Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 31.05.2001

OVG NRW: einreise, ausländer, ausreise, ernährung, abschiebung, erkenntnis, druck, menschenwürde, aufenthalt, debatte

Datum:
Gericht:
Spruchkörper:
Entscheidungsart:
Tenor:
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Aktenzeichen:
Vorinstanz:
Oberverwaltungsgericht NRW, 16 B 388/01
31.05.2001
Oberverwaltungsgericht NRW
16. Senat
Beschluss
16 B 388/01
Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, 17 L 289/01
Die Beschwerde der Antragsteller wird zugelassen, soweit sie im Wege
der einstweiligen Anordnung die Gewährung laufender Grundleistungen
gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes für die Zeit
vom 7. Februar 2001 bis zum 31. Mai 2001 anstreben; der weitergehende
Antrag auf Zulassung der Beschwerde wird abgelehnt.
Der angefochtene Beschluss des Verwaltungsgerichts wird teilweise
geändert. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung
verpflichtet, den Antragstellern für die Zeit vom 7. Februar 2001 bis zum
31. Mai 2001 laufende Grundleistungen iSv § 3 Abs. 1 Satz 1
Asylbewerberleistungsgesetz zu gewähren.
Die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens beider Instanzen tragen
die Antragsteller zu je einem Zehntel und der Antragsgegner zu vier
Fünfteln.
Gründe:
Der Senat legt das Rechtsmittelbegehren der Antragsteller dahingehend aus, dass sie die
vorläufige Gewährung nicht nur von Leistungen gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG, also von
(Sach-)Leistungen zur Deckung des notwendigen Bedarfs insbesondere an Ernährung,
Unterkunft und Heizung, sondern auch von Geldleistungen iSv § 3 Abs. 1 Satz 4 AsylbLG
erstreiten möchten. Die Formulierung "Grundleistungen gem. § 3 AsylbLG" im
erstinstanzlich gestellten Antrag lässt keinen Raum für eine Differenzierung nach einzelnen
Bestandteilen der auch vom Gesetz unter der Bezeichnung "Grundleistungen" in § 3
AsylbLG zusammengefassten Hilfen; außerdem verdeutlichen die Ausführungen der
Antragsteller zum Tatbestand des § 1a Nr. 1 AsylbLG, dass sie sich gegen jegliche
Leistungskürzung wenden.
Andererseits geht der Senat mangels entgegenstehender Anhaltspunkte davon aus, dass
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die Antragsteller mit ihrem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht auch
Hilfen erstreben, die nach der Systematik des Sozialhilferechts - in Abgrenzung zu den
laufenden Leistungen zur Sicherstellung des täglichen Lebensbedarfs - dem Bereich der
einmaligen Leistungen iSv § 21 Abs. 1a BSHG zuzuordnen wären, während sie nach dem
Asylbewerberleistungsgesetz insbesondere als Kleidung bzw. unter dem Begriff der
"Gebrauchsgüter des Haushalts" dem Grundbedarf iSv § 3 Abs. 1 Satz 1 BSHG unterfielen.
Das Vorbringen der Antragsteller gibt nämlich nicht zu erkennen, dass sie einen
(eilbedürftigen) dahingehenden Bedarf hätten.
Soweit das Verwaltungsgericht den Tatbestand des § 1a Nr. 1 AsylbLG bejaht und aus
diesem Grunde (auch) Leistungen nach § 3 Abs. 1 Satz 4 AsylbLG abgelehnt hat, sind
keine Zulassungsgründe ersichtlich.
Hinsichtlich der in der Rechtsmittelschrift genannten Zulassungsgründe entsprechend §
124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO (besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten der
Rechtssache) und § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO (grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache)
fehlt es bereits an hinreichenden Darlegungen. Die Ausführungen zu den genannten
Zulassungsgründen befassen sich ausschließlich mit der Frage, ob als Rechtsfolge des §
1a Nr. 1 AsylbLG auch - wegen der Möglichkeit einer freiwilligen Ausreise - ein
vollständiger Entzug laufender Hilfeleistungen in Betracht kommt; zum Tatbestand des § 1a
Nr. 1 AsylbLG bzw. zur Möglichkeit einer Versagung auch der Geldleistungen nach § 3
Abs. 1 Satz 4 AsylbLG verhalten sich die Darlegungen zu § 124 Abs. 2 Nr. 2 und Nr. 3
VwGO jedoch nicht.
