund Befragung des Zeugen durch Mitarbeiter des Abschnittes
Strafverfolgung diese Behauptung als unrichtig erwiesen hatte, wurde in der
Gefangenensammelstelle darauf verzichtet, Erkennungsdienstliche Behandlungen
durchzuführen und Maßnahmen nach der Strafprozessordnung einzuleiten. Sie wurden
in der Sammelstelle namentlich erfasst und blieben anschließend aus den oben
angeführten Gründen bis zu dem Zeitpunkt in Gewahrsam, an dem zu erwarten stand,
daß die Kölner Innenstadt wegen der Schließung der Läden und des geringeren
Passanten- und Käuferaufkommens nicht mehr interessant für eine weitere Aktion
"Reclaim the city" sein würde und dadurch keine weitere Gefahr für die öffentliche
Sicherheit zu befürchten stand."
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Ausweislich eines internen Vermerks des Beklagten vom 28. Oktober 1999 waren die
Personalien der Klägerin um 16.38 Uhr erfasst. Aus dem polizeilichen Gewahrsam
wurde sie um 19.50 Uhr entlassen.
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Das Verwaltungsgericht hat den Verwaltungsrechtszug für unzulässig erklärt und den
Rechtsstreit gemäß § 17a Abs. 2 Satz 1 GVG an das Amtsgericht L. verwiesen.
Hiergegen hat die Klägerin Beschwerde eingelegt.
12
II.
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Die nach § 17a Abs. 4 Satz 3 GVG i.V.m. §§ 146, 147 VwGO zulässige Beschwerde hat
Erfolg. Der Verwaltungsrechtsweg ist zulässig. Gemäß § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO ist der
Verwaltungsrechtsweg in allen öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten
nichtverfassungsrechtlicher Art gegeben, soweit die Streitigkeiten nicht durch
Bundesgesetz einem anderen Gericht ausdrücklich zugewiesen sind. Danach ist der
Verwaltungsrechtsweg eröffnet für solche Klagen, die sich gegen präventiv- polizeiliche
Maßnahmen wenden; die ordentliche Gerichtsbarkeit ist hingegen nach § 23 Abs. 1
EGGVG zuständig, wenn strafverfahrensrechtliche Ermittlungen in Streit stehen. Liegt
ein doppelfunktionales Tätigwerden der Polizei sowohl auf dem Gebiet der repressiven
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Strafrechtspflege als auch auf dem Gebiet der präventiven Gefahrenabwehr vor,
entscheidet sich die Rechtswegfrage danach, ob das Schwergewicht der polizeilichen
Tätigkeit nach ihrer objektiven Zweckrichtung auf der Strafverfolgung liegt oder auf dem
Gebiet der präventiven Gefahrenabwehr.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 3. Dezember 1974 - BVerwG I C 11.73 -, BVerwGE 47, 255
(264 f.); OVG NRW, Urteil vom 13. September 1979 - IV A 2597/78 -, DÖV 1980, 574.
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Der Sachverhalt muss im Allgemeinen einheitlich betrachtet werden, es sei denn, dass
einzelne Teile des Geschehensablaufs objektiv abtrennbar sind. Maßgeblich ist
insoweit, wie sich der konkrete Lebenssachverhalt einem verständigen Bürger in der
Lage des Betroffenen bei natürlicher Betrachtungsweise darstellt. In diesem
Zusammenhang kommt dem erklärten oder erkennbaren Willen des eingreifenden
Sachwalters erhebliche Bedeutung zu.
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Vgl. BVerwG, Urteil vom 3. Dezember 1974 - BVerwG I C 11.73 -, BVerwGE 47, 255
(264 f.); Lisken/ Denninger, in: Handbuch des Polizeirechts, 3. Aufl., München 2001, K
111.
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Zwar kann die Behörde nicht im Nachhinein den Charakter einer bereits
abgeschlossenen Maßnahme durch eine entsprechende Erklärung konstitutiv festlegen.
Ist aber für den Betroffenen aus den äußeren Umständen nicht allein ersichtlich, zu
welchem vornehmlichen Zweck die Maßnahme ergriffen worden ist, kommt der
Kundgabe des intendierten Erfolgs durch die handelnde Behörde entscheidendes
Gewicht zu.
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Nach dieser Maßgabe ist davon auszugehen, dass das Schwergewicht der von der
Klägerin angegriffenen Ingewahrsamnahme und Verbringung zur
Gefangenensammelstelle auf dem Gebiet der präventiven Gefahrenabwehr gelegen hat.
Wenngleich Anlass der streitgegenständlichen polizeilichen Maßnahmen die zuvor
begangene gewaltsame Aktion der Demonstranten gewesen ist, richtete sich die
Ingewahrsamnahme vorrangig auf die Verhinderung weiterer derartiger oder ähnlicher
Taten. In diesem Sinne hat sich der Beklagte in seinem oben zitierten Schreiben vom
26. November 1999 auf die Nachfrage der Klägerin nach dem Grund der
Polizeimaßnahmen ausdrücklich festgelegt. Ungeachtet des internen Vermerks vom 5.
Juni 1999, der für eine andere Gewichtung der mit der polizeilichen Maßnahme
verfolgten Ziele sprechen könnte, muss sich der Beklagte an der nach außen gegenüber
der Klägerin abgegebenen Erklärung festhalten lassen. Dass Gesichtspunkte der
Gefahrenabwehr im Vordergrund gestanden haben, folgt auch aus dem Umstand, dass
die Klägerin nach der Feststellung ihrer Personalien weiterhin festgehalten worden ist
und sich noch über drei Stunden in Gewahrsam der Polizei befunden hat. Dieser Teil
des Geschehens macht allein in zeitlicher Hinsicht mehr als die Hälfte der gegenüber
der Klägerin getroffenen polizeilichen Maßnahme aus.
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Für eine abweichende Bewertung gibt das Protokoll der mündlichen Verhandlung, in
der der damalige Einsatzleiter der Polizei informatorisch angehört worden ist, nichts her.
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Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 17a Abs. 4 GVG i.V.m. § 154 Abs. 1 VwGO.
Gerichtskosten fallen nicht an (Kostenverzeichnis Nr. 2502, Anl. 1 zum GKG). Die
Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht wird nicht zugelassen, da die
Voraussetzungen hierfür nicht vorliegen (§ 17a Abs. 4 Sätze 4 und 5 GVG).
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Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).
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