Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 29.04.2005

OVG NRW: verdachtskündigung, anklageschrift, fristbeginn, anhörung, anschluss, verwaltungsverfahren, billigkeit, interessenabwägung, verfügung, ausnahme

Datum:
Gericht:
Spruchkörper:
Entscheidungsart:
Tenor:
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Aktenzeichen:
Vorinstanz:
Oberverwaltungsgericht NRW, 12 A 1482/03
29.04.2005
Oberverwaltungsgericht NRW
12. Senat
Beschluss
12 A 1482/03
Verwaltungsgericht Aachen, 2 K 2268/01
Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
Der Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien
Zulassungsverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der
Beigeladenen, die nicht erstattungsfähig sind.
G r ü n d e :
Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Die geltend gemachten
Zulassungsgründe liegen nicht vor.
1. Das Zulassungsvorbringen führt nicht zu ernstlichen Zweifeln an der Richtigkeit der
erstinstanzlichen Entscheidung im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Derartige Zweifel
bestehen nur dann, wenn durch das Vorbringen des Rechtsbehelfsführers Bedenken von
solchem Gewicht gegen die Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung hervorgerufen
werden, dass deren Ergebnis ernstlich in Frage gestellt ist.
Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 12. März 2001
- 12 B 1284/00 - sowie auch BVerwG, Beschluss vom 11. November 2002 - 7 AV 3.02 -,
DVBl. 2003, 401.
Das ist hier nicht der Fall. Das Verwaltungsgericht hat in seiner Einscheidung zur
Begründung der Aufhebung der angefochtenen Zustimmungsentscheidungen des
Beklagten im Wesentlichen ausgeführt: Der Antrag auf Zustimmung zur außerordentlichen
Kündigung vom 16. März 2001 sei verspätet gewesen. Dem Beklagten sei einzuräumen,
dass der Arbeitgeber im Falle einer Verdachtskündigung angemessene Zeit zur Aufklärung
des Tatverdachts haben müsse. Sei ihm innerhalb des gezogenen Zeitrahmens eine
hinreichende Aufklärung des Sachverhalts nicht möglich oder wolle er die Kündigung nicht
auf eine unsichere Basis stellen, könne er zur sicheren Klärung des Tatverdachtes das
Ergebnis eines Strafverfahrens abwarten und dann seine Kündigung wegen einer
erwiesenen Tatbegehung aussprechen, auch wenn er eine zunächst ausgesprochene
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außerordentliche Kündigung wegen schwieriger Tatsachenlage schon einmal
zurückgezogen habe. Diese letztgenannten Fallvariationen lägen hier indes nicht vor. Auch
die Anknüpfung an die Anklageschrift könne im Grunde nicht beanstandet werden, wenn
der Arbeitgeber hierdurch erstmals den ermittelten Sachverhalt, der das
Kündigungsbegehren rechtfertige, erfahren habe. Dies sei hier aber nicht der Fall. Denn die
Staatsanwaltschaft B. habe die Beigeladene bereits mit Schreiben vom 31. Januar 2001,
das am 6. Februar 2001 bei ihr eingegangen sei, darüber unterrichtet, dass die
Ermittlungen abgeschlossen seien, was die Zeugenvernehmungen ergeben hätten und
welche Straftatbestände nunmehr nach Abschluss der Ermittlungen angeklagt werden
sollten. Dass der die außerordentliche Kündigung rechtfertigende Sachverhalt der
Beigeladenen seit dem 6. Februar 2001 bekannt gewesen sei, werde insbesondere
dadurch gestützt, dass die Arbeitgeberin ausweislich eines Vermerks vom 27. Februar
2001 den Schwerbehindertenobmann der Stadtverwaltung B1. über den Sachstand im
Falle des Klägers ausführlich informiert und ihm dabei Gelegenheit gegeben habe, in die
Verfügung der Staatsanwaltschaft B. vom 31. Januar 2001 Einsicht zu nehmen. Auch wenn
sie formell noch den Eingang der Anklageschrift hätte abwarten wollen, sei sie
offensichtlich selbst davon ausgegangen, dass dies der Sachverhalt sei, auf den die
außerordentliche Kündigung habe gestützt werden sollen.