Auch der Zulassungsgrund entsprechend § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO (ernstliche Zweifel an
der Richtigkeit des angefochtenen Beschlusses) greift im Hinblick auf die Gewährung von
Geldleistungen iSv § 3 Abs. 1 Satz 4 AsylbLG nicht ein.
Der Senat bezweifelt zunächst nicht, dass das Verwaltungsgericht zu Recht den
Tatbestand des § 1a Nr. 1 AsylbLG bejaht hat. Es hat eingehend begründet, dass die
Antragsteller in die Bundesrepublik Deutschland eingereist sind, um Leistungen nach dem
Asylbewerberleistungsgesetz zu erlangen. Es hat aus der Mittellosigkeit der Antragsteller
bei ihrer Einreise, ihrer frühzeitigen Sozialhilfebeantragung, den ungünstigen
wirtschaftlichen Verhältnissen auch der in R. lebenden Verwandten der Antragsteller, den
objektiv schlechten Aussichten auf eine Erwerbstätigkeit, den zu vermutenden Kenntnissen
der Antragsteller über die ungünstige Lage auf dem deutschen Arbeitsmarkt und nicht
zuletzt dem geringen Gewicht der vorgebrachten Einreisegründe in überzeugender Weise
zusammenfassend den Schluss gezogen, dass die soziale Absicherung des Aufenthalts im
Bundesgebiet von prägender Bedeutung für den Einreisewunsch der Antragsteller war. Die
hiergegen in der Antragsschrift vorgebrachten Einwände sind nicht geeignet, ernstliche
Zweifel an der Einschätzung des Verwaltungsgerichts über die Einreisemotive der
Antragsteller hervorzurufen. Soweit sich die Antragsteller damit auseinandersetzen, dass
das Verwaltungsgericht ihnen das Absehen von einer förmlichen Asylbeantragung
gleichsam als negatives Verfolgungsindiz zur Last gelegt habe, könnte das allenfalls dann
rechtliche Bedenken begründen, wenn allein aus dieser Überlegung heraus eine
Verfolgung der Kläger in Jugoslawien und eine darauf wesentlich beruhende
Ausreisemotivation verneint worden wäre. Das ist jedoch nicht der Fall. Das
Verwaltungsgericht hat sich vielmehr in erster Linie mit den Schilderungen der Antragsteller
zu ihren Fluchtgründen befasst und ist zutreffend zu der Erkenntnis gelangt, dass nichts
Überzeugendes für eine Verfolgung der Antragsteller in Jugoslawien bzw. zumindest -
subjektiv - für eine nachvollziehbare Verfolgungsfurcht spreche; der Hinweis auf den
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fehlenden Asylantrag erfolgte lediglich ergänzend ("zudem müssen sie sich entgegen
halten lassen ​"). Die Antragsteller haben in der Zulassungsschrift auch nichts vorgetragen,
was eine verfolgungsbedingte Ausreise plausibel machen könnte. Sie beschränken sich
nach wie vor auf ganz allgemeine Aussagen und stellen nicht einmal klar, ob für ihre
Ausreise nichtstaatliche Repressionen ausschlaggebend waren, wofür der Hinweis auf "die
in Serbien bestehende Roma-Verfolgung und Diskriminierung, der auch auf Seiten des
serbischen Staates und der Behörden keinerlei Regularien entgegengesetzt werden"
sprechen könnte, oder ob es sich, wie der behauptete "Druck und die Drangsalierung
seitens der serbischen Militärs und der Polizei" vermuten lässt, schwerpunktmäßig doch
um staatlich veranlasste Rechtsverletzungen gehandelt hat. Das Rechtsmittelvorbringen
setzt sich auch nicht mit der indiziell bedeutsamen Feststellung im angefochtenen
Beschluss auseinander, dass die frühzeitige Ausstellung einer Ausfertigung der
Heiratsurkunde nicht ohne weiteres mit der auch im Rechtsmittelschriftsatz wieder
behaupteten "überstürzten Ausreise" in Übereinstimmung gebracht werden kann.
Schließlich passt es auch weder zu den pauschal vorgetragenen polizeilichen
Nachstellungen noch zu der gleichfalls angegebenen allgemeinen Diskriminierung, dass
der Antragsteller zu 1. angeblich bis zuletzt in Jugoslawien arbeiten und den
Lebensunterhalt der Familie sicherstellen konnte.
