Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 15.11.2005

OVG NRW: wirtschaftliche einheit, grundstück, beitragspflicht, aufteilung, anschlussbeitrag, abwasseranlage, vollstreckung, vollstreckbarkeit, zivilprozessordnung, steuerrecht

Oberverwaltungsgericht NRW, 15 A 2728/04
Datum:
15.11.2005
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
15. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
15 A 2728/04
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Minden, 5 K 4408/03
Tenor:
Das angegriffene Urteil wird unter Zurückweisung der weitergehenden
Berufung teilweise geändert:
Der Beitragsbescheid der Beklagten vom 12. März 2003 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 22. April 2003 wird aufgehoben,
soweit ein Beitrag von mehr als 3.907,80 Euro festgesetzt wurde. Im
Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge tragen der Kläger zu 2/5
und die Beklagte zu 3/5.
Der Beschluss ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der
jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch
Sicherheitsleistung in Höhe des beizutreibenden Betrages abwenden,
wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung
Sicherheit in dieser Höhe leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 9.378,72 Euro
festgesetzt.
G r ü n d e :
1
I.
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Wegen des entscheidungserheblichen Sach- und Streitstandes wird auf den Tatbestand
des angegriffenen Urteils sowie auf die zweitinstanzlich gewechselten Schriftsätze
Bezug genommen.
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II.
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Der Senat entscheidet nach Anhörung der Beteiligten durch Beschluss gemäß § 130a
der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Die zulässige Berufung ist überwiegend
begründet. Das Verwaltungsgericht hat die zulässige Klage zu Unrecht fast vollständig
abgewiesen. Der Beitragsbescheid der Beklagten vom 12. März 2003 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 22. April 2003 ist nur in Höhe von 3.907,80 Euro
rechtmäßig. Im Übrigen ist er rechtswidrig und verletzt die Rechte des Klägers, sodass
er insoweit gemäß § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO aufzuheben ist.
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Der angefochtene Bescheid rechtfertigt sich dem Grunde nach aus § 8 des
Kommunalabgabengesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen (KAG NRW) in
Verbindung mit der Beitrags- und Gebührensatzung zur Entwässerungssatzung vom 20.
Juli 1984 in der im Jahre 2002 nach der Kanalisierung der Straße L. U. geltenden
Fassung (BGS). Nach § 2 Abs. 1 Buchst. b BGS unterliegen Grundstücke der
Beitragspflicht, die an die öffentliche Abwasseranlage angeschlossen werden können
und für die eine bauliche oder gewerbliche Nutzung nicht festgesetzt ist, wenn sie nach
der Verkehrsauffassung Bauland sind und nach der geordneten baulichen Entwicklung
der Stadt zur Bebauung anstehen. Das trifft für eine Teilfläche des Flurstücks 179 der
Flur 4 der Gemarkung M. zu.
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Grundstück i.S.d. § 8 KAG NRW und auch gemäß der Beitrags- und Gebührensatzung
zur Entwässerungssatzung (vgl. § 2 Abs. 3 BGS) ist die wirtschaftliche Einheit, also
jeder demselben Eigentümer gehörenden Teil der Grundfläche, der selbstständig
baulich oder gewerblich genutzt werden darf und selbstständig an die Anlage
angeschlossen werden kann.
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Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 22. März 2005 - 15 A 300/05 -, KStZ 2005, 155.
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Ausgangspunkt bei der Bildung wirtschaftlicher Einheiten ist allerdings das
Buchgrundstück, denn in der Mehrzahl der Fälle sind Grundstücke im Sinne des
Grundbuchrechts zugleich auch wirtschaftliche Einheiten. Davon ausgehend ist hier
festzustellen, ob das Flurstück 179 zur Bildung einer wirtschaftlichen Einheit um
Flächen verkleinert werden muss. Die Beantwortung der Frage, ob es sich bei einem
Buchgrundstück um eine wirtschaftliche Einheit oder mehrere handelt, beurteilt sich
nicht nach der tatsächlichen, sondern der zulässigen Nutzung des Grundstücks. Sie
hängt von den tatsächlichen Umständen wie Lage, Zuschnitt und Größe des
Grundstücks und von rechtlichen Gesichtspunkten, nämlich der Zuordnung des
Grundstücks zu einem bestimmten Baugebiet und den hierfür festgesetzten
Bezugsgrößen für Maß und Art der baulichen Nutzung, ab. Dazu hat das beschließende
Gericht nähere Kriterien entwickelt.
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Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 2. September 2003 - 15 A 1982/03 -, S. 3 des amtl.
Umdrucks.
