Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 07.09.2005

OVG NRW: rücknahme, ausbildung, vertrauensschutz, anerkennung, berechtigung, verwaltungsakt, rechtswidrigkeit, behörde, qualifikation, versorgung

Oberverwaltungsgericht NRW, 13 A 1181/02
Datum:
07.09.2005
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
13. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
13 A 1181/02
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Münster, 6 K 1830/98
Tenor:
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts
Münster vom 13. Februar 2002 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
Der Beschluss ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Streitwert wird auch für das Berufungsverfahren auf 10.225,84 EUR
(= 20.000,- DM) festgesetzt.
G r ü n d e :
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I.
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Der Senat nimmt zunächst gem. § 130b Satz 1 VwGO, der auch bei Beschlüssen nach §
130a VwGO anwendbar ist,
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vgl. BVerwG, Urteil vom 25. August 1999 - 8 C 12.98 -, NVwZ 2000, 73 f;
Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Stand: September 2003,
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§ 130a Rdn. 13; Sodan/Ziekow, VwGO, Stand: Januar 2003, § 130a Rdn. 52,
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Bezug auf den Tatbestand des Urteils des Verwaltungsgerichts vom 13. Februar 2002
und macht sich die Feststellungen des Verwaltungsgerichts in vollem Umfange zu
eigen.
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Durch Urteil vom 13. Februar 2002, auf dessen Gründe Bezug genommen wird, hat das
Verwaltungsgericht den angefochtenen Rücknahmebescheid der Beklagten vom 20.
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Februar 1998 und deren Widerspruchsbescheid vom 5. Juni 1998 aufgehoben. Die
tatbestandsmäßigen Voraussetzungen für die Rücknahme der Bezeichnung "Praktische
Ärztin" seien zwar gegeben, weil die Bescheinigungen des Dr. T. unwahr gewesen
seien und die Zuerkennung der Bezeichnung auch unter Berücksichtigung der von der
Klägerin im Widerspruchsverfahren vorgelegten Erklärungen des Dott. Q. nicht möglich
gewesen sei. Die Klägerin habe somit nicht den Nachweis erbracht, dass sie die für das
Führen der Bezeichnung "Praktische Ärztin" erforderliche Ausbildung abgeschlossen
habe. Die angefochtenen Bescheide seien aber wegen Ermessensnichtgebrauchs
rechtswidrig. Die Bescheide, die keine Begründung zu einem etwaig ausgeübten
Ermessen enthielten, ließen nicht erkennen, dass die Beklagte sich überhaupt bewusst
gewesen sei, Ermessen ausüben zu müssen. Eine Heilung der wegen
Ermessensnichtgebrauch rechtswidrigen Rücknahmebescheide sei nicht möglich.
Mit ihrer - zugelassenen - Berufung macht die Beklagte geltend, tatbestandsmäßige
Voraussetzung für die Rücknahme sei nicht der Umstand gewesen, dass die Klägerin
inhaltlich falsche Bescheinigungen vorgelegt habe, sondern, dass die Klägerin ihre
Ausbildung nicht hinreichend dargelegt habe. Der Hinweis in den Bescheiden, die
wahrheitswidrigen Bescheinigungen seien von der Klägerin vorgelegt worden,
verdeutliche, dass der Klägerin auf Grund ihres arglistigen Verhaltens keinerlei
Vertrauensschutz zustehe. Die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass sie, die
Beklagte, sich des ihr zustehenden Ermessens überhaupt nicht bewusst gewesen sei,
sei deshalb nicht haltbar. Jedenfalls habe sie die die Rücknahme der Bezeichnung
"Praktische Ärztin" rechtfertigenden Ermessensüberlegungen im Laufe des gerichtlichen
Verfahrens dargelegt. Angesichts der mit der Bezeichnung verbundenen
Öffentlichkeitswirkung hätte sie auch keine andere Entscheidung als die Rücknahme
der Bezeichnung treffen können, so dass die Rücknahmebescheide auch deshalb nicht
rechtswidrig seien. Ihr Ermessen sei "auf Null" reduziert gewesen in der Weise, die
Rücknahme der Bezeichnung "Praktische Ärztin" zu verfügen. Es habe sich um eine
sog. "intendierte" Entscheidung gehandelt, die keiner näheren Begründung bedurft
habe. Vertrauensschutz im Hinblick auf getroffene Vermögensdispositionen könne der
Klägerin nicht zukommen, weil sie derartige Vermögensdispositionen nicht in Folge der
Anerkennung der Bezeichnung "Praktische Ärztin" getroffen habe, sondern allein und
ausschließlich in Ansehung ihrer Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung. Ein
wegen arglistiger Täuschung des Betreffenden rechtswidriger Verwaltungsakt sei
grundsätzlich zurückzunehmen. Die Klägerin habe sich von Anfang an im klaren
darüber sein müssen, dass eine durch die Vorlage wahrheitswidriger
Ausbildungsnachweise erschlichene Anerkennung keinen dauerhaften Bestand haben
könne.