Das erstinstanzliche Entscheidungsergebnis wird durch das Zulassungsvorbringen nicht
durchgreifend erschüttert.
Entgegen der Auffassung des Beklagten ist nicht davon auszugehen, dass die
maßgebliche Frist für die Stellung des Antrags auf Zustimmung zur außerordentlichen
Kündigung (§ 21 Abs. 2 SchwbG/§ 91 Abs. 2 SGB IX) hier erst mit Eingang der
Anklageschrift bei der Beigeladenen am 15. März 2001 begonnen hat und deshalb
vorliegend gewahrt ist.
Der Beklagte stellt darauf ab, dass die Beigeladene eine weitere Klärung des Sachverhalts
durch den förmlichen Abschluss des Ermittlungsverfahrens habe abwarten können und
führt aus, der Arbeitgeber dürfe seinen Kündigungsentschluss sogar von dem Fortgang
eines Strafermittlungs- bzw. Strafverfolgungsverfahrens abhängig machen, um sich
Gewissheit über die Schwere des Verdachts bzw. einen Nachweis der Tatbegehung zu
verschaffen. Damit bezieht er sich der Sache nach auf im Rahmen der Begründung zu dem
Zulassungsgrund grundsätzlicher Bedeutung im einzelnen wiedergegebene Ausführungen
des Bundesarbeitsgerichts in dem Urteil vom 29. Juli 1993 - 2 AZR 90/93 - (Seite 4 der
Begründungsschrift, Absätze 4 und 5 des eingerückten Textes). Diese Ausführungen
(Abschnitt II. 1. c, cc der Entscheidungsgründe) betreffen allerdings nicht den Fristbeginn
(nach § 626 BGB) für eine Verdachtskündigung, sondern für eine Tatkündigung.
Vgl. zur begrifflichen Unterscheidung etwa BAG, Urteil vom 6. Dezember 2001 - 2 AZR
496/00 -, NJW 2002, 3651; Urteil vom 21. Juni 1995 - 2 AZR 735/94 -, juris.
Dies zeigt der Zusammenhang der Ausführungen und der Inhalt der dort zitierten
Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts vom 12. Dezember 1984 und 11. März 1976,
die sich beide zu Tatkündigungen verhalten. Eine solche Tatkündigung scheint nunmehr
ausweislich seiner Ausführungen auf Seite 5 der Antragsbegründungsschrift der Beklagte
anzunehmen. Das Verwaltungsgericht hat allerdings zutreffend festgestellt, dass es
vorliegend um eine Verdachtskündigung ging. Dies entspricht im Übrigen auch der
Würdigung des Antrags durch den Beklagten in seinem Widerspruchsbescheid vom 13.
November 2001 und im erstinstanzlichen Verfahren.
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Vgl. in diesem Zusammenhang auch das Urteil des LAG Köln vom 11. Oktober 2002 - 11
Sa 431/02 -, juris.
Damit kommt es - auch nach dem o.g. Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 29. Juli 1993 -
