Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 04.08.2003

OVG NRW (antragsteller, anlage, aufschiebende wirkung, prognose, windkraftanlage, haus, streitwert, begrenzung, bewertung, zuschlag)

Oberverwaltungsgericht NRW, 10 B 700/03
Datum:
04.08.2003
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
10. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
10 B 700/03
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Minden, 9 L 1484/02
Tenor:
Der angefochtene Beschluss wird geändert.
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragsteller gegen
die dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung des Antragsgegners
vom 17. Dezember 2001 wird angeordnet.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens in beiden
Rechtszügen. Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen sind
nicht erstattungsfähig.
Der Streitwert wird unter Änderung der erstinstanzlichen Wertfestsetzung
für beide Instanzen auf jeweils 3.500,-- EUR festgesetzt.
G r ü n d e :
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Die zulässige Beschwerde der Antragsteller, deren Begründung den Anforderungen des
§ 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO genügt, hat Erfolg.
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Ihr Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ist zulässig und begründet.
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Bei der im Rahmen der §§ 80 a Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3, 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmenden
Interessenabwägung überwiegt das Interesse der Antragsteller, von dem Vollzug der
angefochtenen Baugenehmigung vorerst verschont zu bleiben, das Interesse des
Beigeladenen an der sofortigen Ausnutzung der ihm erteilten Baugenehmigung.
Allerdings folgt dieses Ergebnis nicht aus der Bewertung der Erfolgsaussichten des
eingelegten Rechtsbehelfs in der Hauptsache. Diese lassen sich bei der im
vorliegenden einstweiligen Rechtsschutzverfahren allein gebotenen summarischen
Prüfung der Sach- und Rechtslage nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit
beurteilen. Die danach unabhängig von den Erfolgsaussichten der Hauptsache
anzustellende Bewertung der gegenläufigen Interessen der Antragsteller einerseits und
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des Beigeladenen andererseits geht zu Gunsten der Antragsteller aus.
Ob die hier streitige Baugenehmigung zur Errichtung einer Windkraftanlage
insbesondere hinsichtlich der mit ihrem Betrieb verbundenen Lärmbeeinträchtigungen
zu Lasten der Antragsteller gegen das nachbarschützende Gebot der Rücksichtnahme
verstößt, kann im vorliegenden Verfahren nicht abschließend entschieden werden. Dies
bleibt weiterer Aufklärung in einem eventuellen Hauptsacheverfahren vorbehalten. Die
angefochtene Baugenehmigung vom 17. Dezember 2001 enthält zwar - u.a. in den
Nebenbestimmungen "MA 8" bis "MA 10" - mehrere Nebenbestimmungen zur
Begrenzung der von der Windkraftanlage auf den Umgebungsbereich einwirkenden
Lärmimmissionen. Ob die Nebenbestimmungen allerdings sicherstellen, dass der von
der geplanten Anlage in den Nachtstunden verursachte Schalldruckpegel zusammen
mit den durch zwei weitere, im hier interessierenden Bereich bereits errichteten und in
Betrieb genommenen Windkraftanlagen erzeugten Pegeln einen Nachtwert von 45
dB(A) am Haus der Antragsteller nicht übersteigt, ist zweifelhaft. Die vom Beigeladenen
im Baugenehmigungsverfahren vorgelegte Schallprognose der Herstellerfirma F. vom
30. November 2001 beruht auf erkennbar unsicherer Basis. Sie ist daher nicht geeignet,
die auf das Haus der Antragsteller durch die streitige sowie die nordwestlich davon
gelegenen zwei weiteren Windkraftanlagen vom Typ Vestas V 80 - 2 MW einwirkenden
Lärmimmissionen hinreichend sicher zu bestimmen.
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Nach der Rechtsprechung des ebenfalls mit Bausachen befassten 7. Senats des
erkennenden Gerichts muss die Baugenehmigung auf einer Prognose der
einschlägigen Immissionsbelastungen bei Nennleistung beruhen, die "auf der sicheren
Seite" liegt. Der Prognose ist der zumeist mit einem Sicherheitszuschlag wegen
möglicher Serienstreuung versehene Schallleistungspegel zugrunde zu legen, der für
die Nennleistung bei einer Referenzmessung des selben Anlagentyps ermittelt worden
ist und in dem die gegebenenfalls ermittelten Zuschläge für besonders lästige
Auffälligkeiten enthalten sind. Der Richtwirkung der Schallabstrahlung ist
gegebenenfalls mit weiteren Zuschlägen Rechnung zu tragen. Schließlich ist in einer
Ausbreitungsrechnung nach dem alternativen Verfahren gemäß DIN ISO 9613-2,
Abschnitt 7.3.2 zu ermitteln, ob an den relevanten Immissionsorten der einschlägige
Nachtwert eingehalten wird. Ergibt die Prognose, dass die Zumutbarkeitsschwelle nicht
eingehalten wird, muss durch konkrete Betriebsregelungen - z.B. durch Begrenzung der
Immissionen der Anlage auf einen Schallleistungspegel, der unterhalb des bei
Nennleistung erzeugten Schallleistungspegels liegt - sichergestellt werden, dass die
Zumutbarkeitsschwelle nicht überschritten wird.