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Die Beklagte beantragt,
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das angefochtene Urteil zu ändern und die Klage abzuweisen.
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Die Klägerin beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Sie macht weiterhin geltend, die Beklagte habe das ihr bei der Entscheidung über die
Rücknahme zustehende Ermessen fehlerhaft bzw. nicht ausgeübt und die fehlenden
Ermessensüberlegungen auch nicht im verwaltungsgerichtlichen Verfahren hinreichend
ergänzt. Die Beklagte habe nicht erkannt, dass ihr bei der Rücknahmeentscheidung
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überhaupt Ermessen zugestanden habe. Die Grundsätze über intendiertes Ermessen,
auf das die Beklagte erstmals im Berufungsverfahren hingewiesen habe, seien nicht
anwendbar. Eine Reduzierung des Ermessens der Beklagten "auf Null" sei ebenfalls
nicht zu bejahen. Der Qualitätsanspruch der Öffentlichkeit an die ärztliche Versorgung
rechtfertige nicht die Rücknahme der Anerkennung der Bezeichnung "Praktische
Ärztin". Der Zulassungsausschuss der Kassenärztlichen Vereinigung habe
dementsprechend keine Bedenken gegen ihre Zulassung gehabt. Sie habe nicht über
ihre Qualifikation getäuscht, sondern nur über die Echtheit der vorgelegten Dokumente.
Sie habe ihre Qualifikation zwischenzeitlich auch durch ihre Tätigkeit als
niedergelassene Praktische Ärztin seit 1998 nachgewiesen. Angesichts ihres
zwischenzeitlichen Qualifikationsnachweises und ihrer untadeligen Praxisführung stelle
sich die Frage, ob die Rücknahme der Bezeichnung "Praktische Ärztin" jetzt überhaupt
noch in Betracht komme.
Wegen der Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten wird Bezug genommen auf den
Inhalt ihrer Schriftsätze, wegen des Sachverhalts im Übrigen auf die Gerichtsakte und
die Verwaltungsvorgänge der Beklagten.
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II.
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Der Senat entscheidet über die Berufung der Beklagten durch Beschluss nach § 130 a
VwGO, weil er sie einstimmig für unbegründet und die Durchführung einer mündlichen
Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten sind vorher zu dieser
Entscheidungsform gehört worden. Dass die Beklagte mit einer Entscheidung durch
Beschluss nicht einverstanden ist, steht dieser Entscheidungsform nicht entgegen, weil
sie ein entsprechendes Einverständnis der Beteiligten nicht voraussetzt. Zudem verhält
sich der Schriftsatz der Beklagten vom 24. August 2005, der offensichtlich - ebenso wie
der den gerichtlichen Vergleichsvorschlag vom 10. November 2004 ablehnende
Schriftsatz vom 9. Dezember 2004 - entscheidend von einer Verärgerung über "die nicht
tolerable Vorgehensweise" der Klägerin getragen ist, nicht zu den für die Entscheidung
des Verwaltungsgerichts maßgebenden Erwägungen zur (fehlenden)
Ermessensausübung der Beklagten und lässt nicht erkennen, warum in Bezug auf diese
rechtlich allein maßgebenden Gründe eine Entscheidung durch Beschluss unterbleiben
sollte.
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Die Berufung der Beklagten ist nicht begründet. Das Verwaltungsgericht hat der Klage
der Klägerin zu Recht stattgegeben. Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 20.
Februar 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 5. Juni 1998 ist
rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.
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In Bezug auf den angefochtenen Rücknahmebescheid der Beklagten ist bei der
Anfechtungsklage - wie in anderen Fällen der Rücknahme oder des Widerrufs
heilberufsrechtlicher Erlaubnisse auch (z. B. nach §§ 5 BÄO, 4 ZHG)
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vgl. dazu BVerwG, Beschluss vom 14. April 1998 - 3 B 95.97 -, NJW 1999, 3425; Urteil
vom 16. September 1997 - 3 C 12.95 -, NJW 1998, 2756, -
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für die Beurteilung ihrer Rechtmäßigkeit abzustellen auf die maßgebende Sach- und
Rechtslage zum Zeitpunkt der Widerspruchsentscheidung. Der Senat geht deshalb von
den maßgebenden Bestimmungen im Juni 1998 aus, was eine Beantwortung der Frage
erübrigt, welche Konsequenzen sich daraus ergeben, dass während des
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Berufungsverfahrens durch das Gesetz zur Änderung des Heilberufsgesetzes vom 1.
