Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 07.06.2005

OVG NRW: unterkunftskosten, sozialhilfe, anteil, wohnung, pflegekind, haushalt, aufteilung, rechtfertigungsgrund, entlastung, auszahlung

Oberverwaltungsgericht NRW, 12 A 4382/03
Datum:
07.06.2005
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
12. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
12 A 4382/03
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Köln, 18 K 2803/01
Tenor:
Auf die Berufung wird das angefochtene Urteil geändert. Die Klage wird
abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens beider
Rechtszüge.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig
vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch
Sicherheitsleistung in Höhe des beizutreibenden Betrages abwenden,
wenn nicht die Beklagte zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
T a t b e s t a n d:
1
Die Klägerin bezog von der Beklagten Hilfe zum Lebensunterhalt sowie für ihre im
gleichen Haushalt lebende, am 1990 geborene Enkeltochter XY Pflegegeld nach dem
SGB VIII.
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Die Hilfe zum Lebensunterhalt einschließlich Unterkunftskosten bewilligte die Beklagte
mit Bescheiden vom 23. Mai 2000 für den Monat Juni 2000 und vom 1. Juli 2000 für den
Monat Juli 2000 unter jeweiliger Anrechnung eines Pflegegeldmietanteils in Höhe von
298,77 DM. In dem Bescheid vom 1. Juli 2000 waren neben der Klägerin ihr Ehemann,
den sie im Oktober 1999 geheiratet hatte und der
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ebenfalls in der Wohnung wohnte als weiterer Sozialhilfebezieher sowie die
Pflegetochter aufgeführt. Als Unterkunftskosten wurden in dem Bescheid die vollen
Mietkosten zuzüglich einer Heizkostenpauschale von monatlich insgesamt 1.064,82 DM
berücksichtigt.
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Die gegen die Bescheide erhobenen Widersprüche begründete die Klägerin damit, dass
sie mit einer Berücksichtigung des Pflegegeldmietanteils als Einkommen nicht
einverstanden sei.
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Mit Widerspruchsbescheid vom 28. Februar 2001 wies die Beklagte die Widersprüche
als unbegründet zurück. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus: Der im
Pflegegeld enthaltene Mietanteil sei bedarfsmindernd bei der Berechnung der
Unterkunftskosten in Anrechnung gebracht worden. § 77 Abs. 1 BSHG stehe dem nicht
entgegen. Zu berücksichtigen sei, dass neben den Hilfeempfängern eine weitere
Person (das Kind) die Wohnung bewohne, die sich an den Unterkunftskosten zu
beteiligen habe. Das Pflegegeld nach dem SGB VIII diene gerade dazu, den gesamten
wiederkehrenden Bedarf des Kindes, zu dem auch die Unterkunftskosten gehörten,
sicherzustellen. Aus diesem Grund könne auch das Pflegegeld nach dem BSHG nicht
mit dem Pflegegeld nach § 39 SGB VIII verglichen werden.
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Am 11. April 2001 hat die Klägerin Klage erhoben und zu ihrer Begründung im
Wesentlichen geltend gemacht, das Pflegegeld dürfe insgesamt nicht auf die Sozialhilfe
angerechnet werden.
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Die Klägerin hat erstinstanzlich beantragt,
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die Beklagte unter Aufhebung der Bescheide vom 23. Mai 2000 und 1. Juli 2000 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Februar 2001 zu verpflichten, die
Sozialhilfe der Klägerin für die Monate Juni und Juli 2000 neu zu berechnen und ohne
Einkommensanrechnung in Höhe eines pauschalierten Mietanteils aus dem Pflegegeld
der Pflegetochter T. A. zu bewilligen sowie den Fehlbetrag in Höhe von 597,54 DM
(305,52 EUR) nachzuzahlen.
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Die Beklagte hat erstinstanzlich beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte mit Urteil vom 13. Oktober 2003 antragsgemäß
verpflichtet und die Berufung zugelassen. Wegen der Einzelheiten der Begründung wird
auf die Urteilsgründe verwiesen.
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Die Beklagte hat gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Berufung eingelegt und zur
Begründung ihr Vorbringen aus dem erstinstanzlichen Verfahren wiederholt und vertieft.