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Vgl. OVG NRW, Urteil vom 18. November 2002 - 7 A 2127/00 -, BauR 2003, S. 517 =
NVwZ 2003, S. 756.
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Es ist zweifelhaft, ob die Schallprognose der Firma F. vom 30. November 2001 diesen
Anforderungen gerecht wird.
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So ist nicht erkennbar, ob der in der Schallprognose vom 30. November 2001 für die
beiden Anlagen vom Typ Vestas V 80 - 2 MW jeweils eingestellte maximale
Schallleistungspegel von 102,5 dB(A) im Sinne der zitierten Rechtsprechung auf der
"sicheren Seite" liegt. Die Antragsteller haben im Berufungsverfahren Auszüge aus zwei
Prüfberichten der Firma X. vom 17. September 2001 bzw. 10. September 2002 jeweils
betreffend eine Windkraftanlage vom Typ Vestas V 80 - 2 MW vorgelegt. In den
Prüfberichten wird der Schallleistungspegel (in 10 m Höhe bei einer
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Windgeschwindigkeit von 10 m/s) mit 105,3 dB(A) bzw. 102,7 dB(A) angegeben.
Weiterhin ist im genannten Prüfbericht vom 17. September 2001 ein
Tonhaltigkeitszuschlag (von 2 dB(A)) aufgelistet, während die Schallprognose vom 30.
November 2001 einen derartigen Zuschlag für die Anlagen vom Typ Vestas nicht
enthält. Ob ein maximaler Schallleistungspegel für die beiden Anlagen vom Typ Vestas
von 102,5 dB(A) in der für diese jeweils geltende Baugenehmigung festgeschrieben und
in einer den beschriebenen Maßgaben entsprechenden Prognose abgeklärt worden ist,
ergibt sich aus den dem Senat vorliegenden Verwaltungsvorgängen des
Antragsgegners nicht. Der Antragsgegner ist den im Beschwerdeverfahren von den
Antragstellern dargelegten Zweifeln an der Richtigkeit dieses in die Schallprognose
vom 30. November 2001 eingestellten Wertes von jeweils 102,5 dB(A) nicht
entgegengetreten.
Hinsichtlich der mit der streitigen Baugenehmigung zugelassenen Anlage vom Typ F. E
66-18.70 basiert die Schallprognose vom 30. November 2001 auf falscher
Tatsachengrundlage. Während diese von einem von der geplanten Anlage des
Beigeladenen ausgehenden maximalen Schallleistungspegel von 102,3 dB(A) ausgeht,
enthält die angefochtene Baugenehmigung vom 17. Dezember 2001 neben der in der
Nebenbestimmung "MA 8" enthaltenen Begrenzung des maximalen
Schallleistungspegels auf 102,3 dB(A) in der Nebenbestimmung "MA 9" die Regelung,
dass "die Anlagengeräusche (...) in allen regulären Betriebszuständen nur eine
Tonhaltigkeit von max. 2 dB(A) beinhalten" dürfen. Diese Regelung ist nicht etwa
dahingehend zu verstehen, dass der bestimmte maximale Schallleistungspegel von
102,3 dB(A) den Tonhaltigkeitszuschlag von 2 dB(A) bereits enthält. Das folgt allein
schon aus der Erkenntnis, dass es sich bei diesem um einen Zuschlag auf den
Immissionswert handelt, während jener den Emissionspegel bestimmt. Lässt die
Baugenehmigung vom 17. Dezember 2001 damit eine Tonhaltigkeit der streitigen
Anlage zu, hätte die Schallprognose vom 30. November 2001 dies in die Berechnung
einstellen müssen. Darüber hinaus lässt die Nebenbestimmung "MA 9" der
angefochtenen Baugenehmigung außer Betracht, dass die für die Beurteilung von
Lärmimmissionen, die von Windkraftanlagen ausgehen, einschlägige TA Lärm vom 26.