März 2005 (GV NRW. 2005, 148) der auch in diesem Verfahren angesprochene IV.
Abschnitt - Spezifische Ausbildung in der Allgemeinmedizin - (§§ 54 bis 57) des
Heilberufsgesetzes - HeilBerG - entfallen und damit zudem die
Ermächtigungsgrundlage (früher: § 47d HeilBerG i.d.F. von 1989) für die im Verfahren
ebenfalls benannte Satzung der Beklagten vom 28. April 1990 über die Durchführung
der spezifischen Ausbildung in der Allgemeinmedizin weggefallen ist. Die Aufhebung
des bisherigen Abschnitts IV des Heilberufsgesetzes ist lediglich die redaktionelle Folge
der Umsetzung der spezifischen Ausbildung in der Allgemeinmedizin in die durch die
neu aufgenommene Regelung des § 44 a des Gesetzes vorgegebene Form (vgl. LT-
Drucks. 13/5739, S. 37). Ferner ist nicht erkennbar, dass sich durch den Wegfall des
Abschnitts IV des Heilberufsgesetzes entscheidungserhebliche Auswirkungen für das
vorliegende Verfahren ergeben, weil die Rechtsgrundlage für die Rücknahme der
Anerkennung der Berechtigung zum Führen der Bezeichnung "Praktische Ärztin" nicht
in diesem - aufgehobenen - Abschnitt des Heilberufsgesetzes liegt.
Der Senat beurteilt den angefochtenen Rücknahmebescheid der Beklagten, der selbst
keine normativen Bestimmungen für die Rücknahme der der Klägerin zuvor erteilten
Berechtigung zur Führung der Bezeichnung "Praktische Ärztin" benennt, nach - mit den
entsprechenden Bestimmungen des Verwaltungsverfahrensgesetzes des Bundes
identischen - § 48 Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes für das Land
Nordrhein-Westfalen - VwVfG NRW -, zum maßgebenden Zeitpunkt der
Widerspruchsentscheidung der Beklagten geltend in der Fassung vom 21. Dezember
1976 (GV. NRW. S. 438). Dabei kann dahinstehen, ob die Annahme des
Verwaltungsgerichts, als Rechtsgrundlage für die Rücknahmebescheide komme allein §
48 Abs. 1 VwVfG in Betracht, zutreffend ist, oder ob nicht angesichts der Regelung des §
1 Satz 1 letzter Halbsatz VwVfG NRW auch/nur § 21 Abs. 1 der Weiterbildungsordnung
- WBO - der Beklagten vom 30. Januar 1993 (MBl. NRW. 1994, 1366 ) in Betracht
kommt, weil nach § 52 Abs. 1 HeilBerG i.d.F. von April 1994 (GV. NRW. 1994, 204) bzw.
nach § 54 Abs. 1 der zum Zeitpunkt der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung
geltenden Fassung des Heilberufsgesetzes von Mai 2000 (GV. NRW. 2000, 403) die
spezifische Ausbildung in der Allgemeinmedizin nach EU-Richtlinien "Weiterbildung im
Sinne des Heilberufsgesetzes" war/ist.
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Vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 13. Juli 1999 - 9 S 2767/97 -, MedR 2000, 274
zu einer vergleichbaren Bestimmung in Baden-Württemberg.
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Selbst wenn letzteres anzunehmen wäre, müssten mangels entsprechender
Konkretisierung in der ebenfalls Ermessen einräumenden Bestimmung des § 21 WBO
die zu den §§ 48, 49 VwVfG NRW entwickelten Ermessenskriterien, die als normative
Zusammenfassung der allgemein anerkannten Ermessensgrundsätze gelten,
entnommen werden.
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Nach § 48 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 VwVfG NRW kann ein rechtswidriger
Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit
Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden.
