Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 07.07.2006

OVG NRW: verbot des widersprüchlichen verhaltens, widerruf, treu und glauben, achtung des privatlebens, aufenthaltserlaubnis, ausreise, zukunft, rückwirkung, bad, unmöglichkeit

Oberverwaltungsgericht NRW, 18 A 3138/05
Datum:
07.07.2006
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
18. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
18 A 3138/05
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Minden, 7 K 7393/03
Schlagworte:
Aufenthaltsgenehmigung Aufenthaltstitel Asylanerkennung
anderweitiges Aufenthaltsrecht Beurteilungszeitpunkt Widerruf Wirkung
Vergangenheit
Normen:
AuslG § 43 Abs. 1 Nr. 4; AufenthG § 52 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4; AufenthG §
25 Abs. 5
Leitsätze:
1. Der Widerruf einer Aufenthaltsgenehmigung (jetzt Aufenthaltstitel) ist
nach § 43 Abs. 1 Nr. 4 AuslG (jetzt § 52 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG) auch mit
Wirkung für die Vergangenheit zulässig.
2. Zur Frage des Beurteilungszeitpunkts beim Widerruf einer
Aufenthaltsgenehmigung (jetzt Aufenthaltstitel).
3. Zur Bedeutung eines Aufenthaltsrechts, das unabhängig von einer
entfallenen Asylberechtigung besteht, beim Widerruf einer
asylbezogenen unbefristeten Aufenthaltserlaubnis.
Tenor:
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Kläger tragen die Kosten des Antragsverfahrens.
Der Streitwert wird für das Antragsverfahren auf 15.000, EUR
festgesetzt.
G r ü n d e :
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Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Die benannten
Zulassungsgründe rechtfertigen die Zulassung der Berufung nicht.
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Hinsichtlich des Zulassungsgrundes der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der
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verwaltungsgerichtlichen Entscheidung (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) bedarf es einer auf
schlüssige Gegenargumente gestützten Auseinandersetzung mit den
entscheidungstragenden Erwägungen des Verwaltungsgerichts. Dabei ist in
substanziierter Weise darzustellen, dass und warum das vom Verwaltungsgericht
gefundene Entscheidungsergebnis ernstlich zweifelhaft sein soll. Diese Voraussetzung
ist nur dann erfüllt, wenn das Gericht schon allein auf Grund des Antragsvorbringens in
die Lage versetzt wird zu beurteilen, ob ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des
angefochtenen Beschlusses bestehen.
Vgl. hierzu nur die Senatsbeschlüsse vom 15. März 2002 - 18 B 906/01 -
und vom 17. Mai 2002 - 18 A 781/01 -, jeweils m.w.N.
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Davon ausgehend haben die Kläger mit ihrem Zulassungsantrag keine ernstlichen
Zweifel aufzuzeigen vermocht. Ihnen ist zunächst einmal nicht darin zu folgen, dass die
Rechtmäßigkeit der Widerrufsverfügung vom 30. Juni 2003 in der Fassung der
Widerspruchsbescheide vom 19. November 2003 nicht nach § 43 AuslG, sondern – wie
von ihnen sinngemäß geltend gemacht – nach der im Zeitpunkt der
verwaltungsgerichtlichen Entscheidung geltenden Rechtslage, hier also nach § 52 des
mit dem Zuwanderungsgesetz vom 30. Juli 2004 (BGBl. I S. 1950) zum 1. Januar 2005
in Kraft getretenen Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) zu beurteilen ist. Bei – wie hier -
rechtsgestaltenden Verwaltungsakten ist grundsätzlich auf die Sach- und Rechtslage im
Zeitpunkt der letzten verwaltungsbehördlichen Entscheidung abzustellen. Das
Zuwanderungsgesetz steht der Anwendung dieses Grundsatzes nicht entgegen,
sondern bestätigt ihn. Es enthält in § 102 Abs. 1 AufenthG eine Bestimmung über die
Fortgeltung ausländerrechtlicher Maßnahmen. Danach bleiben die vor dem Inkrafttreten
des Gesetzes getroffenen ausländerrechtlichen Maßnahmen, zu denen auch der hier
streitige Widerruf einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis zählt, wirksam. Unerheblich
ist danach, wann in einem sich etwa anschließenden Verwaltungsstreitverfahren eine
Entscheidung getroffen wird.
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Vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 28. Mai 1991 – 1 C 20.89 , InfAuslR 1991,
268; Senatsbeschluss vom 20. Juli 2004 – 18 B 2303/03 -, AuAS 2004, 242
= NWVBl. 2005, 109.
