Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 28.03.2006

OVG NRW: diplomatische vertretung, anspruch auf rechtliches gehör, politische verfolgung, anerkennung, ausstellung, widerruf, einfluss, schriftstück, unterbrechung, bundesamt

Oberverwaltungsgericht NRW, 8 A 4908/05.A
Datum:
28.03.2006
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
8. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
8 A 4908/05.A
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Köln, 3 K 7670/04.A
Tenor:
Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil
des Verwaltungsgerichts Köln vom 4. November 2005 wird abgelehnt.
Die Klägerin trägt die Kosten des Antragsverfahrens, für das
Gerichtskosten nicht erhoben werden.
G r ü n d e :
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Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
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1. Die Berufung ist nicht gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG wegen der geltend
gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zuzulassen.
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Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache, wenn sie eine für die Entscheidung
des Streitfalls im Rechtsmittelverfahren erhebliche klärungsbedürftige Rechts- oder
Tatsachenfrage von allgemeiner Bedeutung aufwirft. Eine solche Frage legt die
Antragsschrift nicht entsprechend den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylVfG
dar.
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a) Die von der Klägerin in der Antragsschrift aufgeworfene Frage,
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"ob eine Asylberechtigung, die aufgrund von Sippenhaft oder aber 'Familienasyl'
zugesprochen worden ist, widerrufen werden kann, wenn die Asylberechtigung für den
originär Asyl Erhaltenden (Stammvater der Familie) widerrufen wird, nicht aufgrund von
Änderung der Verhältnisse im Herkunftsland, sondern im Hinblick auf § 51 Abs. 3 AuslG
und damit einer weiter drohenden politischen Verfolgung im Herkunftsland, im
vorliegenden Falle die Türkei, auch das Familienasyl/Sippenhaftproblem für die
Familienangehörigen widerrufen kann, wenn der ehemalige Inhaber des originären
Asylanspruchs in seinem Heimatland (hier die Türkei) weiterhin aus politischen
Gründen verfolgt wird",
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rechtfertigt - unabhängig davon, ob und inwieweit sie sich in dem vorliegenden
Verfahren überhaupt stellt - schon deshalb nicht die Zulassung der Berufung, weil sie
einer allgemein gültigen Klärung nicht zugänglich ist; sie ist vielmehr nur anhand der
jeweils maßgeblichen Umstände des Einzelfalls zu beantworten. Nach § 73 Abs. 1 Satz
1 AsylVfG (sowohl in der bis zum 31. Dezember 2004 als auch in der ab dem 1. Januar
2005 geltenden Fassung) sind die Anerkennung als Asylberechtigter und die
Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG/§ 60 Abs. 1
AufenthG zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen.
Ausgehend davon ist für den jeweiligen Ausländer im Einzelfall zu prüfen, ob die
Voraussetzungen für die Anerkennung als Asylberechtigter und für die Feststellung des
Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG/§ 60 Abs. 1 AufenthG in seiner
Person weiterhin gegeben sind. Dabei kann es insbesondere im Zusammenhang mit
einer möglichen Sippenhaft eine Rolle spielen, dass ein Familienangehöriger, dessen
Asylberechtigung auf der Grundlage von § 51 Abs. 3 AuslG/§ 60 Abs. 8 AufenthG
widerrufen worden ist, aus politischen Gründen in seinem Heimatland verfolgt wird.
Zwingend ist dies indes nicht. Denn es ist ebenso denkbar, dass eine politische
Verfolgung des Familienangehörigen, auch wenn dieser - nach dem Sprachgebrauch
der Klägerin - die Rolle eines "Stammvaters der Familie" innehat, ohne maßgeblichen
Einfluss auf die Verfolgungssituation des Ausländers bleibt, etwa weil keine Sippenhaft
zu befürchten ist. Angesichts dessen hängt die Beantwortung der Frage der
Rechtmäßigkeit des Widerrufs der Asylanerkennung eines Ausländers nicht
grundsätzlich davon ab, ob die Asylanerkennung des Familienangehörigen auf der
Grundlage von § 51 Abs. 3 AuslG/§ 60 Abs. 8 AufenthG oder aufgrund einer Änderung
der Verhältnisse im Herkunftsland widerrufen worden ist.
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Vgl. zum Widerruf einer Asylanerkennung bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 51
Abs. 3 AuslG: OVG NRW, Beschluss vom 4. Dezember 2003 - 8 A 3766/03.A -, NVwZ
2004, 757 = NWVBl. 2004, 231.
