Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 09.02.2009

OVG NRW: grundstück, aufschiebende wirkung, gebäude, wohnhaus, gestaltung, terrasse, schnittstelle, luft, bautiefe, einsichtnahme

Oberverwaltungsgericht NRW, 10 B 1713/08
Datum:
09.02.2009
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
10. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
10 B 1713/08
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Arnsberg, 4 L 740/08
Tenor:
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des
Verwaltungsgerichts Arnsberg vom 5. November 2008 wird
zurückgewiesen.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens
einschließlich der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 2.500,00 EUR
festgesetzt.
Gründe:
1
Die Beschwerde hat keinen Erfolg.
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Die in der Beschwerdebegründung dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat
gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, führen nicht zu einer Änderung der
angefochtenen Entscheidung, mit der das Verwaltungsgericht es abgelehnt hat, die
aufschiebende Wirkung der Klage gegen die dem Beigeladenen erteilte
Baugenehmigung vom 15. September 2008 anzuordnen.
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Der Einwand, das Verwaltungsgericht habe den Sachverhalt nicht gemäß § 86 Abs. 1
VwGO von Amts wegen hinreichend ermittelt und es insbesondere unterlassen, eine
Ortsbesichtigung durchzuführen, greift nicht durch. Das Beschwerdegericht prüft in dem
durch § 146 Abs. 4 VwGO vorgegebenen Rahmen selbstständig, ob ein Anspruch der
Antragstellerin auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegeben ist.
Unabhängig davon ist das vorliegende Karten- und Lichtbildmaterial hinreichend
aussagekräftig, um eine Beurteilung auch ohne Ortsbesichtigung vornehmen zu können.
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Die für die Errichtung eines Einfamilienhauses auf dem Grundstück des Beigeladenen
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erteilte Baugenehmigung verstößt nicht gegen Vorschriften des öffentlichen
Bauplanungs- und Bauordnungsrechts, die auch dem Schutz der Antragstellerin zu
dienen bestimmt sind.
Die von der Antragstellerin geltend gemachten Zweifel an der Einhaltung der
Abstandflächen sind unberechtigt. Nach den genehmigten Bauvorlagen wird gegenüber
ihrem Grundstück die nach § 6 Abs. 1, 4, 5 und 6 BauO NRW erforderliche
Abstandfläche eingehalten. Bei der Ermittlung der maßgeblichen Wandhöhe (§ 6 Abs. 4
Satz 2 BauO NRW) wurde zutreffend auf die natürliche Geländeoberfläche abgestellt
und die Anschüttung unberücksichtigt gelassen. Für eine von der Antragstellerin für
möglich gehaltene Verschiebung der Grundstücksgrenze zu ihren Lasten ergeben sich
angesichts des im amtlichen Lageplan dargestellten eindeutigen Grenzverlaufs keine
Anhaltspunkte.
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Der von der Antragstellerin im Hinblick auf die Höhe des Vorhabens geltend gemachte
Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot liegt unter Würdigung des
Beschwerdevorbringens und des darin in Bezug genommenen Schriftsatzes vom 7.
November 2008 nicht vor.
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§ 34 Abs. 1 BauGB entfaltet nachbarschützende Wirkung nur über das im
Tatbestandsmerkmal des Einfügens verankerte Rücksichtnahmegebot. Für die
Annahme einer Rücksichtslosigkeit in diesem Sinne reicht es nicht aus, dass ein
Vorhaben sich nicht in jeder Hinsicht innerhalb des Rahmens hält, der durch die
Bebauung der Umgebung gebildet wird. Hinzu kommen muss objektivrechtlich, dass es
im Verhältnis zu seiner Umgebung bewältigungsbedürftige Spannungen erzeugt, die
potentiell ein Planungsbedürfnis nach sich ziehen, und subjektivrechtlich, dass es die
gebotene Rücksichtnahme speziell auf die in seiner unmittelbaren Nähe vorhandene
Bebauung vermissen lässt.
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Vgl. BVerwG, Urteil vom 25. Februar 1977 - IV C 22.75 -, BRS 32 Nr. 77; Beschluss vom
13. Februar 1981 - 4 B 14.81 -, BRS 38 Nr. 82.
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Die Einhaltung der Abstandflächen nach § 6 BauO NRW schließt eine Prüfung des
planungsrechtlichen Gebots der Rücksichtnahme weder grundsätzlich noch regelmäßig
aus.