Die Darlegungen der Antragsteller erschüttern auch nicht die Einschätzung des
Verwaltungsgerichts über ihre Aussichten, binnen überschaubarer Zeit in der
Bundesrepublik Deutschland ohne Sozialleistungen auskommen zu können. Aufgrund der
allgemeinen Schwäche des Arbeitsmarktes und der persönlichen Voraussetzungen der
Antragsteller - geringe bzw. keine Schul- und Berufsausbildung, schlechte
Sprachkenntnisse - konnte auch nach Auffassung des Senats nicht erwartet werden, dass
sie in der näheren Zukunft eine zumindest den sozialhilferechtlichen Bedarf sicherstellende
Beschäftigung finden könnten. Angesichts dieses deutlichen Befundes konnten sich die
Antragsteller nicht weitgehend auf die Einlassung beschränken, sie hätten sich vorgestellt,
auch in Deutschland eine "irgendwie geartete Hilfsarbeit" zu finden. Vielmehr hätte
angegeben werden müssen, an welche objektiven Gegebenheiten sich diese Erwartung
geknüpft hat; dem hierzu allein vorgetragenen Umstand, dass der Antragsteller zu 1. bis
zuletzt in Jugoslawien gearbeitet hat, kann wegen der hier gänzlich anderen Lebens- und
Arbeitsverhältnisse kein nennenswertes Gewicht gegeben werden. Soweit die Antragsteller
bemängeln, die Annahmen des Verwaltungsgerichts über das bei ihnen zu unterstellende
Problembewusstsein seien "eher allgemeiner Natur" und stellten nicht hinlänglich auf den
Einzelfall ab, verkennen sie, dass die den Einzelfall kennzeichnenden Erklärungen nur von
ihnen selbst gegeben werden können, während der Antragsgegner bzw. die Gerichte in
Ermangelung aussagekräftiger individueller Darlegungen notwendigerweise darauf
angewiesen sind, die wahrscheinliche Motivationslage bei der Einreise mittels allgemeiner
Erfahrungssätze zu ergründen. Dass das Verwaltungsgericht hierbei Angaben der
Antragsteller unberücksichtigt gelassen hätte oder von unzutreffenden Erfahrungssätzen
ausgegangen wäre, haben die Antragsteller nicht dargelegt.
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Beschlusses treten auch nicht
insoweit zutage, als das Verwaltungsgericht aus der Bejahung des Fortbestandes des § 1a
Nr. 1 AsylbLG die Konsequenz gezogen hat, dass den erwachsenen Antragstellern der
Barbetrag gemäß § 3 Abs. 1 Satz 4 AsylbLG in Höhe von je 80 DM versagt werden durfte.
Der Senat geht in Übereinstimmung mit der diesbezüglichen Rechtsprechung und Literatur
davon aus, dass im Fall des § 1a AsylbLG in der Regel zumindest für einen begrenzten
Zeitraum die Leistungen nach § 3 Abs. 1 Satz 4 AsylbLG gänzlich entzogen werden
können.
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Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 22. Juni 1999 - 24 B 1088/99 -; OVG Berlin, Beschluss
vom 12. November 1999 - 6 SN 203.99 -, FEVS 51, 267 = DVBl 2000, 68 (69); Birk, in Lehr-
und Praxiskommentar zum BSHG, § 1a AsylbLG Rn. 6; Decker, ZFSH/SGB 1999, 398
(401), und in Oestreicher/Schelter/Kunz/Decker, BSHG (Loseblatt-Kommentar, Stand:
September 2000), Anhang zu § 120, § 1a Rn. 21a; Deibel, ZFSH/SGB 1998, 707 (714);
Hauk, ZFSH/SGB 1999, 650 (651); Hohm, NVwZ 1998, 1045 (1046), und im
Gemeinschaftskommentar zum AsylbLG (GK-AsylbLG; Loseblatt, Stand: Dezember 2000),
Teil III, § 1a Rn. 192 bis 195; möglicherweise modifizierend ("Einschränkung oder
Streichung") Streit/Hübschmann, ZAR 1998, 266 (271).