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b) Die weiterhin von der Klägerin aufgeworfene Frage,
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"ob der Klägerin die Tatsache, dass die türkische diplomatische Vertretung in der
Bundesrepublik Deutschland ihr keinen Reiseausweis ausstellt, sondern man sie über
einen Zeitraum von 6 Monaten immer wieder vertröstet hat, nicht bereits die Intensität
einer politischen Verfolgung hat, wenn der Ehemann in der Türkei politisch motiviert zu
einer lebenslangen schweren Haftstrafe verurteilt wurde",
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vermag ebenfalls nicht die Zulassung der Berufung zu begründen. Ausgehend von
ihrem Wortlaut handelt es sich nicht um eine Frage von allgemeiner Bedeutung, weil sie
allein an die konkrete Situation der Klägerin anknüpft. Aber auch ein vom konkreten
Wortlaut losgelöstes Verständnis der Frage führt nicht zur Zulassung der Berufung.
Denn die Klägerin hat insoweit einen grundsätzlichen Klärungsbedarf nicht aufgezeigt.
Mit der Feststellung des Verwaltungsgerichts, der Umstand, dass durch die
diplomatische Vertretung über sechs Monate hinweg die Ausstellung eines
Reisepasses verweigert werde, sei nicht geeignet, die Schwelle der asylerheblichen
Verfolgung durch türkische Behörden darzutun und zu begründen, hat die Klägerin sich
in der Antragsschrift nicht mit einem Wort auseinander gesetzt. Sie hat es vielmehr
dabei belassen, die Frage zu benennen. Dies genügt nicht dem Darlegungserfordernis.
Im Übrigen bedarf es zur Klärung der Frage auch nicht der Durchführung eines
Berufungsverfahrens. Denn auf der Grundlage der schon ergangenen Rechtsprechung
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ist die Frage ohne Weiteres zu verneinen. Nach der ständigen Rechtsprechung des
Bundesverfassungs- und des Bundesverwaltungsgerichts setzt die Annahme einer
politischen Verfolgung voraus, dass die Eingriffe und Beeinträchtigungen des
Betroffenen eine Schwere und Intensität aufweisen, die die Menschenwürde verletzen.
Vgl. etwa BVerfG, Beschluss vom 1. Juli 1987 - 2 BvR 478/86 u.a. -, BVerfGE 76, 143;
BVerwG, Urteil vom 25. Oktober 1988 - 9 C 37.88 -, BVerwGE 80, 321.
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Eine derartigen Schwere und Intensität liegt offensichtlich nicht vor, wenn die
diplomatische Vertretung des Heimatlands eines Ausländers über sechs Monate hinweg
die Ausstellung eines Reisepasses verweigert.
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c) Die von der Klägerin aufgeworfenen Frage,
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"ob nicht beim Widerruf des Asyls bei einem Asylberechtigten, der seine Berechtigung
erhielt aufgrund der angenommenen Sippenhaft/(Familienasyl) für die Prognose der
herabgestufte Maßstab anzuwenden ist, da ja mit der Asylanerkennung (Sippenhaft)
eine latente Gefährdungslage angenommen wurde",
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führt ebenfalls nicht zur Zulassung der Berufung. Auf der Grundlage der Feststellungen
des Verwaltungsgerichts stellt sich diese Frage nicht. Vorliegend ist das
Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass die Klägerin ihr Heimatland unverfolgt
verlassen hat. Diese Feststellung ist für das Zulassungsverfahren maßgeblich, da sie
von der Klägerin mit ihrem Antragsvorbringen nicht durchgreifend in Frage gestellt
worden ist. Ausgehend davon besteht keine Veranlassung, im Zusammenhang mit der
nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG entscheidenden Frage, ob die Voraussetzungen für die
Anerkennung als Asylberechtigte und für die Feststellung des Vorliegens der
Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG/§ 60 Abs. 1 AufenthG in der Person der
Klägerin weiterhin gegeben sind, den herabgestuften Prognosemaßstab anzuwenden.
Dessen ungeachtet ist die aufgeworfene Frage nicht in einem Berufungsverfahren
klärungsbedürftig. Sie lässt sich ohne weiteres dahin beantworten, dass allein der
Umstand einer Asylanerkennung nicht zur Anwendung des herabgesetzten
Wahrscheinlichkeitsmaßstabs im Widerrufsverfahren führt, weil die Asylanerkennung
als solche - wie auch im Fall der Klägerin - nicht notwendig an eine Vorverfolgung im
Heimatland anknüpft.