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In einem unbeplanten Gebiet kann Anhaltspunkt für die Aufteilung eines
Buchgrundstücks in mehrere wirtschaftliche Einheiten die sich für die Aufstellung eines
Bebauungsplans aufdrängende wirtschaftlich sinnvolle Grundstücksnutzung unter
Berücksichtigung eines in diesem Bereich schon vorhandenen baulichen Bestandes
sein. Bei einem zwischen zwei parallelen zum Anbau bestimmten Straßen gelegenen
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Grundstück kann eine solche Aufteilung auch in einer Querteilung in je eine durch eine
der beiden Straßen erschlossene wirtschaftliche Einheit bestehen.
Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 24. November 2000 - 15 B 1769/00 -, S. 3 des amtl.
Umdrucks.
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Hier handelt es sich um ein zwischen 80 und 90 m tiefes und etwa 18 m breites
Flurstück, das sich zwischen zwei Anbaustraßen erstreckt, nämlich der Hauptstraße und
der L1. U. . Im Bereich der Hauptstraße bis zu einer Tiefe von etwas unter 40 m ist es
bebaut, zur L1. U. hin ist es unbebaut, aber bebaubar. Die Fläche zwischen der
Hauptstraße und der L1. U. ist durchweg jeweils zu den beiden Straßen hin bebaut,
wobei die Grundstücke im Gegensatz zu dem hier in Rede stehenden Flurstück 179
regelmäßig nicht von Straße zu Straße durchlaufen. Die Nachbarflurstücke im Bereich
der L1. U. östlich des klägerischen Flurstücks 179 weisen Tiefen von etwa 37 m auf.
Auch befindet sich dort ein etwa 17 m breites bebautes Grundstück.
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Angesichts dieser tatsächlichen Verhältnisse gehört das Flurstück 179 zwei
wirtschaftlichen Einheiten an, nämlich einer zur L1. U. orientierten und einer aus den
Flurstücken 179 und 180 gebildeten und zur Hauptstraße orientierten wirtschaftlichen
Einheit. Wo genau die Grenze dieser wirtschaftlichen Einheiten auf dem Flurstück 179
verläuft, kann offen bleiben, da angesichts der Tiefenbegrenzung beitragsrechtlich von
beiden Seiten nur eine jeweils 40 m tiefe Fläche erfasst wird und sich diese Flächen
nicht überschneiden.
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Für die so zur L1. U. hin zu bildende wirtschaftliche Einheit aus dem Flurstück 179 ist
die Beitragspflicht mit Verlegung der Kanäle in der Straße L. U. im Jahre 2002
entstanden. Die Beitragspflicht entsteht nämlich gemäß § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG NRW
und § 4 Abs. 1 Satz 1 BGS, sobald das Grundstück an die Abwasseranlage
angeschlossen werden kann, was für das im unbeplanten Innenbereich gelegene
klägerische Grundstück zu dem besagten Zeitpunkt der Fall war.
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Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts macht die Satzung das Entstehen
der Beitragspflicht hier nicht von einem tatsächlichen Anschluss abhängig. Das ergibt
sich schon aus § 4 Abs. 1 BGS, der das Entstehen der Beitragspflicht regelt. Er sieht
den tatsächlichen Anschluss als Beitragsentstehungsvoraussetzung nur für eine
Fallkonstellation vor, nämlich für Grundstücke ohne Baulandcharakter nach § 2 Abs. 2
BGS. Richtig ist, dass nach § 3 Abs. 1 Satz 1 BGS Maßstab für den Anschlussbeitrag
die Grundstücksfläche ist, dass nach Satz 2 eine Regelung für den Begriff der
Grundstücksfläche auch unter Festsetzung einer Tiefenbegrenzung getroffen wird, dass
Satz 3 anordnet, dass bei über die Tiefenbegrenzung hinausreichender Bebauung die
tatsächliche Bautiefe für die Grundstücksfläche maßgeblich ist, und dass nach Satz 4
der Vorschrift die Tiefe des Grundstücks gemessen wird von der Seite, an der der
Anschluss besteht.
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Aus diesem Regelungssystem kann nicht geschlossen werden, dass entgegen § 4 Abs.
1 BGS die Beitragspflicht in allen Fällen, in denen eine Tiefenbegrenzung einschlägig
ist, oder gar für alle unbeplanten Grundstücke ein tatsächlicher Anschluss
Voraussetzung für das Entstehen der Beitragspflicht sein soll. § 8 Abs. 7 Satz 2 letzter
Halbsatz KAG NRW, der die satzungsrechtliche Bestimmung eines späteren Zeitpunkts
des Entstehens der Beitragspflicht als den Zeitpunkt der Anschlussmöglichkeit einräumt,
gibt für die Auslegung des § 3 Abs. 1 Satz 4 BGS entgegen der Auffassung des
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Verwaltungsgerichts nichts her.
