Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 20.11.2008

OVG NRW: anspruch auf rechtliches gehör, arzneimittel, anzeige, zusammensetzung, vertrauensschutz, schweigen, bestandteil, anschluss, verfahrensmangel, unternehmer

Oberverwaltungsgericht NRW, 13 A 3566/06
Datum:
20.11.2008
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
13. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
13 A 3566/06
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Köln, 7 K 4275/04
Tenor:
Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil
des Verwaltungsgerichts Köln vom 8. August 2006 wird auf Kosten der
Klägerin zurückgewiesen.
Der Streitwert wird für das Antragsverfahren auf 50.000,-- EUR
festgesetzt.
Gründe
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Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Die geltend gemachten
Zulassungsgründe, die gemäß § 124a Abs. 4 Satz 4 Verwaltungsgerichtsordnung
(VwGO) nur im Rahmen der Darlegungen der Klägerin zu prüfen sind, liegen nicht vor.
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Es bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen
Entscheidung (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Bei diesem Zulassungsgrund, der die
Einzelfallgerechtigkeit gewährleistet, kommt es nicht darauf an, ob die angefochtene
Entscheidung in allen Punkten der Begründung richtig ist, sondern nur darauf, ob
ernstliche Zweifel im Hinblick auf das Ergebnis der Entscheidung bestehen. Ernstliche
Zweifel sind dabei anzunehmen, wenn gegen die Richtigkeit der vorinstanzlichen
Entscheidung nach summarischer Prüfung gewichtige Gesichtspunkte sprechen, d. h.
wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung in
der angefochtenen Gerichtsentscheidung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage
gestellt wird.
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Vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. Juni 2000 - 1 BvR 830/00 -, NVwZ 2000, 1163;
BVerwG, Beschluss vom 10. März 2004 - 7 AV 4.03 -, DVBl. 2004, 838; OVG NRW,
Beschluss vom 30. Juni 2008 - 13 A 2201/05 -.
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Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit der Begründung abgewiesen, eine
Verlängerung der fiktiven Zulassung komme nicht in Betracht. Entweder sei durch
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Hinzunahme eines arzneilich wirksamen Bestandteils, nämlich des Hagebuttenextrakts,
nach der Anzeige vom 28. Juni 1978 eine unzulässige Änderung des Arzneimittels
vorgenommen worden oder der Hagebuttenextrakt sei bereits 1978 Bestandteil des
Arzneimittels gewesen und demzufolge eine fiktive Zulassung des in dieser
Zusammensetzung nicht angezeigten Arzneimittels gar nicht entstanden. Die gegen
diese Überlegungen vorgebrachten Einwände der Klägerin vermögen ernstliche Zweifel
an der Richtigkeit dieser Auffassung nicht aufzuzeigen.
Dass die Hinzunahme eines weiteren arzneilich wirksamen Bestandteils in dem
Zeitraum zwischen der Anzeige vom 28. Juni 1978 und dem Kurzantrag vom 2. Januar
1990 unzulässig gewesen wäre, stellt die Klägerin nicht in Abrede. Sie trägt vielmehr
vor, der in Rede stehende Bestandteil sei bereits vor der Anzeige im Jahre 1978 in dem
Arzneimittel enthalten gewesen, eine nachträgliche Änderung habe also nicht
stattgefunden.
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Die von dem Verwaltungsgericht für diese, von der Klägerin nunmehr behauptete
Sachverhaltsvariante angenommene Folge, dass eine fiktive Zulassung für das
Arzneimittel von vornherein nicht habe entstehen können, weil das Arzneimittel in dieser
Zusammensetzung nicht gemäß Art. 3 § 7 Abs. 2 AMNG angezeigt worden sei, wird von
der Klägerin im Grundsatz ebenfalls nicht in Frage gestellt. Ihr einziger Einwand in
diesem Zusammenhang geht dahin, die Schlussfolgerung des Verwaltungsgerichts
berücksichtige nicht den Umstand, dass die nachträglich erfolgte Anzeige des
Hagebuttenextrakts nur eine deklaratorische Korrektur des Anzeigeformulars der 1978er
Anzeige darstelle und keine konstitutive Änderung der Zusammensetzung des
Arzneimittels. Dieser Einwand ist unschlüssig, weil auch das Verwaltungsgericht in
dieser Sachverhaltsvariante gerade nicht von einer nachträglichen "konstitutiven"
Änderung ausgeht, sondern von dem Versuch einer bloßen Berichtigung des
Anzeigeformulars, die es aber für nicht möglich hält.