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2. Die Berufung ist nicht gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO
wegen der Versagung rechtlichen Gehörs zuzulassen.
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Die Klägerin sieht ihren Anspruch auf rechtliches Gehör dadurch verletzt, dass sie die
Entscheidungen, die vom Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge in
dessen erst in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht überreichten
Schriftsatz zitiert worden sind, - auch bei einer eventuellen Unterbrechung - nicht habe
nachvollziehen können, weil diese Entscheidungen nicht zur Verfügung gestanden
hätten. Mit diesem Vorbringen hat die Klägerin einen Gehörsverstoß schon deshalb
nicht dargetan, weil nicht ersichtlich ist, was sie vorgetragen hätte, wenn sie die
Entscheidungen hätte zur Kenntnis nehmen können. Erst recht ist der Antragsschrift
nicht zu entnehmen, dass ihr Vortrag zu einer anderen Entscheidung des
Verwaltungsgerichts hätte führen können.
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Im Übrigen kann sich die in der mündlichen Verhandlung anwaltlich vertretene Klägerin
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bereits deshalb nicht auf die Versagung rechtlichen Gehörs berufen, weil sie nicht
sämtliche verfahrensrechtlich eröffneten und nach Lage der Dinge tauglichen
Möglichkeiten ausgeschöpft hat, sich selbst rechtliches Gehör zu verschaffen. Ihre
Prozessbevollmächtigte hat es ausweislich des Terminsprotokolls unterlassen, einen
Vertagungsantrag zu stellen, um so die Möglichkeit zu erhalten, sich von dem Inhalt der
in dem Schriftsatz zitierten Entscheidungen Kenntnis zu verschaffen. Schon dies hat zur
Folge, dass ein Rügeverlust zu ihren Lasten eingetreten ist.
Vgl. BVerwG, Beschluss vom 21. Januar 1997 - 8 B 2.97 -, Buchholz 310 § 102 VwGO
Nr. 21 m.w.N., Urteil vom 22. April 1986 - 9 C 318.85 u.a. -, NVwZ 1986, 928 (930).
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3. Die Berufung ist nicht gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG i.V.m. § 138 Nr. 6 VwGO
wegen des Fehlens von Entscheidungsgründen zuzulassen.
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Nicht mit einer Begründung versehen i.S.d. § 138 Nr. 6 VwGO ist eine Entscheidung nur
dann, wenn sie so mangelhaft begründet ist, dass die Entscheidungsgründe ihre
Funktion nicht mehr erfüllen können, die Beteiligten über die dem Urteil zugrunde
liegenden rechtlichen und tatsächlichen Erwägungen zu unterrichten und dem
Rechtsmittelgericht die Nachprüfung der Entscheidung auf ihre inhaltliche Richtigkeit zu
ermöglichen. Ein Begründungsmangel liegt nicht bereits dann vor, wenn die Gründe
lediglich nicht überzeugend, nur oberflächlich, sachlich unvollständig, unrichtig oder
sonst fehlerhaft sein sollten.
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Vgl. etwa BVerwG, Beschlüsse vom 25. Februar 2000 - 9 B 77.00 -, Buchholz 402.240 §
53 AuslG Nr. 31, und vom 4. Dezember 1998 - 8 B 187.98 -, NVwZ-RR 2000, 257.
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Hieran gemessen liegt ein Begründungsmangel nicht vor. Die Klägerin sieht einen
derartigen Mangel darin begründet, dass das von ihr in der mündlichen Verhandlung
überreichte Schriftstück, bei dem es sich nach ihrem Vorbringen um ein Urteil des 14.
Schwurgerichts Istanbul vom 20. Juni 2005 handeln soll, "in dem angegriffenen Urteil
keinen Einfluss gefunden" habe. Damit beruft sie sich aber allein auf eine inhaltliche
Unvollständigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts. Eine solche stellt aber
kein Fehlen der Entscheidungsgründe i.S.d. § 138 Nr. 6 VwGO dar. Im Übrigen ist auch
unter Berücksichtigung des Vorbringens der Klägerin nicht ersichtlich, aufgrund welcher
Umstände für das Verwaltungsgericht hätte Veranlassung bestehen können, auf das
vorgelegte Schriftstück in seiner Entscheidung einzugehen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 83 b AsylVfG.
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Dieser Beschluss ist gemäß § 80 AsylVfG unanfechtbar.
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