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Die Beklagte beantragt,
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das angefochtene Urteil zu ändern und die Klage abzuweisen.
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Die Klägerin beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten sowie den Inhalt der Gerichtsakten -
auch zu den Verfahren 18 K 9470/98 und 18 K 6638/03 - Bezug genommen.
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E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
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Die Berufung ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg.
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Für die ausgesprochene Verpflichtung der Beklagten zur "Neuberechnung der
Sozialhilfe" fehlt es an einer rechtlichen Grundlage.
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Soweit die Beklagte darüber hinaus verpflichtet worden ist, der Klägerin weitere
Leistungen zu bewilligen, besteht darauf kein Anspruch.
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Nach der ständigen sozialhilferechtlichen Rechtsprechung ist davon auszugehen, dass
jedem Hilfesuchenden ein eigener Anspruch auf Sozialhilfe zusteht, der sich aus der
Differenz des individuellen Bedarfs und der ihm zuzurechenden Mittel bzw. bereits
gewährten Sozialhilfeleistungen ergibt.
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Vgl. zum Einzelanspruch auf Sozialhilfe: BVerwG, Urteil vom 17. Dezember 2003 - 5 C
25.02 -, NJW 2004, 2541 ff.
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Nach den hier noch maßgeblichen Bestimmungen der §§ 11, 12, 13, 21, 22 des
Bundessozialhilfegesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 23. März 1994
(BGBl. I S. 646) - BSHG, der Regelsatzverordnung in der Fassung der Änderung durch
Gesetz vom 23. Juli 1996 (BGBl. I S. 1088) und der Verord-nungen über die Regelsätze
der Sozialhilfe vom 25. Mai 1999 (GV NRW S. 209) und 30. Mai 2000 (GV NRW S. 496)
hatte die Klägerin für die Monate Juni und Juli 2000 einen laufenden Bedarf an Hilfe
zum Lebensunterhalt, der durch die bereits bewilligten Sozialhilfeleistungen
sozialhilferechtlich hinreichend gedeckt worden ist.
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Der Bedarf der Klägerin an laufender Hilfe zum Lebensunterhalt für die Monate Juni und
Juli 2000 ergab sich aus dem Regelsatzbedarf (547 DM bzw. ab Juli 550 DM), den
Kosten der Kranken- und Pflegeversicherung (217,56 DM) sowie den anteiligen
Unterkunftskosten. Die Unterkunftskosten beliefen sich für den gesamten Haushalt
einschließlich Heizkosten auf monatlich 1064,82 DM. Sie waren der Klägerin allerdings
nur zu dem auf sie entfallenden Anteil als sozialhilferechtlicher Bedarf zuzurechnen.
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Nach den Grundsätzen über die Aufteilung der Unterkunftskosten innerhalb von
Bedarfsgemeinschaften ist, wenn mehrere Personen gemeinsam eine Wohnung
bewohnen, unabhängig davon, ob sie sozialhilfebedürftig sind oder nicht und wie alt sie
sind, regelmäßig eine Zuordnung des Unterkunftskostenbedarfs nach Kopfteilen
vorzunehmen.
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Vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 21. Januar 1988 - 5 C 68.85 -, BVerwGE 79, 17.