Vgl. dazu, dass es sich dabei um eine Übergangsvorschrift, nicht um die generelle
Einräumung der Möglichkeit der Bestimmung eines abweichenden
Beitragsentstehungszeitpunkts handelt, OVG NRW, Urteil vom 18. Mai 1999 - 15 A
2880/96 -, NWVBl. 2000, 300 (302).
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Es bedarf hier keiner Untersuchung, was genau mit § 3 Abs. 1 Satz 4 BGS geregelt
werden soll, jedenfalls muss diese Vorschrift zur Vermeidung von Widersprüchen mit
der Regelung des Entstehens der Beitragspflicht in § 4 Abs. 1 BGS wörtlich
dahingehend verstanden werden, dass sie allein die Art der Berechnung der
Tiefenbegrenzung bei tatsächlich vorhandenem Anschluss betrifft. Da das hier in Rede
stehende Grundstück, verstanden als die oben bezeichnete wirtschaftliche Einheit aus
dem Flurstück 179, nicht angeschlossen ist, hat die Vorschrift im vorliegenden Fall keine
Bedeutung. Somit ergibt sich für die wirtschaftliche Einheit aus dem Flurstück 179, die
eine Fläche von 780 m² aufweist, der im Tenor ausgeworfene Anschlussbeitrag.
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Ein Teil der übrigen Fläche des Flurstücks 179 und ein Teil des Flurstücks 180, für die
möglicherweise als eigenständige wirtschaftliche Einheit mit der Verlegung der Kanäle
in der Hauptstraße ebenfalls ein Beitrag entstanden ist, wird nicht von dem hier
angefochtenen Beitragsbescheid erfasst. Ein Beitragsbescheid muss den Beitrag nach
Art und Betrag bezeichnen und insgesamt inhaltlich hinreichend bestimmt sein (§ 12
Abs. 1 Nr. 3 Buchst. b und Nr. 4 Buchst. b KAG NRW i.V.m. §§ 119 Abs. 1 und 157 Abs.
1 Satz 2 der Abgabenordnung). Dazu gehört, dass erkennbar wird, für welchen
Sachverhalt ein Beitrag erhoben wird, was der Beitragsgegenstand sein soll.
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Vgl. zum Steuerrecht BFH, Urteil vom 13. September 1995 - II R 80/92 -, BFHE 178, 468
(470); Trzaskalik, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, FGO, Loseblattsammlung (Stand:
Oktober 2005), § 157 AO Rn. 5; Tipke, in: Tipke/Kruse, AO, FGO, Loseblattsammlung
(Stand: September 2005), § 157 AO Rn. 9.
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Beitragsgegenstand ist das anschließbare Grundstück. Hier wurde durch den
angefochtenen Bescheid in Gestalt des Widerspruchsbescheides der
Beitragsgegenstand dahin konkretisiert, dass das zu den Kanälen in der Straße L. U. hin
anschließbare Grundstück veranlagt werden sollte. Das ist das oben im Einzelnen
bezeichnete Grundstück. Nicht veranlagt wurde demnach durch den Bescheid, dass zu
den Kanälen in der Hauptstraße hin anschließbare Grundstück, auch wenn ein Teil der
Fläche dieses Grundstücks von dem Beitragsbescheid in der irrtümlichen Annahme, sie
gehöre zu dem zu den Kanälen in der Straße L. U. hin anschließbaren Grundstück,
erfasst werden sollte. Dem Gericht ist es verwehrt, durch vollständige und teilweise
Auswechselung des Grundstücks dem Beitragsbescheid einen anderen
Beitragsgegenstand unterzuschieben, um jenen von der Summe her ganz oder teilweise
aufrecht zu erhalten. Damit würde das Gericht den Bescheid nicht mit einer andere
Begründung ganz oder teilweise aufrecht erhalten, sondern inhaltlich ändern, wozu es
nicht befugt ist. Die Beklagte, die den Bescheid möglicherweise inhaltlich ändern
könnte, hat dies nicht getan, sondern allein auf Aufforderung des Verwaltungsgerichts
verschiedene Berechnungen vorgelegt.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die
vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 der
Zivilprozessordnung.
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Die Revision ist nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO
nicht vorliegen.
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Die Streitwertentscheidung beruht auf §§ 13 Abs. 2, 14 Abs. 1 Satz 1 des
Gerichtskostengesetzes a.F. (anwendbar gemäß § 72 Abs. 1 Nr. 1 des
Gerichtskostengesetzes in der zurzeit geltenden Fassung).
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