Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 17.01.2007

OVG NRW: eugh, serbien, familienangehöriger, unionsbürger, wiedereinreise, täterschaft, zusatzprotokoll, behandlung, aufenthaltserlaubnis, inhaftierung

Oberverwaltungsgericht NRW, 19 E 990/06
Datum:
17.01.2007
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
19. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
19 E 990/06
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Aachen, 3 K 896/05
Tenor:
Der angefochtene Beschluss wird geändert.
Dem Kläger wird für das Verfahren erster Instanz Prozesskostenhilfe
bewilligt und Rechtsanwalt T. in B. beigeordnet.
Das Beschwerdeverfahren ist gerichtsgebührenfrei. Die
außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens werden nicht
erstattet.
Gründe:
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Die zulässige Beschwerde ist begründet. Der Kläger ist nach seinen persönlichen und
wirtschaftlichen Verhältnissen nicht in der Lage, die Kosten des Verfahrens erster
Instanz insgesamt oder teilweise zu tragen.
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Die Klage bietet auch hinreichende Aussicht auf Erfolg (§ 166 VwGO in Verbindung mit
§ 114 ZPO). Im erstinstanzlichen Klageverfahren bedarf der näheren Überprüfung, ob
der Kläger ein Aufenthaltsrecht aus Art. 7 Satz 1 zweiter Gedankenstrich ARB 1/80
dadurch verloren hat, dass er im August 2000 nach Serbien ausgereist, dort wegen
versuchten Totschlags seiner Ehefrau verhaftet und zu einer Freiheitsstrafe von 3
Jahren und 6 Monaten verurteilt worden und nach der Haftverbüßung erst im Februar
2004 wieder nach Deutschland zurückgekehrt ist.
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Der Beklagte geht in seiner Klageerwiderung vom 21. Juni 2005 davon aus, dass der
Kläger im August 2000 ein Aufenthaltsrecht sowohl aus Art. 7 als auch aus Art. 6 ARB
1/80 innehatte. Nach Art. 7 Satz 1 zweiter Gedankenstrich ARB 1/80 haben die
Familienangehörigen eines dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaates
angehörenden türkischen Arbeitnehmers, die die Genehmigung erhalten haben, zu ihm
zu ziehen, freien Zugang zu jeder von ihnen gewählten Beschäftigung im Lohn- oder
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Gehaltsverhältnis, wenn sie dort seit mindestens fünf Jahren ihren ordnungsgemäßen
Wohnsitz haben. Es spricht viel dafür, dass der Kläger ein Aufenthaltsrecht nach dieser
Vorschrift erworben hatte. Denn er ist am 25. März 1981 kurz nach seinem 15.
Geburtstag zur Familienzusammenführung zu seinem Vater in das Bundesgebiet
eingereist und hatte seitdem seinen Wohnsitz in Deutschland. Dieses abgeleitete
assoziationsrechtliche Aufenthaltsrecht ist vorrangig vor einem etwaigen originären
Aufenthaltsrecht nach Art. 6 ARB 1/80 zu prüfen, welches der Kläger möglicherweise
aufgrund seiner mehr als vierjährigen Beschäftigung seit dem 1. September 1983 als
Hauer im Steinkohlenbergwerk T1. -K. in I. erworben hatte.
Vgl. EuGH, Urteil vom 7. Juli 2005 - C-373/03 - (Aydinli), Rdn. 19.
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Der Senat kann nicht mit der für eine Ablehnung von Prozesskostenhilfe erforderlichen
Eindeutigkeit feststellen, dass ein Aufenthaltsrecht des Klägers als Familienangehöriger
aus Art. 7 Satz 1 zweiter Gedankenstrich ARB 1/80 durch die in Serbien verbüßte
Strafhaft erloschen ist. Nach der Rechtsprechung des EuGH verliert ein
Familienangehöriger seine Rechtsstellung aus dieser Vorschrift unter anderem dann,
wenn er das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaates für einen nicht unerheblichen
Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlässt.
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EuGH, Urteil vom 16. Februar 2006 - C-502/04 - (Torun), Rdn. 21; Urteil vom 7. Juli 2005
- C-373/03 - (Aydinli), Rdn. 27 m. w. Nachw..
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Zu Unrecht hat das Verwaltungsgericht einen solchen Verlust daraus abgeleitet, dass
der Kläger für den Zeitraum von mehreren Jahren nicht in das Bundesgebiet
zurückgekehrt ist. Der hierfür in Bezug genommene Beschluss des VGH Baden-
Württemberg vom 22. Januar 2004 - 11 S 192/04 - ist nicht einschlägig. In diesem
Beschluss kam es auf den hier streitigen Verlust der Rechtsstellung aus Art. 7 Satz 1
ARB 1/80 nicht an, weil der VGH Baden- Württemberg bereits deren Erwerb verneint hat
(Juris, Rdn. 20).