Da es sich insoweit um Leistungen handelt, die über den - gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1
AsylbLG als Sachleistung zu deckenden - "notwendigen Bedarf an Ernährung, Unterkunft,
Heizung, Kleidung, Gesundheits- und Körperpflege und Gebrauchs- und Verbrauchsgütern
des Haushalts" hinausgehen, bleibt dem jeweiligen Hilfe Suchenden trotz der Versagung
des Barbetrages das Existenznotwendige erhalten. Das Fehlen des Geldbetrages von
monatlich 80 DM wird im Regelfall zur Folge haben, dass Aufwendungen für
zwischenmenschliche Kontakte (Kosten für Fortbewegung, Post, Fernkommunikation,
anlassbezogene Geschenke), für Bildung bzw. Unterhaltung (Lektüre, Besuch
kostenpflichtiger öffentlicher Veranstaltungen) und für Genussmittel wie Tabakwaren
hintangestellt werden müssen. Der Senat bezweifelt nicht, dass einem ohnehin
ausreisepflichtigen Ausländer derartige wirtschaftliche Einbußen zumindest während des
Zeitraums zugemutet werden können, über den üblicherweise - und auch vorliegend - im
Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes iSv § 123 Abs. 1 VwGO zu befinden ist. Auch im
Fall der Antragsteller sind keine Besonderheiten ersichtlich, die einer Vorenthaltung
solcher Leistungen innerhalb des durch den Antrag umrissenen Zeitraums
entgegenstehen. Ob die Kürzung der Asylbewerberleistungen um den vollen Barbetrag
nach § 3 Abs. 1 Satz 4 AsylbLG auch bei einem (absehbar) längeren Aufenthalt der
Antragsteller im Bundesgebiet aufrechterhalten werden könnte, ist etwa im Hinblick darauf,
dass das Gesetz selbst Abschiebungshäftlingen 70% des Geldbetrages zugesteht (§ 3 Abs.
1 Satz 5 AsylbLG), nicht unzweifelhaft
vgl. schon OVG NRW, Beschluss vom 16. Februar 2000 - 16 B 1966/99 -,
muss hier aber nicht abschließend entschieden werden.
Im Übrigen bejaht der Senat den Zulassungsgrund entsprechend § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO
iVm § 146 Abs. 4 VwGO und entscheidet zugleich über die als bereits eingelegt geltende
Beschwerde (vgl. § 146 Abs. 6 Satz 2 Halbs. 1 iVm § 124a Abs. 2 Satz 4 VwGO), nachdem
sich die Beteiligten bereits im Zulassungsverfahren auch zur Sache selbst geäußert haben
und zudem die Entscheidung des Senats im Wesentlichen auf rechtlichen Überlegungen
und nicht auf einer überschlägigen Bewertung tatsächlicher Umstände beruht.
In diesem Umfang, das heißt im Hinblick auf die Vorenthaltung laufender Grundleistungen
iSv § 3 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG, ist die Beschwerde der Antragsteller begründet. Der
Antragsgegner ist nicht befugt, den Antragstellern die Gewährung von (unbaren)
Grundleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz in vollem Umfang bzw.
beschränkt auf ein einmaliges "Weg- und Zehrgeld" zu verweigern. Der Senat versteht die
Vorschrift des § 1a AsylbLG vielmehr dahingehend, dass als Rechtsfolge lediglich eine
Leistungsreduzierung auf das zum Leben im Geltungsbereich des
Asylbewerberleistungsgesetzes Unabweisbare möglich ist, nicht aber eine umfassende
Entziehung laufender Leistungen mit der Konsequenz, dass die betroffenen Ausländer
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entweder die Bundesrepublik Deutschland umgehend verlassen oder aber auf die
Menschenwürde verletzende und möglicherweise gesetzwidrige Formen der
Existenzbestreitung zurückgreifen müssen.
Ebenso Hessischer VGH, Beschluss vom 17. Februar 1999 - 1 TZ 136/99 -, FEVS 51, 223
= ZFSH/SGB 2000, 299; VG Regensburg, Beschluss vom 30. November 1998 - RN 4 E
98.2134 -, NVwZ-Beilage I 6/1999, S. 63; Hohm, in GK-AsylbLG, aaO., Rn. 140 bis 157;
Streit/Hübschmann, ZAR 1998, 266 (269 f.); ebenso wohl auch Decker, jeweils aaO., und
Deibel, ZFSH/SGB 1998, 707 (714); abweichend OVG Berlin, Beschluss vom 12.
November 1999 - 6 SN 203.99 -, FEVS 51, 267 = DVBl. 2000, 68; Hauk, ZFSH/SGB 1999,
650 (651).
Der Senat stimmt dem Verwaltungsgericht zunächst insoweit zu, als sich aus dem Wortlaut
des § 1a AsylbLG einschließlich seiner Überschrift keine hinlänglich sicheren
Anhaltspunkte für die Gewährleistung des Existenzminimums im Inland im Sinne einer
"Hilfe zum Hierbleiben" herleiten lassen. Es lässt sich aber durchaus sagen, dass die
Verwendung des Begriffes "Anspruchseinschränkung" zumindest tendenziell eher mit der
Vorstellung eines durch § 1a AsylbLG nicht in Frage gestellten "Restanspruches" auf
Existenzsicherung vereinbart werden kann als mit der gesetzgeberischen Vorstellung einer
bloßen "Hilfe zur schnellstmöglichen Aufenthaltsbeendigung".