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Die Kläger haben mit ihrem Vorbringen im Zulassungsantrag auch keinen Erfolg, soweit
sie geltend machen, die angefochtene Verfügung sei rechtswidrig, weil der Widerruf der
unbefristeten Aufenthaltserlaubnis nicht nur mit Wirkung für die Zukunft ausgesprochen
worden sei, sondern auch mit Wirkung für die Vergangenheit, und zwar auf den
Zeitpunkt der durch Urteil des Verwaltungsgerichts Minden vom 7. August 2002 – 3 K
270/02.A – (am 6. September 2002) eingetretenen Unanfechtbarkeit des Widerrufs ihrer
Asylberechtigung. Hierzu hätte es der Darlegung bedurft, welche schützenswerten
Rechtsinteressen der Kläger durch die Rückwirkung der Widerrufsverfügung betroffen
sind. Daran fehlt es. Die Kläger machen insoweit lediglich geltend, dass sich durch die
Rückwirkung ihr rechtmäßiger Aufenthalt im Bundesgebiet erheblich verkürzen würde,
wodurch sie von der Erlangung eines Aufenthaltstitels ausgeschlossen würden. Damit
wird nicht annähernd aufgezeigt, für welche Art eines Aufenthaltstitels und für welche
der dort genannten Erteilungsvoraussetzungen der Wegfall der Rückwirkung vorteilhaft
sein könnte. Derartiges ist auch sonst nicht ersichtlich. Die Kläger können sich
insbesondere nicht darauf berufen, sie hätten auf einen Bestand ihres Aufenthaltsrechts
vertrauen dürfen. Das Gegenteil ist der Fall. Die Kläger erhielten ihre unbefristete
Aufenthaltserlaubnis allein wegen ihrer Asylberechtigung, die sie ausschließlich im
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Rahmen des Familienasyls von ihrem Ehemann bzw. Vater abgeleitet hatten. Dieser
besaß jedoch zu keinem Zeitpunkt eine bestandskräftige Asylanerkennung. Diese war
vielmehr auf die Klage des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten (rechtskräftig
seit dem 16. Oktober 2000) aufgehoben worden. Schon zu diesem Zeitpunkt, spätestens
aber aufgrund der unter dem 31. Oktober 2001 erfolgten Anhörung zum Widerruf der
Asylanerkennung und damit bereits bei Erteilung der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis
am 28. November 2001 mussten auch die Kläger, gegen deren Anerkennung die Klage
des Bundesbeauftragten wegen Versäumung der Klagefrist erfolglos geblieben war,
davon ausgehen, dass ihre Asylanerkennung und damit auch ihre daraus resultierende
unbefristete Aufenthaltserlaubnis keinen Bestand haben werde.
Darüber hinaus begegnet der Widerruf der unbefristeten Aufenthaltserlaubnisse, soweit
er sich auf Vergangenheit erstreckt, auch – wie schon das Verwaltungsgericht zutreffend
festgestellt hat – materiell-rechtlich keinen Bedenken. § 43 Abs. 1 Nr. 4 AuslG
ermöglicht ebenso wie der inzwischen an seine Stelle getretene inhaltsgleiche § 52
Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG den Widerruf einer Aufenthaltsgenehmigung (jetzt
Aufenthaltstitel) auch für die Vergangenheit.
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So auch VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 4. März 1998 – 11 S 3169/97 -,
AuAS 1998, 185.
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Denn aus der spezialgesetzlichen und deshalb vorrangigen (vgl. § 1 Abs. 1 VwVfG)
Regelung des § 43 Abs. 1 Nr. 4 AuslG ergibt sich in dieser Hinsicht keine
Einschränkung. Seinem eindeutigen Wortlaut nach ist der Anwendungsbereich der
Norm nicht auf das Erlöschen einer Aufenthaltsgenehmigung nur mit Wirkung für die
Zukunft beschränkt. Im Unterschied zu den generellen gesetzlichen Regelungen des
Widerrufs in § 49 Abs. 2 VwVfG NRW und – für den Bundesbereich - § 49 Abs. 2
VwVfG, wonach der Widerruf eines rechtmäßigen begünstigenden Verwaltungsaktes
nur "mit Wirkung für die Zukunft" in Betracht kommt, enthält die (bundes-)gesetzliche
Vorschrift des § 43 Abs. 1 AuslG eine derartige zeitliche Beschränkung nicht. Eine
solche folgt auch nicht aus der überkommenen Terminologie des Begriffs "Widerruf".
Letzterer ist lediglich insoweit inhaltlich geprägt, als er die Aufhebung eines rechtmäßig
erlassenen Verwaltungsaktes zum Gegenstand hat.
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Vgl. Erichsen/Martens, Allg. VerwR, 6. Auflage, S. 224.
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Dementsprechend gestatten die Bestimmungen in § 49 Abs. 3 VwVfG NRW und § 49
Abs. 3 VwVfG gerade auch den Widerruf mit Wirkung für die Vergangenheit, was wegen
des insofern offenen Wortlauts des § 43 Abs. 1 AuslG dort keiner ausdrücklichen
Erwähnung bedurfte.
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Soweit sich die Kläger schließlich darauf berufen, ihnen sei eine Aufenthaltserlaubnis
nach § 25 Abs. 5 AufenthG zu erteilen, fehlt es ebenfalls an einer hinreichenden
Darlegung, warum deshalb ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der
verwaltungsgerichtlichen Entscheidung bestehen sollen. Hierzu wäre konkret
aufzuzeigen gewesen, welche Rechtsausführungen des Verwaltungsgericht deshalb
fehlerhaft sein sollen. Zudem vermöchte ein derartiger Anspruch auf das vorliegende
Verfahren keinen Einfluss zu haben. Er könnte nämlich erst seit dem 1. Januar 2005,
dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Norm, bestehen. Dagegen könnte sich im
vorliegenden Verfahren nur die Frage stellen, ob den Klägern im Zeitpunkt des
Widerrufs unabhängig von ihrer entfallenen Asylberechtigung ein Anspruch auf
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Erteilung eines im Vergleich mit der ihnen zuvor erteilten unbefristeten
Aufenthaltserlaubnis gleichwertigen oder geringerwertigen Aufenthaltsrechts zustand.