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Die Annahme eines Lex-Specialis-Verhältnisses zwischen den Regelungen des § 6
BauO NRW und dem in § 34 Abs. 1 BauGB enthaltenen Gebot der Rücksichtnahme
verbietet sich schon wegen ihrer Zugehörigkeit zu verschiedenen Rechtsgebieten mit
unterschiedlicher Zweckrichtung und unterschiedlicher Gesetzgebungskompetenz.
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Vgl. Rechtsgutachten des BVerfG vom 16. Juli 1954 - 1 PBvV 2/52 -, BVerfGE 3, 407 ff.
und BVerwG, Urteil vom 7. Dezember 2000 - 4 C 3.00 - BRS 63 Nr. 160 zum Verhältnis
der nachbarschützenden Vorschrift des § 46 NBauO (in NRW § 51 Abs. 7 BauO NRW)
zum Gebot der Rücksichtnahme.
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Die landesrechtliche Vorschrift des § 6 BauO NRW gehört zum Bauordnungsrecht,
während § 34 BauGB eine Regelung des bundesrechtlichen Bodenrechts ist.
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Das Bundesverwaltungsgericht geht in seiner Rechtsprechung davon aus, dass beide
Rechtsvorschriften selbständig zu prüfen sind und das bauplanungsrechtliche Gebot der
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Rücksichtnahme auch verletzt sein kann, wenn die landesrechtlichen
Abstandsvorschriften eingehalten werden.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 11. Januar 1999 - 4 B 128.98 -, BRS 62 Nr. 102 mit weiteren
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Nachweisen.
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In der genannten Entscheidung hat es allerdings auch ausgeführt, dass das Gebot der
Rücksichtnahme zumindest im Regelfall nicht verletzt sein wird, wenn die
Abstandflächenvorschriften eingehalten sind.
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Das Verwaltungsgericht weist in dem angefochtenen Beschluss zu Recht darauf hin,
dass das Oberverwaltungsgericht des Landes Nordrhein-Westfalen - entsprechend
dieser Rechtsprechung - im Falle der Einhaltung der bauordnungsrechtlichen
Abstandflächen grundsätzlich keinen Verstoß gegen das nachbarschützende Gebot der
Rücksichtnahme angenommen hat. Mit § 6 BauO NRW habe der Gesetzgeber insoweit
regelmäßig abschließend festgelegt, welches Maß an Rücksichtnahme der Bauherr
seinen Nachbarn schulde und wann diesem ein Vorhaben auf dem Nachbargrundstück
unzumutbar sei. Unter diesen Gesichtspunkten lasse sich deshalb bei gewahrten
Abstandflächen eine Rücksichtslosigkeit des Vorhabens nicht begründen.
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Vgl. OVG NRW Urteil vom 29. August 2005 - 10 A 3138/02 - und Urteil vom 22. August
2005 - 7 A 806/04 -.
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Diese Rechtsprechung bedarf - in Abstimmung mit dem ebenfalls für Baurecht
zuständigen 7. Senat - nach der Novellierung des § 6 BauO NRW durch das 2. Gesetz
zur Änderung der Landesbauordnung für das Land Nordrhein-Westfalen vom 12.
Dezember 2006 (GV.NRW. S. 614) und nach dessen Inkrafttreten am 28. Dezember
2006 der Modifizierung. Der Senat hat danach bereits ausgeführt, dass es fraglich
erscheint, ob an der bisherigen Rechtsprechung zur Einhaltung der Abstandflächen als
Indiz für die Beachtung des Rücksichtnahmegebots in vollem Umfang festzuhalten ist,
nachdem das Abstandflächenrecht zugunsten einer besseren Ausnutzbarkeit der
Grundstücke und zu Lasten der Nachbarn geändert worden ist.
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Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 27. Juni 2008 - 10 B 866/08 - und vom 29. September
2008 - 10 A 3575/07 -.
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Zwar hat sich der nordrhein-westfälische Gesetzgeber anders als andere Bundesländer
gegen die Übernahme des § 6 Musterbauordnung 2002 und damit gegen eine
Reduzierung des Abstandflächenrechts auf ein sicherheitsrelevantes Minimum
entschieden. Im Gesetzentwurf der Landesregierung (vom 31.08.2006, LT- Drucks.