Dem Verwaltungsgericht kann auch noch darin beigepflichtet werden, dass die
Gesetzessystematik, das heißt die Gegenüberstellung des § 1a AsylbLG mit "verwandten"
Vorschriften wie insbesondere § 120 Abs. 3 BSHG, nicht gegen die vom
Verwaltungsgericht für zutreffend erachtete weitgreifende Ausschlusswirkung des § 1a
AsylbLG ins Feld geführt werden kann. Es dürfte zutreffen, dass die unterschiedlichen
Formulierungen in § 1a AsylbLG einerseits ("erhalten Leistungen ​ nur, soweit ​ unabweisbar
geboten") und in § 120 Abs. 3 BSHG andererseits ("haben keinen Anspruch") nicht zu der
Annahme zwingen, das Asylbewerberleistungsgesetz enthalte eine im Vergleich zu § 120
Abs. 3 BSHG mildere "Um-zu-Regelung", weil im Rahmen des Normvergleichs auch die
Möglichkeit der ermessensgesteuerten Hilfegewährung gemäß § 120 Abs. 1 Satz 2 BSHG
einbezogen werden muss. Umgekehrt sprechen aber nach Einschätzung des Senats auch
keine überzeugenden systematischen Argumente für das dem angefochtenen Beschluss
zugrundegelegte Normverständnis. Es drängt sich insbesondere nicht auf, die zu den
Vorschriften wie § 120 Abs. 5 BSHG, § 11 Abs. 2 AsylbLG oder § 3a des Gesetzes über die
Festlegung eines vorläufigen Wohnortes für Spätaussiedler - WoZuG - ergangene
Rechtsprechung, der zufolge in der Regel nur Reise- und Verpflegungskosten als
"unabweisbar geboten" angesehen werden, auch auf § 1a AsylbLG zu beziehen. Denn die
genannten drei Vorschriften regeln lediglich Fälle, in denen sich Hilfebezieher innerhalb
der Bundesrepublik Deutschland am "falschen" Ort aufhalten, so dass die - dauerhafte -
Hilfegewährung im Bundesgebiet als solche nicht in Frage gestellt ist. Die Befolgung der
den innerstaatlichen Aufenthaltsort bestimmenden Zuweisungsentscheidungen ist in § 120
Abs. 5 BSHG, § 11 Abs. 2 AsylbLG und § 3a WoZuG gleichsam als Bedingung für die
weitere Hilfegewährung ausgestaltet. Die vergleichsweise rigorosen hilferechtlichen
Konsequenzen eines Verharrens am "falschen" innerstaatlichen Aufenthaltsort vermögen
schon deshalb keine grundlegenden rechtspolitischen Bedenken auszulösen, weil in aller
Regel erwartet werden kann, dass die betroffenen Hilfesuchenden dem auf sie ausgeübten
wirtschaftlichen Druck nicht standhalten und sich alsbald nach der Hilfeeinstellung an den
ihnen innerhalb Deutschlands zugewiesenen Wohnort (zurück-)begeben. Eine solche
Erwartung kann - mit Auswirkungen auf das Verständnis des Begriffes des "im Einzelfall
nach den Umständen unabweisbar Gebotenen" - nicht unbesehen auf den Personenkreis
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übertragen werden, für den die Regelung des § 1a AsylbLG geschaffen worden ist.
Vgl. etwa Decker, in Oestreicher/ Schelter/Kunz/Decker, aaO., Rn. 21 (m.w.N.).
Es ist vielmehr davon auszugehen, dass Ausländer, die - oft unter erheblichen finanziellen
Opfern - aus wirtschaftlichen Gründen in die Bundesrepublik Deutschland eingereist sind
(vgl. § 1a Nr. 1 AsylbLG) oder die eine drohende Vollziehung aufenthaltsbeendender
Maßnahmen hintertrieben haben (vgl. § 1a Nr. 2 AsylbLG), nach der Versagung bzw.