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Mit dieser - entscheidenden - Annahme des Verwaltungsgerichts, dass eine
Berichtigung der Anzeige nicht möglich sei, setzt sich die Klägerin nicht ansatzweise
auseinander, so dass ernstliche Zweifel im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nicht
dargetan sind. Es spricht im Übrigen vieles dafür, dass die Einschätzung des
Verwaltungsgerichts zutrifft. Eine nach dem 30. Juni 1978 vorgenommene "Korrektur"
dürfte schon deshalb ausscheiden, weil ab diesem Zeitpunkt die Zulassung erloschen
war. Die Abgabe nachträglicher Angaben kann nicht dazu führen, dass eine bereits
erloschene Zulassung wieder auflebt. Dies würde nämlich zu erheblichen
Rechtsunsicherheiten führen, da letztlich über lange Zeiträume unklar bliebe, ob für ein
Arzneimittel eine Zulassung besteht oder nicht. Dies widerspricht dem System der §§
31, 105 AMG, Art. 3 § 7 AMNG; mit diesen Regelungen wird ersichtlich die Herstellung
klarer Verhältnisse hinsichtlich der Weitergeltung einer Zulassung erstrebt. Auch geht es
bei den Angaben im Rahmen der Anzeige nach § 105 Abs. 2 Satz 1 AMG bzw. Art. 3 § 7
Abs. 2 Satz 1 AMNG um Angaben, welche die Identität eines Arzneimittels bestimmen.
Solche Angaben sind schon deshalb nicht frei abänderbar oder "korrigierbar", weil sonst
eine Kontrolle des Arzneimittels nicht möglich wäre und Änderungen des Arzneimittels
faktisch nicht mehr an den gesetzlichen Maßstäben messbar wären. Die tatsächliche
Zusammensetzung von Arzneimitteln wird von der Beklagten regelmäßig nicht überprüft,
und sie ist - angesichts der in den Blick zu nehmenden langen Zeiträume - auch faktisch
nicht mehr überprüfbar.
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Schließlich führt entgegen der Auffassung der Klägerin auch das Prinzip des
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Vertrauensschutzes nicht dazu, dass die Zulassung für das streitgegenständliche
Arzneimittel verlängert werden kann. Insoweit kann dahingestellt bleiben, ob es
angesichts des objektiv-rechtlichen Charakters arzneimittelrechtlicher Vorschriften
überhaupt auf Vertrauensschutz ankommen kann. Jedenfalls muss die Klägerin sich
entgegen halten lassen, dass es ihr - bzw. der früheren Zulassungsinhaberin - oblegen
hat, die Verkehrsfähigkeit ihres Arzneimittels fortwährend zu erhalten. Wird ein
Arzneimittel - wie hier - unzulässig geändert, treten die Folgen kraft Gesetzes, mithin
unabhängig von der Vorgehensweise der Zulassungsbehörde ein.
Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 20. Juni 2007 - 13 A 744/06 -, juris, mit weiteren
Nachweisen.
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Im Übrigen setzt eine Berücksichtigung von Vertrauensschutzaspekten voraus, dass von
der Beklagten ein Vertrauensschutztatbestand - d.h. ein Umstand, auf dessen Basis
Vertrauen entstehen kann - begründet worden ist. Insoweit kann dahinstehen, ob und
ggf. unter welchen Voraussetzungen ein Vertrauensschutztatbestand durch "bloßes
Schweigen" begründet werden kann.
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Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 20. Juni 2007 - 13 A 744/06 -, juris, mit weiteren
Nachweisen.