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Näherer Überprüfung im Hauptsacheverfahren bedarf zunächst, ob der Kläger das
Bundesgebiet für einen nicht unerheblichen Zeitraum verlassen hat. Zur Bejahung
dieser Voraussetzung genügt nach der obergerichtlichen Rechtsprechung nicht eine
Abwesenheit für bestimmte Zeit, auch nicht für mehrere Jahre. Insbesondere kann der
Sechs-Monats-Frist in § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG danach allenfalls Indizfunktion
zukommen. Entscheidend ist vielmehr, ob der assoziationsberechtigte türkische
Staatsangehörige den Integrationszusammenhang durch Aufgabe des
Lebensmittelpunktes im Bundesgebiet auf Dauer beseitigt hat. Diese Frage ist nicht nur
anhand der Abwesenheitsdauer, sondern unter Einbeziehung auch weiterer Kriterien zu
beantworten (zB Ausreisezweck, Kündigung von Wohnung und/oder Arbeitsplatz,
melderechtliche Abmeldung).
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OVG NRW, Beschluss vom 8. März 2006 - 18 B 130/06 -; BayVGH, Beschluss vom 21.
März 2006 - 24 ZB 06.233 -, Juris, Rdn. 23.
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Näherer Überprüfung im Hauptsacheverfahren bedarf weiter, ob sich der Kläger „ohne
berechtigte Gründe" im Ausland aufgehalten hat. Für diese Voraussetzung stellt die
obergerichtliche Rechtsprechung auf die Freiwilligkeit des Auslandsaufenthalts ab.
Diese kann auch nachträglich wegfallen, etwa wenn eine Krankheit oder eine
Inhaftierung die zunächst beabsichtigte Rückkehr nach Deutschland unmöglich macht
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oder unzumutbar erschwert.
BayVGH, Beschluss vom 21. März 2006 - 24 ZB 06.233 -, Juris, Rdn. 24.
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Hingegen dürfte die Bejahung dieser Voraussetzung nicht davon abhängen, ob die
serbischen Strafgerichte die Täterschaft des Klägers zu Recht angenommen haben.
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Sollte das Verwaltungsgericht bei Anwendung dieses Maßstabs zu dem Ergebnis
kommen, dass das Aufenthaltsrecht des Klägers aus Art. 7 Satz 1 zweiter
Gedankenstrich ARB 1/80 bis zur Wiedereinreise im Februar 2004 erhalten geblieben
ist, wird es schließlich zu prüfen haben, ob der Kläger als türkischer Staatsangehöriger
damit besser gestellt wäre als ein Unionsbürger in vergleichbarer Lage. Eine solche
Besserstellung widerspräche Art. 59 des Zusatzprotokolls vom 23. November 1970
(BGBl. 1972 II, S. 385) zum Assoziationsabkommen EWG - Türkei. Nach dieser
Vorschrift darf der Türkei in den vom Zusatzprotokoll erfassten Bereichen keine
günstigere Behandlung gewährt werden als diejenige, die sich die Mitgliedstaaten
untereinander auf Grund des Vertrages zur Gründung der Gemeinschaft einräumen.
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Vgl. dazu OVG NRW, Beschluss vom 17. Februar 2004 - 19 B 1650/02 -, S. 8 des
Beschlussabdrucks.
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Nach § 11 Satz 1 des im Februar 2001 noch geltenden AufenthG/EWG erlosch die
Aufenthaltserlaubnis eines EG-Ausländers, wenn sich der Ausländer seit mehr als
sechs Monaten nicht mehr in Deutschland aufgehalten hat. Das Verwaltungsgericht wird
zu prüfen haben, ob diese Vorschrift des nationalen deutschen Ausländerrechts
uneingeschränkt mit denjenigen europarechtlichen Bestimmungen im Einklang stand,
die den Erhalt der Rechtsstellung von Unionsbürgern in einem anderen Mitgliedstaat
der Gemeinschaft betreffen. Dabei können auch die Gründe eine Rolle spielen, aus
denen der Gesetzgeber die Sechs-Monats-Frist aus § 11 Satz 1 AufenthG/EWG nicht in
den seit dem 1. Januar 2005 geltenden § 6 FreizügG/EU übernommen hat.
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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 166 VwGO, 127 Abs. 4 ZPO.
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Gegen diesen Beschluss kann die Staatskasse Beschwerde einlegen (§ 166 VwGO in
Verbindung mit § 127 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 ZPO). Für die Beteiligten ist der
Beschluss unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).
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