Einstellung laufender Hilfeleistungen nicht stets bzw. typischerweise unverzüglich in ihren
Heimatstaat zurückkehren werden, so dass sich in diesen Fällen weitaus eher das Problem
des fortbestehenden Aufenthalts von Personen ohne jede Existenzgrundlage im
Bundesgebiet stellen würde. Das kann nicht ohne Auswirkung auf die vom
Verwaltungsgericht angenommene Übertragbarkeit der Rechtsprechung zu Vorschriften
wie § 120 Abs. 5 BSHG auf den hier einschlägigen § 1a AsylbLG bleiben.
Auch der (objektive) Regelungszweck gibt entgegen der Auffassung des
Verwaltungsgerichts keine deutlichen Anhaltspunkte dafür, was unter den "im Einzelfall
nach den Umständen unabweisbar gebotenen" Leistungen iSv § 1a AsylbLG zu verstehen
ist bzw. ob eine vollständige Leistungsversagung in Betracht kommt, wenn dem
Hilfesuchenden im Einzelfall eine Ausreise und Rückkehr in den Herkunftsstaat möglich
und zumutbar ist.
Vgl. dazu auch Hohm, NVwZ 1998, 1045 (1046).
So deutlich der Vorschrift der Zweck entnommen werden kann, einen hinsichtlich der
Einreisemotivation bzw. wegen der Abschiebungsvereitelung als "missbräuchlich"
erscheinenden Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland durch eine Anspruchs- bzw.
Leistungseinschränkung zu sanktionieren und so einen gewissen Rückkehrdruck zu
erzeugen, so wenig Erfolg verspricht es, aus dem Regelungszweck zugleich verlässliche
Hinweise darauf abzuleiten, mit welcher Intensität die genannten Zwecke durch § 1a
AsylbLG verfolgt werden sollen; eindeutig ist nur die Richtung, in die § 1a AsylbLG wirken
soll, nicht aber der Grad der beabsichtigten Wirkung. Das Ziel einer Sanktionierung
missbräuchlichen Einreise- und Verweilverhaltens und der damit verbundenen
Differenzierung zwischen Aufenthaltsfällen mit und ohne derartige Missbrauchsmerkmale
lässt sich ebenso wie der gewollte Ausreisedruck auch schon durch eine (nur noch) die
Menschenwürde im Blick behaltende Kürzung der "Hilfe zum Hierbleiben" auf das
Mindestmögliche verwirklichen; die Versagung selbst einer solchermaßen reduzierten Hilfe
wiese demgegenüber keine grundlegend andere finale Tendenz auf.
Für die Klärung der Frage nach der Reichweite möglicher Hilfekürzungen nach Maßgabe
von § 1a AsylbLG muss daher auch auf die Motive des Gesetzgebers abgestellt werden.
Vorliegend führen die geäußerten Vorstellungen der gesetzgebenden Organe bei der
Schaffung der genannten Vorschrift mit hinlänglicher Verlässlichkeit zu der Erkenntnis,
dass der Umfang der unabweisbar gebotenen Hilfe iSv § 1a AsylbLG nicht davon abhängt,
ob dem Leistungsbegehrenden sofortige Verlassen der Bundesrepublik Deutschland
möglich und zumutbar ist; der Ablauf des Gesetzgebungsverfahrens und die dabei
abgegebenen Stellungnahmen lassen erkennen, dass jedenfalls am Ende der
gesetzgeberischen Beratungen kein vollständiger Ausschluss laufender Hilfeleistungen als
Rechtsfolge des neugeschaffenen § 1a AsylbLG (mehr) gewollt war.
Dabei spricht Einiges dafür, dass zu Beginn des Gesetzgebungsverfahrens im September
1997 noch an einen vollständigen Anspruchs- bzw. Leistungsausschluss in
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Missbrauchsfällen gedacht worden ist. Im ersten Gesetzentwurf des Senats von Berlin
- BR-Drucks. 691/97; abgedruckt auch im GK-AsylbLG, Teil II, Rn. 80 -,
hatte es noch - in deutlicher Anlehnung an § 120 Abs. 3 BSHG - geheißen:
"Leistungsberechtigte nach Absatz 1 Nr. 5, die sich in das Bundesgebiet begeben haben,
um Leistungen nach diesem Gesetz zu beziehen, haben keinen Anspruch. Leistungen
können gewährt werden, soweit dies im Einzelfall nach den Umständen unabweisbar
geboten ist. ​"
In der Allgemeinen Begründung zu diesem ersten Entwurf hieß es zur Verdeutlichung des
Regelungsgrundes:
"Ein Ausschluss der Leistungsgewährung nach dem AsylbLG an diesen Personenkreis ist
selbst in den Fällen, in denen der Antragsteller offen bekundet, dass seine Motive für die
Einreise in die Bundesrepublik Deutschland nur in der Gewährung von Sozialleistungen zu
sehen sind, nach derzeitiger Gesetzeslage nicht möglich.