14/2433, Seite 11) wird zu Sinn und Zweck des novellierten nordrhein- westfälischen
Abstandflächenrechts ausführt:
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"Die Notwendigkeit von Regelungen über Abstandflächen ergibt sich aus Gründen des
Städtebaus, der Sicherung einer ausreichenden Belichtung, des Brandschutzes sowie
der Wahrung des nachbarlichen Wohnfriedens (Sozialabstand). Die Regelungen des §
6 sollen im Hinblick auf diese Belange dem Nachbarn ein angemessenes Maß an
Schutz garantieren, aber zugleich auch den Standard dessen festlegen, was ein
Nachbar an Bebauung in welchem Abstand hinzunehmen hat. Damit soll gewährleistet
bleiben, dass auch weiterhin entsprechend der bisherigen Rechtsprechung das Gebot
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der Rücksichtnahme hinsichtlich der Schutzziele des Abstandflächenrechts erfüllt ist,
wenn die nach § 6 vorgeschriebenen Abstandflächen auf dem Grundstück eingehalten
werden".
Dieses weitgehende Bekenntnis zur bisherigen Rechtsnatur des Abstandflächenrechts
einschließlich seiner städtebaulichen Funktion darf aber nicht darüber hinwegtäuschen,
dass der nordrhein-westfälische Gesetzgeber mit der Novelle das bisher geltende
Abstandflächensystem überwiegend zu Lasten des Nachbarn geändert hat. Dabei folgt
eine entscheidende Verkürzung der Abstandflächen aus dem Wegfall des sogenannten
Schmalseitenprivilegs.
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Vgl. hierzu OVG NRW, Beschluss vom 22. Januar 2007 - 10 B 2456/06 - BauR 2007,
1021 und zu den weiteren Änderungen im Einzelnen Schulte, Abstände und
Abstandflächen in der Schnittstelle zwischen Bundes- und Landesrecht - Der neue § 6
BauO NRW und seine Bezüge zum Bauplanungsrecht - BauR 2007, 1514, 1518 ff.
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Nach der neuen Rechtslage ist die Einhaltung der Abstandflächen nicht alleiniges
Kriterium für die Beachtung des Rücksichtnahmegebots. Der bisherige Automatismus
erweist sich dort als sachwidrig, wo es zu einer nachhaltigen Verkürzung der
Abstandflächen durch die Novelle gekommen ist. In solchen Fällen ist eine
eigenständige Prüfung des Gebots der Rücksichtnahme angezeigt. Im übrigen kann die
Einhaltung der Abstandflächen für die Wahrung des Gebots der Rücksichtnahme
aussagekräftig sein.
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Im vorliegenden Fall kann nicht festgestellt werden, dass das Vorhaben des
Beigeladenen der Antragstellerin gegenüber rücksichtslos ist. Das Vorhaben, das einem
der Wohnzimmerfenster und der Terrasse des Wohngebäudes der Antragstellerin
gegenüber liegt, führt zwar zu gewissen Beeinträchtigungen; die von der Antragstellerin
behauptete erdrückende Wirkung auf ihr Grundstück ist jedoch nicht gegeben.
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Eine erdrückende Wirkung hat die Rechtsprechung angenommen, wenn eine bauliche
Anlage wegen ihrer Ausmaße, ihrer Baumasse oder ihrer massiven Gestaltung ein
benachbartes Grundstück unangemessen benachteiligt, indem es diesem förmlich "die
Luft nimmt", wenn für den Nachbarn das Gefühl des "Eingemauertseins" entsteht oder
wenn die Größe des "erdrückenden" Gebäudes auf Grund der Besonderheiten des
Einzelfalls - und gegebenenfalls trotz Wahrung der erforderlichen Abstandflächen -
derartig übermächtig ist, dass das "erdrückte" Gebäude oder Grundstück nur noch oder
überwiegend wie eine von einem "herrschenden" Gebäude dominierte Fläche ohne
eigene baurechtliche Charakteristik wahrgenommen wird.
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Vgl. OVG NRW, Urteil vom 29. August 2005 - 10 A 3138/02 -, juris, Beschlüsse vom 13.