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Danach ergäbe sich ein Unterkunftskostenanteil von einem Drittel, d.h. in Höhe von
354,94 DM, der auf die Klägerin entfiele. Eine hiervon abweichende Zuordnung kommt
nach der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts dann in Betracht, wenn der
Hilfefall durch sozialhilferechtlich bedeutsame Umstände gekennzeichnet ist, wie etwa
bei einem besonders zu berücksichtigenden Bedarf an Unterkunft bei dem
Hilfesuchenden oder einer anderen Person der Haushaltsgemeinschaft aufgrund von
Behinderung oder Pflegebedürftigkeit. Ob der vorliegende Sachverhalt Besonderheiten
aufweist, die eine abweichende Zuordnung in dem Sinne rechtfertigen, dass der
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Enkeltochter ein Anteil nicht in Höhe eines Drittels der Unterkunftskosten, sondern nur
des Pflegegeldmietanteils zuzuordnen war, sodass auf die Klägerin die Hälfte der
Differenz zwischen diesem Anteil und der Gesamtmiete, d.h. ein Betrag von
(aufgerundet) 383,03 DM entfiel, kann letztlich offen bleiben. Denn eine solche
Zuordnung begünstigte die Klägerin im Vergleich zu einer Aufteilung der
Unterkunftskosten nach Kopfteilen. Jedenfalls bietet der Zweck des Pflegegelds aber
keinen Rechtfertigungsgrund dafür, das Pflegekind aus der sozialhilferechtlichen
Zuordnung der Unterkunftskosten völlig herauszunehmen. Unabhängig von der Zahlung
des Pflegegelds fand eine Nutzung der Wohnung durch das Pflegekind statt, deren
Umfang im Rahmen eines hier in Betracht zu ziehenden pauschalierenden Ansatzes im
Wege der Anteilsbildung dem Pflegekind auch - unter entsprechender Entlastung der
Klägerin - zuzurechnen war.
Der sozialhilferechtliche Bedarf der Klägerin belief sich hiernach für Juni 2000 bei
Zuordnung eines Drittels der Unterkunftskosten auf 1119,50 DM bzw. bei Zuordnung
des höheren Unterkunftskostenanteils von 383,03 DM auf 1147,59 DM. Für Juli 2000
belaufen sich die Beträge infolge der Regelsatzerhöhung um 3 DM auf 1122,50 DM
bzw. 1150,59 DM. Dem standen Leistungsbewilligungen der Beklagten an die Klägerin
gegenüber, die 1147,59 DM für Juni bzw. 1150,59 DM für Juli 2000 betrugen. Der
Klägerin wurde danach neben dem Regelsatz eines Haushaltsvorstands und dem
Beitrag zur Kranken- und Pflegeversicherung (durch unmittelbare Auszahlung an die
Versicherung) ein auf alle Fälle ausreichender Betrag anteiliger Unterkunftskosten
bewilligt.
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Hierbei ist die Bewilligung dahin zu verstehen, dass der Klägerin ein Anteil der
Unterkunftskosten in Höhe von 383,03 DM zugeordnet wurde, der sich ergibt, wenn von
dem Gesamtbetrag in Höhe von 1064,82 DM der Anteil der Pflegetochter in Höhe von
298,77 DM abgezogen und die Differenz (766,05 DM) halbiert, d.h. gleichmäßig der
Klägerin und ihrem Ehemann zugeordnet wird.
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Soweit das Verwaltungsgericht die Bewilligung dahin verstanden hat, dass die Beklagte
auf den sozialhilferechtlichen Anspruch der Klägerin den Pflegegeldmietanteil von
298,77 DM im Wege der Einkommensanrechnung angerechnet hat (vgl. Urteilsgründe
Seite 6, erster Absatz sowie S. 9 erster Absatz), mag dies bei isolierter Betrachtung der
ursprünglichen Bewilligungsentscheidungen zutreffen. Aus den Ausführungen des
Widerspruchsbescheides vom 28. Februar 2001 ergibt sich allerdings, dass die
Beklagte von dem oben genannten geringeren Unterkunftskostenbedarf der Klägerin
ausgegangen ist. Sie hat der Klägerin danach die Hälfte der um den
Pflegegeldmietanteil reduzierten Gesamtkosten als Unterkunftsleistung zugeordnet (vgl.
die Ausführungen S. 2 letzter Absatz des Widerspruchsbescheids). Damit hat sie
jedenfalls im Nachhinein eine andere Zuordnung getroffen, die sich zugunsten der
Klägerin auswirkte, weil sich dadurch die ihr auf ihren Einzelanspruch auf Sozialhilfe
bewilligte Hilfe erhöhte.
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Ob das gezahlte Pflegegeld nach sozialhilferechtlichen Maßstäben Einkommen der
Klägerin war, das nach § 77 Abs. 1 BSHG für einen anderen Zweck bestimmt war, ist
deshalb hier nicht entscheidungserheblich.
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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt
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aus § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
Die Revision wird nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO
nicht gegeben sind.
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