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Hier wurde jedenfalls ein Vertrauensschutztatbestand zu Gunsten der Klägerin durch
"bloßes Schweigen" nicht begründet. Dass die Beklagte der offenbar im Jahre 1979
angezeigten "Berichtigung" der Anzeige nach Art. 3 § 7 Abs. 2 AMNG nicht entgegen
getreten ist, konnte von der Rechtsvorgängerin der Klägerin nicht als ein Akzeptieren
der "Berichtigung" verstanden werden. Denn nach dem System des Art. 3 § 7 AMNG
ging es in diesem Stadium erkennbar darum, der Beklagten einen Überblick über die im
Verkehr befindlichen Arzneimittel zu verschaffen. Eine Prüfung der Verkehrs- oder
Genehmigungsfähigkeit der Arzneimittel konnte zu diesem Zeitpunkt auch aus Sicht der
pharmazeutischen Unternehmer regelmäßig noch nicht erfolgt sein.
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Vgl. auch OVG Berlin, Urteil vom 7. April 2005 - 5 B 8.03 -, juris.
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Auch aus dem "Schweigen" des BfArM nach Einreichung des Kurz- und des
Langantrags ist kein Vertrauensschutz erwachsen. Die Rechtsvorgängerin der Klägerin
wurde im Anschluss an verschiedene Änderungsanzeigen in den Jahren 1993, 1994,
1995, 1996, 1997, 1998 und 1999 jeweils mit Schreiben des Bundesgesundheitsamts
(BGA) oder des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) darauf
hingewiesen, dass mit der Entgegennahme der Änderungsanzeige eine abschließende
fachliche Beurteilung nicht verbunden sei. Auch hatte das BGA bereits im Rahmen der
6. Bekanntmachung über die Verlängerung der Zulassung nach Art. 3 § 7 AMNG vom
23. Oktober 1990 (BAnz. Nr. 206, S. 5827) darauf aufmerksam gemacht, dass eine
materielle Überprüfung der Änderungsanzeigen für fiktiv zugelassene Arzneimittel
wegen des Sachzusammenhangs mit dem Nachzulassungsverfahren in vielen Fällen
erst nach Einreichung der Dokumentationen nach Art. 3 § 7 Abs. 4 Sätze 4 bis 7 AMNG
erfolgen werde.
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In diese Richtung auch Brixius/Schneider, Nachzulassungs und AMG-
Einreichungsverordnung, 2004, S. 66 f.
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Wenn die Behörden indes der Klägerin gegenüber deutlich gemacht haben, dass die
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Entgegennahme einer förmlichen Änderungsanzeige kein positives Urteil über deren
Inhalt bedeutet, so konnte die Klägerin erst recht nicht davon ausgehen, dass eine
bereits zuvor mit formlosen Schreiben angebrachte "Berichtigung" der Anzeige nach Art.
3 § 7 AMNG von den Behörden endgültig akzeptiert worden ist. Nach alldem kann
dahinstehen, ob für den Fall, dass Vertrauensschutz zu gewähren wäre, überhaupt als
Rechtsfolge die Verlängerung der Zulassung in Betracht kommt oder nur ein
Entschädigungs- bzw. Schadensersatzanspruch.
Die Berufung ist ferner nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache
zuzulassen (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO), denn die von der Klägerin aufgeworfenen
Fragen lassen sich ohne Weiteres ohne Durchführung eines Berufungsverfahrens
beantworten. Über den vorliegenden Einzelfall hinausgehende,
verallgemeinerungsfähige Fragen tatsächlicher oder rechtlicher Art, die der
Rechtsfortbildung und/oder -vereinheitlichung dienlich und in der Berufung
klärungsbedürftig und klärungsfähig sind, hat die Klägerin nicht aufgezeigt.