2 AZR 90/93 - für den Fristbeginn auf die Kenntnis der dem Zustimmungsantrag vom 16.
März 2001 (und der nachfolgenden Kündigung vom 29. März 2001) zugrunde gelegten
Verdachtsmomente an, die dem Kündigungsberechtigten die nötige Interessenabwägung
und die Entscheidung darüber ermöglichen, ob ihm die Fortsetzung des
Arbeitsverhältnisses zumutbar ist oder nicht. Von diesen hatte die Beigeladene spätestens
seit dem 6. Februar 2001 Kenntnis. Von diesem Zeitpunkt an wusste sie, inwieweit die
Schwere des Verdachtes der Staatsanwaltschaft zur Anklageerhebung ausreichte, konnte
sich also der "Begründetheit" des Verdachtes sicher sein. Der Zeitpunkt der
Anklageerhebung ist demgegenüber auch nach der vom Beklagten zitierten Entscheidung
des Bundesarbeitsgerichts vom 29. Juli 1993
- 2 AZR 90/93 - für sich genommen kein geeigneter Anknüpfungspunkt für den Fristbeginn
bei einer Verdachtskündigung, wenn die Verdachtsmomente bereits zuvor ausreichend
bekannt sind. Eine im Anschluss an den förmlichen Abschluss des Strafverfahrens von der
Beigeladenen ausweislich ihres Vermerkes vom 9. Juli 2001 in Betracht gezogene
Tatkündigung ist nicht Gegenstand des vorliegenden Zustimmungsverfahrens.
Dass der Zeitpunkt des Beginns der Frist für die Stellung des Zustimmungsantrags erst
nach einer Anhörung des Klägers durch die Beigeladene habe beginnen können, vermag -
entgegen der Einschätzung des Beklagten - angesichts der gesetzlichen Regelungen über
die Anhörung des Schwerbehinderten in dem durch einen Zustimmungsantrag
eingeleiteten Verwaltungsverfahren (vgl. § 21 Abs. 1 i.V.m. § 17 Abs. 2 Satz 2 SchwbG/§
91 Abs. 1 i.V.m. § 87 Abs. 2 SGB IX) nicht zu überzeugen.
2. Die Sache hat entgegen der Auffassung des Beklagten auch keine grundsätzliche
Bedeutung im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO.
Aus der vom Beklagten gesehenen Abweichung des Verwaltungsgerichts von der
Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts kann eine Grundsatzbedeutung schon deshalb
nicht hergeleitet werden, weil eine solche Abweichung nicht vorliegt. Das
Verwaltungsgericht hat keinen abstrakten Rechtssatz aufgestellt und seiner Entscheidung
zu Grunde gelegt, der von einem abstrakten Rechtssatz des Bundesarbeitsgerichts in der
vom Beklagten bezeichneten Entscheidung vom 29. Juli 1993
- 2 AZR 90/93 - abweicht.
Grundsätzliche Bedeutung hat die Sache auch nicht im Hinblick auf die vom Beklagten
aufgeworfene Frage, ob die für den Bereich des § 626 BGB entwickelten Grundsätze zu
den Möglichkeiten des Arbeitgebers bei verhaltsbedingten Kündigungen, die auf
begangene strafbare Handlungen gestützt werden, den Ausgang des
staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens bzw. des Strafverfahrens abwarten zu
dürfen, auch für die Auslegung des § 91 SGB IX gelten. Entscheidungserheblich ist hier
nicht die Geltung dieser Grundsätze, sondern ihre Anwendung im vorliegenden Einzelfall.
3. Schließlich liegt auch der Zulassungsgrund nach § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO nicht vor. Die
Abweichung von einer Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts, die der Beklagte hier
sieht, ist bereits im Ansatz für diesen Zulassungsgrund nicht erheblich und im Übrigen aus
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den vorstehenden Gründen zu 2. zudem auch nicht gegeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 2, 188 Satz 2 VwGO. Es entspricht nicht
der Billigkeit im Sinne von § 162 Abs. 3 VwGO, dem Beklagten auch die außergerichtlichen
Kosten der Beigeladenen im Zulassungsverfahren aufzuerlegen, weil sie einen Sachantrag
nicht gestellt und sich mithin selbst an einem Kostenrisiko nicht ausgesetzt hat (vgl. hierzu
§ 154 Abs. 3 VwGO). Im Zulassungsverfahren hat sie sich lediglich der Begründung des
vom Beklagten gestellten Antrags angeschlossen, ohne einen eigenen Antrag zu
formulieren.
Mit diesem Beschluss, der nach § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar ist, wird das
angefochtene Urteil des Verwaltungsgerichts Aachen rechtskräftig (vgl. § 124a Abs. 5 Satz
4 VwGO).