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Die Tatbestandsseite dieser Bestimmung ist zu bejahen. Das der Klägerin im
September 1997 übersandte Zeugnis mit Ausstellungsdatum 31. Dezember 1995 über
den Abschluss der spezifischen Ausbildung in der Allgemeinmedizin und über die
Berechtigung zum Führen der Bezeichnung "Praktische Ärztin", bei dem es sich nicht
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um einen Verwaltungsakt i.S.d. § 48 Abs. 2 VwVfG NRW handelt, war rechtswidrig, weil
es der Klägerin an der erforderlichen Ausbildungszeit gefehlt hat bzw. die erforderliche
Ausbildungszeit nicht ordnungsgemäß nachgewiesen wurde. Dies hat das
Verwaltungsgericht in seinem Urteil zutreffend dargelegt, darauf wird ebenso Bezug
genommen wie auf die Begründung im Urteil des Verwaltungsgerichts zur
Rechtswidrigkeit des angefochtenen Rücknahmebescheides der Beklagten wegen
Ermessensnichtgebrauch und zur fehlenden Heilungsmöglichkeit dieses Fehlers durch
Ermessenserwägungen während des gerichtlichen Verfahrens. Von einer weiteren
Begründung wird insoweit gem. § 130b Satz 2 VwGO bzw. § 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO
abgesehen.
Ob eine Behörde ihr Ermessen rechtsfehlerfrei ausgeübt hat, ist anhand der Auslegung
der maßgebenden Bescheide zu ermitteln; daneben sind bei der Beantwortung der
Frage, ob die Behörde einen bestehenden Ermessensspielraum verkannt hat, auch die
sich aus dem gesamten Zusammenhang ergebenden Umstände zu berücksichtigen.
Ermessensfehlerhaft handelt die Behörde dann, wenn sie verkennt, dass sie Ermessen
hat, und deshalb ihr Ermessen nicht gebraucht.
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Vgl. BVerwG, Beschluss vom 15. Januar 1988 - 7 B 182/87 -, NVwZ 1988, 525; VGH
Baden-Württem-berg, Urteil vom 13. Juli 1999 - 9 S 2767/97 -, a.a.O.
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So liegt es hier. Wie bereits das Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt hat, verhalten
sich sowohl der Ausgangs- als auch der Widerspruchsbescheid der Beklagten lediglich
zur Rechtswidrigkeit der Anerkennung der Bezeichnung "Praktische Ärztin". Darüber
hinaus benennen weder der Ausgangsbescheid noch der Widerspruchsbescheid eine
ihr Ermessen einräumende Rechtsnorm als Ermächtigungsgrundlage für die getroffene
Rücknahmeentscheidung, was gegebenenfalls bei wohlwollender Auslegung als Indiz
dafür hätte gewertet werden können, dass die Beklagte das ihr zustehende Ermessen
erkannt hat. Insbesondere der Widerspruchsbescheid belegt das Gegenteil, weil er sich
erneut nur zu den Anerkennungsvoraussetzungen für das Diplom "Praktische Ärztin"
verhält, obwohl in der Sachverhaltsdarstellung unter I. die Ausführungen der Klägerin
zur Begründung ihres Widerspruchs dargestellt werden und dabei unter anderem auch §
48 VwVfG genannt wird. Die Vorschrift des § 48 VwVfG NRW wird von der Beklagten
aber erstmals erwähnt in der ersten Klageerwiderung durch Schriftsatz vom 23. März
1999.
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Die von der Beklagten in Bezug genommen Hinweise in den Bescheiden auf die
Vorlage wahrheitswidriger Bescheinigungen durch die Klägerin reichen für die
Annahme, die Beklagte habe ihr Ermessen erkannt, nicht aus. Da sich diese Hinweise
in den Ausführungen zur Rechtswidrigkeit des zurückgenommen Verwaltungsakts
befinden und damit der Tatbestandsseite des § 48 Abs. 1 VwVfG NRW zuzuordnen
sind, kann aus ihnen nicht geschlossen werden, dass das Ermessen erkannt und
dahingehend ausgeübt wurde, die Rücknahme insbesondere wegen fehlenden
Vertrauensschutzes vorzunehmen. Zwar spricht einiges dafür, dass die Klägerin wegen
der Vorlage fehlerhafter Unterlagen über ihre Ausbildungszeit nach § 48 Abs. 2 Sätze 3
und 4 VwVfG NRW Vertrauensschutz für sich nicht in Anspruch nehmen kann. Vor dem
Hintergrund, dass nach den rechtstaatlichen Geboten des Grundgesetzes auch die
Verpflichtung zur Beachtung des Vertrauensschutzes besteht und dies bei der
Rücknahme begünstigender Verwaltungsakte eine Abwägung des Vertrauens des
Begünstigten auf den Bestand des Verwaltungsakts gegenüber dem öffentlichen
Interesse an der Rücknahme erfordert, war die Darlegung von Ermessenserwägungen
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in dem angefochtenen Bescheid insbesondere deshalb geboten, weil vor dem
Rücknahmebescheid der Beklagten vom 20. Februar 1998 am 05. und 19. Februar 1998
Gespräche zwischen der Klägerin und von ihr hinzugezogenen Anwälten auf der einen
Seite und dem - den angefochtenen Rücknahmebescheid unterzeichneten -
Hauptgeschäftsführer der Beklagten auf der anderen Seite über die Konsequenzen des
fehlerhaften Handelns der Klägerin beim Antrag auf Erteilung der Bezeichnung
"Praktische Ärztin" und über das weitere Vorgehen stattgefunden haben. Nach den
entsprechenden Gesprächsvermerken in den Verwaltungsvorgängen der Beklagten
haben diese Gespräche mehr als eineinhalb bzw. zwei Stunden gedauert. Es kann
davon ausgegangen werden, dass in diesen Gesprächen von der anwaltlich vertretenen
Klägerin die aus ihrer Sicht entscheidenden und sie betreffenden Belange bezüglich
einer möglichen Rücknahme der Bezeichnung "Praktische Ärztin" sowie die
Konsequenzen für ihr weiteres berufliches Wirken ausführlich dargestellt worden sind.