August 1998 (GMBl. S. 503)
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- vgl. OVG NRW, Urteil vom 18. November 2002 - 7 A 2127/00 -, a.a.O. -
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für zuschlagpflichtige Geräuschkomponenten in den Abschnitten A.2.5.2 und A.2.5.3
des Anhangs einen Zuschlag von 3 oder 6 dB vorsieht. Liegt der Baugenehmigung
damit ersichtlich die Annahme zugrunde, dass die streitige Anlage zuschlagpflichtige
Tonhaltigkeit besitzt, stellt sich damit die Frage, ob der dafür bei der Prognose in
Rechnung zu stellende Wert entsprechend der TA Lärm richtigerweise mit einem Wert
von 3 dB(A) oder gar 6 dB(A) in Ansatz zu bringen war. Soweit das Verwaltungsgericht
im gegebenen Prüfungszusammenhang unter Berufung auf den Beschluss des OVG
NRW vom 17. Mai 2002 - 7 B 665/02 - ausführt, Zuschläge von Ton-, Informations- und
Impulshaftigkeit sowie für Prognoseunsicherheiten und Serienstreuung kämen nicht in
Betracht, weil die Baugenehmigung den immissionsrelevanten Schallleistungspegel
festsetze, gehen diese Erwägungen fehl. Der zitierte Beschluss verhält sich allein zur
Unbeachtlichkeit von Prognoseunsicherheiten und Serienstreuung bei einer in der
Baugenehmigung geregelten Begrenzung des maximalen Schallleistungspegels als
Emissionswert einer Windkraftanlage. Zuschläge auf den Immissionswert aufgrund
besonderer Geräuschkomponenten sind selbstverständlich auch bei Begrenzung des
maximalen Schallleistungspegels einer Windkraftanlage zu prüfen.
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Nach alledem ist bei derzeitiger Erkenntnislage eine Aussage über die Einhaltung des
maßgeblichen am Hause der Antragsteller nachts einzuhaltenden Lärmrichtwertes von
45 dB(A) nicht mit der erforderlichen Gewissheit möglich. Ist danach der Ausgang des
Hauptsacheverfahrens offen, geht die im Rahmen des vorliegenden Verfahrens
unabhängig von den Erfolgsaussichten des von den Antragstellern eingelegten
Widerspruchs vorzunehmende Interessenabwägung zugunsten der Antragsteller und zu
Lasten des Beigeladenen aus. Dabei greifen letztlich auch hier die dargestellten
Unsicherheiten bezüglich der Bewertung der Lärmauswirkungen der fraglichen
Windkraftanlage auf das Haus der Antragsteller durch. Die genannte Schallprognose
vom 30. November 2001 erfasst das Haus der Antragsteller als maßgeblichen
Immissionspunkt nicht; mit welchen Immissionswerten dort zu rechnen ist, ist selbst im
Hinblick auf die in die Berechnung vom 30. November 2001 eingestellten
(unzureichenden) Werte ungeklärt. Hinzu kommt, dass das Haus der Antragsteller -
einschließlich der streitigen Anlage - den Lärmimmissionen von insgesamt 3
Windkraftanlagen ausgesetzt ist. Deshalb ist eine Bewertung dahingehend, dass auch
bei höheren Pegelwerten, als sie der Prognose vom 30. November 2001 zugrunde
liegen, der nächtliche Schalldruckpegel von 45 dB(A) am ca. 550 m von der streitigen
Anlage entfernt liegenden Haus der Antragsteller auf jeden Fall eingehalten wird, nicht
mit der gebotenen Sicherheit möglich. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die
Antragsteller einen Anspruch auf Einhaltung der maßgeblichen Lärmrichtwerte bereits
ab Inbetriebnahme der in Rede stehenden Anlage haben. Dies sicherzustellen ist
Sache des beigeladenen Bauherrn. Seine Aufgabe ist es, den Nachweis darüber durch
Vorlage eines den dargestellten Maßgaben entsprechenden Lärmgutachtens im
Baugenehmigungsverfahren beizubringen.
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Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 5. Februar 2001 - 7 A 410/01 -, BauR 2001, S. 1038.
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Liegen - wie hier - Mängel im Gutachten vor, fällt dies in den Verantwortungsbereich des
Bauherrn. Das rechtfertigt eine zu Lasten des Beigeladenen gehende
Interessenbewertung.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, 162 Abs. 3 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung stützt sich auf §§ 13 Abs. 1 Satz 1, 20 Abs. 3 GKG. Nach der
Rechtsprechung des Senats ist der Streitwert bei einer Nachbarklage gegen die
Erteilung einer Baugenehmigung für eine Windenergieanlage einem Rahmen von
10.000 bis 15.000,-- EUR zu entnehmen, sofern der Abstand zwischen der
Windenergieanlage und dem Ort, für den der Kläger Beeinträchtigungen durch die
Windenergieanlage geltend macht, nicht mehr als 500 m beträgt. Bei einem größeren
Abstand ist ein geringerer Streitwert anzusetzen. Im einstweiligen
Rechtsschutzverfahren ist der für das Hauptsacheverfahren angemessene Streitwert
wegen des vorläufigen Charakters der begehrten Entscheidung auf die Hälfte zu
reduzieren.
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Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 3. Februar 2003 - 10 E 1018/02 - m.w.N.
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Bei dem hier gegebenen Abstand von etwa 550 m hält der Senat einen Streitwert im
Hauptsacheverfahren von 7.000,-- EUR für angemessen. Dieser Wert ist im
vorliegenden Eilverfahren auf die Hälfte zu reduzieren. Die Streitwertfestsetzung der
ersten Instanz war entsprechend zu ändern (§ 25 Abs. 2 Satz 2 GKG).
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar.
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