Januar 2005 - 10 B 971/05 -, juris, vom 15. Mai 2002 - 7 B 558/02 -, juris, vom 21. März
2007 - 7 B 137/07 - und vom 28. März 2008 - 7 B 274/08 -.
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Von einer solchen Wirkung kann angesichts der konkreten Lage und Größe der
Gebäude, die sich ohne weiteres aus dem vorliegenden Karten- und Bildmaterial ergibt,
nicht die Rede sein. Ihr steht bereits entgegen, dass das Vorhaben des Beigeladenen
mit einer vergleichsweise geringen Bautiefe von 10,50 m dem über 32 m tiefen Gebäude
der Antragstellerin nur teilweise gegenüber liegt. Auch wenn das Bauvorhaben infolge
der Hanglage und seiner Zweigeschossigkeit deutlich höher ist als das eingeschossige
Wohnhaus der Antragstellerin stehen die Gebäude gleichberechtigt nebeneinander.
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Ein Rücksichtslosigkeit des Vorhabens ergibt sich auch nicht im Hinblick auf die geltend
gemachte Verschattung und die Möglichkeit eines Einblicks auf das Grundstück der
Antragstellerin. Maßgeblich ist auch insoweit, was einerseits dem
Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmeverpflichteten
nach Lage der Dinge zuzumuten ist. Dabei sind u.a. die topografischen Verhältnisse, die
Lage der Grundstücke zueinander, die Größe der Grundstücke sowie die
Schutzbedürftigkeit und Schutzwürdigkeit bestehender Nutzungen von Bedeutung.
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Vgl. OVG NRW, Urteil vom 22. August 2005 - 10 A 3611/03 -, Beschluss vom 29.
Oktober 2001 - 10 B 891/01 - und Urteil vom 18. Dezember 2003 - 10 A 2512/00 -.
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Zwar wird das Wohnhaus der Antragstellerin zu bestimmten Jahreszeiten von einer
Verschattung durch das Bauvorhaben betroffen sein. Dies macht das Bauvorhaben für
sie jedoch noch nicht unzumutbar. In einem bebauten innerstädtischen Wohngebiet
muss immer damit gerechnet werden, dass Nachbargrundstücke innerhalb des durch
das Bauplanungs- und das Bauordnungsrecht (insbesondere § 6 BauO NRW)
vorgegebenen Rahmens baulich ausgenutzt werden und es durch eine Bebauung zu
einer Verschattung des eigenen Grundstücks bzw. von Wohnräumen kommt.
Entsprechendes gilt auch für Einsichtsmöglichkeiten, die in einem bebauten Gebiet
üblich sind und regelmäßig hingenommen werden müssen. Dass entsprechende
Einsichtsmöglichkeiten von dem bislang unbebauten Vorhabensgrundstück nicht
bestanden, rechtfertigt keine andere Beurteilung. Denn die Antragstellerin kann nicht
beanspruchen, dass das Grundstück nicht oder nur so bebaut wird, dass die Möglichkeit
eines Einblicks nicht gegeben ist. Angesichts der in der Umgebung vorhandenen
mehrgeschossigen Bebauung (H.---straße 9, I. Straße 4 bis 14) musste die
Antragstellerin damit rechnen, dass das Grundstück des Beigeladenen mehr als nur
eingeschossig bebaut wird. Die bestehende Hanglage rechtfertigt keine anderen
Erwartungen. Die behaupteten Einsichtsmöglichkeiten aus den Fenstern im
Obergeschoss führen nicht dazu, dass der Antragstellerin kein Rückzugsraum auf ihrem
großzügig geschnittenen Grundstück verbleibt, zumal sich die Antragstellerin durch
Anpflanzungen auch unter Wahrung der nach zivilem Nachbarrecht erforderlichen
Pflanzabstände gegen Einsichtnahme schützen kann.
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Soweit die Antragstellerin vorträgt, dass in dem Vorhaben größere Fenster eingebaut
worden seien als genehmigt, kann dies im vorliegenden Verfahren nicht berücksichtigt
werden, da eine abweichende Bauausführung die Rechtmäßigkeit der
Baugenehmigung nicht berührt.
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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 2 und 3, 162 Abs. 3 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung stützt sich auf §§ 53 Abs. 3 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 152 Abs. 1 VwGO.
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