Wenn diese Gespräche dann auf Seiten der Beklagten mit Aktenvermerken enden, in
denen anklingt, dass nicht mehr die Rücknahmeentscheidung selbst, sondern nur die
Frage der Anordnung ihrer sofortigen Vollziehung als erwägenswert angesehen wird,
und in denen das Wort Vertrauensschutz eben so wenig wie in dem späteren
Rücknahmebescheid auftaucht, bestätigt das die Annahme, dass die Beklagte ihr
Ermessen nicht erkannt hat.
Der von der Beklagten bemühte Grundsatz des sog. intendierten Ermessens verhilft
ihrem Begehren ebenfalls nicht zum Erfolg. Unabhängig davon, ob dieser Grundsatz im
Hinblick auf eine nach § 48 Abs. 1 und 3 VwVfG zu treffende Rücknahmeentscheidung
anwendbar ist, führte er im Regelfall lediglich zu Begründungserleichterungen im
Hinblick auf die an- und darzustellenden Ermessenserwägungen. Er vermag jedoch den
Fehler eines nicht erkannten und deshalb nicht ausgeübten Ermessens nicht zu
beheben. Im Übrigen wären hier selbst bei Bejahung eines intendierten Ermessens
gerade im Hinblick auf die der Rücknahme vorangegangenen Gespräche Ausführungen
im Rücknahmebescheid zum Vertrauensschutz für die Klägerin erforderlich gewesen.
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Schließlich lag auch keine Ermessensreduzierung auf Null vor. Zwar ist nicht
zweifelhaft, dass die Rücknahmeentscheidung bei Hinweis auf die im
Berufungsverfahren von der Beklagten vorgebrachten Argumente, dass die Klägerin
arglistig getäuscht habe, sie sich deshalb nicht auf Vertrauensschutz berufen könne,
ihre finanziellen Interessen im Ergebnis nachrangig seien etc., rechtmäßig gewesen
wäre. Gleichwohl kann unter Berücksichtigung der für die Klägerin mit Blick auf Art. 12
des Grundgesetzes relevanten Folgewirkungen der Rücknahmeentscheidung nicht
davon ausgegangen werden, dass die Rücknahme die einzig rechtmäßige
Entscheidung war.
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Die gerichtlichen Entscheidungen bedeuten nicht zwingend, dass die von der Klägerin
mit der Berechtigung zum Führen der Bezeichnung "Praktische Ärztin" erlangte Position
ein für allemal Bestand haben muss. Die Beklagte ist grundsätzlich nicht gehindert,
unter Beachtung der Kriterien der Verhältnismäßigkeit und Zumutbarkeit und unter
Berücksichtigung des § 48 Absätze 2 und 4 VwVfG NRW,
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vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 16. Dezember 1981 - 1 BvR 898/79 u. a. -, BVerfGE
59, 128; Kopp/Ramsauer, VwVfG, 9. Aufl., § 48 Rdn. 161,
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erneut eine Entscheidung zur Frage der Rücknahme der Bezeichnung "Praktische
Ärztin" für die Klägerin zu treffen.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Entscheidung über die
vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711, 713
ZPO.
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Die Revision ist nicht zugelassen worden, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2
VwGO nicht vorliegen.
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Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 13 Abs. 1 Satz 1, 14 Abs. 1 GKG a. F., § 72 Nr. 1
GKG n. F.
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