Dabei stünde Ersteres wegen des Grundsatzes von Treu und Glauben (Verbot des
widersprüchlichen Verhaltens) bereits einem Widerruf an sich entgegen, während
Letzteres im Rahmen der Ermessensentscheidung zu berücksichtigen wäre und
insoweit auf den Zeitpunkt der letzten verwaltungsbehördlichen Entscheidung
abzustellen sein dürfte.
Vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2003 – 1 C 13.02 -, InfAuslR
2003, 324; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 22. Februar 2006 – 11 S 1066/05 -;
zum Beurteilungszeitpunkt bei einer nachträglichen Verkürzung der Frist
einer Aufenthaltserlaubnis Senatsbeschluss vom 20. Juli 2004 – 18 B
2303/03 -a.a.O.
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Dazu verhält sich die Begründung des Zulassungsantrags nicht. Dessen ungeachtet
wäre sie aber auch für sich genommen ihrem Inhalt nach unzureichend, weil mit ihr nicht
einmal die tatbestandsmäßigen Voraussetzungen des § 25 Abs. 5 AufenthG erfüllt
werden. Von einer tatsächlichen Unmöglichkeit einer freiwilligen Ausreise der Kläger
kann nicht (mehr) ausgegangen werden, nachdem es dem Beklagten gelungen ist, für
sie Reisedokumente für eine Rückkehr nach Georgien zu beschaffen und nichts
dagegen spricht, dass die inzwischen abgelaufenen Dokumente erneuert werden.
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Zu der weiter in Betracht kommenden Alternative des § 25 Abs. 5 AufenthG
(Unmöglichkeit der Ausreise aus rechtlichen Gründen) sei darauf hingewiesen, dass
sich diese Tatbestandsvoraussetzung nach der Rechtsprechung des Senats zwar nicht
nach der tatsächlichen Möglichkeit einer freiwilligen Ausreise beurteilt, sondern es
maßgeblich darauf ankommt, ob es einem Ausländer aus Rechtsgründen zuzumuten ist,
Deutschland zu verlassen,
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- vgl. Senatsbeschluss vom 7. Februar 2006 – 18 E 1534/05 -; ebenso VGH
Bad-Württ., Urteil vom 18. Januar 2006 -– 13 S 2220/05 -, ZAR 2006, 142
und OVG Rheinl.-Pfalz, Beschluss vom 24.2.2006 7 B 10020/06.OVG -; im
Ergebnis ebenfalls Nieders. OVG, Urteil vom 29.11.2005 – 10 LB 84/05 -,
AuAS 2006, 74; in diesem Sinne auch BVerwG, Urteil vom 29.9.1998 – 1 C
8.96 -, NVwZ 1999, 303, 305, zu Art 8 EMRK -
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wobei sich die rechtlichen Maßstäbe für die dafür erforderliche Beurteilung
insbesondere ergeben aus den Abschiebungsverboten und vorrangigem Recht,
namentlich Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 2 Satz 2, 6 GG, dem aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art.
20 Abs. 3 GG) abzuleitenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, und Art. 8 EMRK, der
hier vornehmlich unter dem Gesichtspunkt des Rechts auf Achtung des Privatlebens in
den Blick zu nehmen wäre.
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Vgl. zu allem Senatsbeschlüsse vom 7. Februar 2006 – 18 E 1534/05 – mit
weiteren Hinweisen insbesondere auf die Rechtsprechung des EGMR und
vom 27. März 2006 – 18 B 787/05 –, Asylmagazin 5/2006, 26.
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Insoweit ist aber – worauf die Kläger wohl sinngemäß abstellen - allein ein langjähriger
Aufenthalt im Bundesgebiet regelmäßig nicht ausreichend, um eine in diesem
Zusammenhang grundsätzlich zu fordernde Verwurzelung in die hiesigen Verhältnisse
und eine Entwurzelung im Heimatland zu begründen.
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Der weitere geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung (§ 124
Abs. 2 Nr. 3 VwGO) rechtfertigt die Zulassung der Berufung ebenfalls nicht, weil die
Kläger – wie ausgeführt – nicht dargelegt haben, dass die von ihnen als grundsätzlich
klärungsbedürftig aufgeworfene Frage, ob der Widerruf einer Aufenthaltserlaubnis nach
§ 43 Abs. 1 Nr. 4 AuslG auch für die Vergangenheit zulässig ist, entscheidungserheblich
ist.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung
ergeht gemäß §§ 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 2, 72 Nr. 1 GKG
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar. Das Urteil des Verwaltungsgerichts ist rechtskräftig.
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