Eine an § 120 Abs. 3 BSHG (Um-Zu- Regelung) orientierte Regelung im AsylbLG ist daher
unbedingt erforderlich."
(BR-Drucks. 691/97; GK-AsylbLG, aaO, Rn. 82)
Schon in dem auf die Berliner Initiative hin erstellten Gesetzentwurf des Bundesrates war
die Normüberschrift "Anspruchseinschränkung" enthalten, und der Wortlaut der
konzipierten Vorschrift entsprach, soweit vorliegend relevant, der Fassung, wie sie später
Gesetz geworden ist. Noch auffälliger ist, verglichen mit der Begründung des Senats von
Berlin, die abgemilderte Formulierung in der Allgemeinen Begründung des
Bundesratsentwurfs:
"Nach der derzeitigen Rechtslage besteht keine Möglichkeit, den Rechtsanspruch auf
Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) einzuschränken
[Hervorhebung durch das Gericht], selbst wenn die in Höhe und Umfang uneingeschränkte
Inanspruchnahme von Leistungen in bestimmten Fallgruppen als rechtsmissbräuchlich
anzusehen ist. ​ Eine Einschränkung [Hervorhebung durch das Gericht] der
Leistungsgewährung an diesen Personenkreis ist selbst in den Fällen, in denen der
Antragsteller offen bekundet, dass seine Motive für die Einreise in die Bundesrepublik
Deutschland nur in der Gewährung von Sozialleistungen zu sehen sind, nach derzeitiger
Gesetzeslage nicht möglich."
(BR-Drucks. 691/97; GK-AsylbLG, aaO, Rn. 90)
Die Debatten bei den nachfolgenden Lesungen im Deutschen Bundestag waren auch von
der teilweise massiven Kritik aus dem außerparlamentarischen Raum - mit Schlagworten
wie "Vertreibung durch Aushungern" - gekennzeichnet. So wurde von mehreren Rednern
der (damaligen) Oppositionsparteien, zum Teil mittels der einprägsamen Formel einer
möglichen Hilfebeschränkung auf "Rückfahrkarte und Butterbrot", gegen eine
grundlegende Verschlechterung der Leistungspraxis gegenüber ausreisepflichtigen
Ausländern Stellung genommen. Die Abgeordnete Brigitte Lange (SPD) machte bei der
ersten Lesung des Gesetzesvorhabens im Bundestag am 26. März 1998
- abgedruckt im GK-AsylbLG, aaO., Rn. 95 -
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deutlich, dass es Gruppen von Ausländern gebe, denen man einen weiteren Verbleib im
Bundesgebiet nicht zugestehen könne, dass es aber andererseits für Sozialpolitiker wichtig
sei, ob man sich hierzu des Ausländerrechts oder des Sozialrechts bediene; man müsse
darüber nachdenken, ob man das Sozialrecht "als Ordnungsrecht gebrauchen" wolle,
"quasi als Ersatz für die Unmöglichkeit eines Ordnungsrechts". Der Abgeordnete Wolfgang
Lohmann (CDU/CSU), der zu Beginn der Debatte, möglicherweise sprachlich ungenau,
davon gesprochen hatte, zukünftig sollten Ausländer in Missbrauchsfällen von den
Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz ausgenommen werden, stellte
nachfolgend (unter Bezugnahme auf bosnische Bürgerkriegsflüchtlinge, die nunmehr
zurückkehren könnten) ausdrücklich klar:
"Niemand wird gerade der zuletzt erwähnten Gruppe von Menschen die Unterkunft
verweigern oder die notwendige Ernährung einschränken, wie die übertriebenen
Schlagworte dauernd heißen. Aber müssen diese Menschen weiterhin Taschengeld, Geld
für Kleidung, Geld für andere Ge- und Verbrauchsgüter oder für Miete erhalten? Ich meine,
wie Bundesrat und auch Bundesregierung: Nein."