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Schließlich liegt auch kein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender
Verfahrensmangel vor, auf dem die Entscheidung beruhen kann (§ 124 Abs. 2 Nr. 5
VwGO). Soweit die Klägerin die Verletzung rechtlichen Gehörs rügt und die
Entscheidung des Verwaltungsgerichts als "Überraschungsentscheidung" ansieht,
vermag der Senat ihr nicht zu folgen. Der Anspruch auf rechtliches Gehör verpflichtet
das Gericht, das Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung
zu ziehen; es darf seine Entscheidung nicht auf Tatsachen und Beweisergebnisse
stützen, zu denen die Beteiligten sich nicht vorher äußern konnten. Als unzulässiges
"Überraschungsurteil" stellt sich eine Entscheidung in diesem Zusammenhang dar,
wenn das Gericht einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen
Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit
eine Wendung gibt, mit der die Beteiligten nach dem bisherigen Verfahrensverlauf nicht
zu rechnen brauchten.
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Vgl. zuletzt BVerwG, Beschluss vom 4. August 2008 - 1 B 3.08 -, juris, Rdnrn. 10 f., m. w.
N.
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Gemessen an diesen Maßstäben ist ein Verfahrensfehler nicht dargetan. Über den für
die Klageabweisung letztlich maßgeblichen Umstand der Verwendung des
Hagebuttenextrakts ist bereits vor der mündlichen Verhandlung in den Schriftsätzen der
Beteiligten vom 3. Dezember 2004, vom 5. April 2005, vom 20. Juni 2005, vom 7.
November 2005, vom 16. Januar 2006 und vom 26. April 2006 diskutiert worden. Dass
dieser Punkt auch aus Sicht des Verwaltungsgerichts von Relevanz sein könnte, konnte
die Klägerin bereits an der in die Terminsladung vom 15. Mai 2006 aufgenommenen
Aufforderung der Kammer erkennen, zu erläutern, wann und unter welchen Umständen
das veränderte Formular der 1978er Anzeige zu den Akten gegeben worden sei. Auch
in der mündlichen Verhandlung ist, wie die Klägerin konzediert, das Problem "am
Rande" angesprochen worden. Eine vertiefte Erörterung war aus Sicht des
Verwaltungsgerichts wohl auch zwecklos, nachdem die Klägerin auf die angesprochene
Terminsladung hin mit Schriftsatz vom 6. Juni 2006 erklärt hatte, wegen des Wechsels
des Personals und des lange zurückliegenden Zeitpunkts sei eine Erläuterung der
Vorgänge im Zusammenhang mit der 1978er Anzeige nicht mehr möglich. Dass das
Verwaltungsgericht - wie die Klägerin vorträgt - nicht zu erkennen gegeben hat, dass es
seine Entscheidung auf diesen Gesichtspunkt stützen werde, ist unerheblich, denn dazu
ist das Gericht nicht verpflichtet.
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Vgl. BVerwG, Beschluss vom 4. August 2008 - 1 B 3.08 -, juris, Rdnr. 11.
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Dass das Verwaltungsgericht erklärt oder angedeutet hat, es werde die Entscheidung
nicht auf den in Rede stehenden Gesichtspunkt stützen, hat die Klägerin nicht
behauptet.
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Im Übrigen würde die Entscheidung des Verwaltungsgerichts auch nicht auf dem Fehler
beruhen. Denn die Klägerin führt insoweit lediglich an, wenn sie gewusst hätte, dass
das Verwaltungsgericht die Entscheidung auf die Verwendung des Hagebuttenextrakts
stützen würde, hätte sie einen Zeugen zu der Behauptung gestellt, dass der
Hagebuttenextrakt bereits 1978 in dem Arzneimittel enthalten war. Eben dies hat das
Verwaltungsgericht indes bei der auf S. 7 - 8 des angefochtenen Urteils erörterten
Sachverhaltsvariante unterstellt. Eine entsprechende Behauptung nebst Beweisantritt
hätte das Entscheidungsergebnis also nicht beeinflussen können.
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Aus demselben Grund verfängt auch die der Sache nach erhobene Aufklärungsrüge
nicht. Dass das Verwaltungsgericht nicht der Frage nachgegangen ist, ob der
Hagebuttenextrakt bereits 1978 in dem Arzneimittel vorhanden war, ist nicht zu
beanstanden; denn darauf kam es für die Entscheidung nicht an.
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Die Nebenentscheidungen folgen aus § 154 Abs. 2 VwGO und §§ 47 Abs. 1 u. 3, 52
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Abs. 1 GKG.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar.
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