Diese Stellungnahmen zeigen, dass jedenfalls im Bundestag die Frage, wie weitgehend
Asylbewerberleistungen in Missbrauchsfällen versagt werden sollen bzw. können, als
Problem erkannt worden ist und dabei - offensichtlich im Gegensatz zu den ursprünglichen
Intentionen des Landes Berlin - eine "Abschiebung auf kaltem Wege" durch die
Verweisung der ausreisepflichtigen Ausländer auf die wiederholt zitierte Hilfeart "Fahrkarte
und Butterbrot" nicht beabsichtigt war. Das verdeutlicht auch die Stellungnahme des
damaligen Gesundheitsministers Seehofer in der Debatte vom 26. März 1998, in der
durchgängig (lediglich) von "Leistungseinschränkung(en)" die Rede war und jeder Hinweis
auf die Möglichkeit eines vollständigen Leistungsausschlusses fehlte.
Der weitere Gang der parlamentarischen Behandlung des Gesetzesvorhabens lässt
erkennen, dass eine umfassende Hilfeversagung als mögliche Rechtsfolge eines
Missbrauchstatbestandes zunehmend weiter aus dem Blick geriet. Der
Gesundheitsausschuss des Bundestages führte nach der Überweisung des Entwurfs eine
öffentliche Anhörung von Verbänden und Fachleuten durch und gab nach mehrmaligen
Änderungen am 23. Juni 1998 eine Beschlussempfehlung ab, die in erster Linie
Modifizierungen auf der Tatbestandsseite (Personenkreis, Missbrauchsfälle) enthielt, bei
den Rechtsfolgen indessen keine neuen Formulierungen vorsah.
Vgl. zum Verfahrensgang ausführlich GK-AsylbLG, aaO., Rn. 96 bis 109.
Der schon zur Zeit der ersten Lesung im Bundestag vorherrschende Eindruck, dass durch
die Einführung des § 1a AsylbLG entsprechend der gewählten Normüberschrift wirklich nur
Leistungseinschränkungen, nicht aber vollständige Leistungsausschlüsse ermöglicht
werden sollten, prägte verstärkt auch die nachfolgenden Beratungen. Der Bericht des
Abgeordneten und Berichterstatters im Gesundheitsausschuss Lohmann (GK-AsylbLG,
aaO., Rn. 109) enthielt wie schon die erwähnte vorangegangene Bundestagsrede des
Gesundheitsministers Seehofer zur Kennzeichnung der beabsichtigten Rechtsfolgen
ausschließlich Begriffe wie "Einschränkung" oder "Beschränkung". Zu "§ 1a. Am Ende
(Leistungsumfang)" hieß es in dem Bericht:
"Der Leistungsumfang bestimmt sich nach den Umständen des Einzelfalles. Der
Ausschuss ist mehrheitlich der Auffassung, dass es sich dabei in der Regel um
Sachleistungen im Sinne von § 3 Abs. 1 Sätze 1 bis 3 in Gemeinschaftsunterkünften
handeln wird und jedenfalls bis auf besondere Ausnahmen die Leistung des Geldbetrages
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von 80 DM bzw. 40 DM nach § 3 Abs. 1 Satz 4 nicht unabweisbar geboten ist."
Auch die weiteren Debatten im Deutschen Bundestag zum Änderungsgesetz (vgl. GK-
AsylbLG Rn. 111) geben keine Anhaltspunkte für einen Fortbestand der möglicherweise
zuvor gehegten Auffassung, zumindest in einem Teil der von § 1a AsylbLG tatbestandlich
erfassten Fällen solle eine völlige Versagung laufender Leistungen möglich sein. Vielmehr
zeigt gerade die offensichtlich gewachsene Zustimmung durch Abgeordnete der SPD und
auch der Regierungspartei FDP, dass die ursprünglichen Vorbehalte in deren
Bundestagsfraktionen geringer geworden waren. Das dürfte zwar in erster Linie auf die
tatbestandliche Ausdünnung des § 1a AsylbLG zurückzuführen gewesen sein; aber es
kann angesichts der geäußerten Bedenken gegen eine ordnungsrechtliche
Instrumentalisierung des Asylbewerberleistungsrechts und angesichts des vor allem in der
SPD-Fraktion aufgegriffenen und ernstgenommenen Argwohns von Kirchenvertretern und
gesellschaftlichen Gruppen wie Wohlfahrtsverbänden und Flüchtlingshilfeorganisation über
eine vermutete Politik des "Aushungerns" von Flüchtlingen nicht angenommen werden,
dass die Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes eine so breite parlamentarische
Unterstützung erlangt hätte, wenn sie wirklich die Ermächtigung zu einer "Abschiebung auf
kaltem Wege" eingeschlossen hätte.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 155 Abs. 1 Satz 1 und 188 Satz 2 VwGO.
Dieser Beschluss ist gemäß § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.