Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 17.10.2006

OVG NRW: erlass, verschulden, kollegialgericht, verwaltungshandeln, beamter, verfahrensmangel, beamtenverhältnis, behörde, beförderung, beamtenrecht

Oberverwaltungsgericht NRW, 6 A 4320/04
Datum:
17.10.2006
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
6. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
6 A 4320/04
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Aachen, 1 K 928/02
Tenor:
Der Antrag wird auf Kosten des Klägers abgelehnt.
Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf 2.992,91 Euro
festgesetzt.
G r ü n d e :
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Der Antrag hat keinen Erfolg.
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Die Berufung ist nicht zuzulassen. Die von dem Kläger geltend gemachten
Zulassungsgründe des § 124 Abs. 2 Nr. 1, 2, 3 und 5 der Verwaltungsgerichtsordnung
(VwGO) liegen nicht vor.
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Die gerichtliche Prüfung im Zulassungsverfahren richtet sich an den in dem Antrag auf
Zulassung der Berufung angesprochenen Gesichtspunkten aus.
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Danach ergeben sich keine ernstlichen Zweifel im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO
daran, dass das Verwaltungsgericht die Klage zu Recht abgewiesen hat.
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Voraussetzung für den Schadensersatzanspruch eines Beamten wegen verzögerter
oder unterbliebener Beförderung ist, dass der Dienstherr bei der
Beförderungsentscheidung rechtswidrig und schuldhaft gehandelt hat. Dieses
pflichtwidrige Verhalten muss bei dem Beamten adäquat kausal einen Schaden
verursacht haben.
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Vgl. Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Beschluss vom 16. Oktober 1991 - 2 B
115.91 -, in: Zeitschrift für Beamtenrecht (ZBR) 1992, 106f.; Oberverwaltungsgericht für
das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW), Urteil vom 4. Juni 2004 - 6 A 309/02 - und
Beschluss vom 25. November 2004 - 6 A 2684/03 -.
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Die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass diese Voraussetzungen hier nicht erfüllt
sind, wird durch das Antragsvorbringen des Klägers im Ergebnis nicht ernstlich in Frage
gestellt. Das Verwaltungsgericht hat - in Kammerbesetzung - mit Urteil vom 22. Juli 2004
festgestellt, dass es nicht rechtswidrig war, den Kläger erst mit Wirkung vom 16. Mai
2002 zum Gesamtschulrektor zu ernennen. In derartigen Fällen, in denen ein mit
mehreren Rechtskundigen besetztes Kollegialgericht die in Rede stehende Maßnahme
als objektiv rechtmäßig gewertet hat, ist die Annahme eines Verschuldens der für die
betreffende Behörde tätig gewordenen Bediensteten regelmäßig ausgeschlossen
(sogenannte "Kollegialgerichtsregel").
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Vgl. hierzu die ständige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH), zuletzt in den
Urteilen vom 18. November 2004 - III ZR 347/03 -, in: Deutsches Verwaltungsblatt
(DVBl) 2005, 312, und vom 24. Januar 2002 - III ZR 103/01 -, in: Neue Juristische
Wochenschrift (NJW) 2002, 1265, sowie - dem BGH folgend - des BVerwG, zuletzt in
den Urteilen vom 17. August 2005 - 2 C 36.04 - und vom 21. September 2000 - 2 C 5.99
-, in: NJW 2001, 1878, sowie des OVG NRW, Beschlüsse vom 25. November 2004 - 6 A
2684/03 - und vom 3. März 1997 - A 3123/95 - m. w. N.
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Dies gilt auch, wenn es im Zusammenhang mit der Geltendmachung von
Schadensersatzansprüchen eines Beamten gegen seinen Dienstherrn auf ein
Verschulden des Dienstherrn ankommt. Die Würdigung eines festgestellten
behördlichen Verhaltens als schuldhaft oder nicht schuldhaft kann mit Blick auf eine
Haftung aus dem Beamtenverhältnis grundsätzlich nicht nach anderen Maßstäben
erfolgen als bei der Amtshaftung.
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Vgl. BVerwG, Urteil vom 21. September 2000 - 2 C 5.99 -, a.a.O.
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Der Kollegialgerichtsregel liegt die Erwägung zugrunde, dass von einem Beamten eine
bessere Rechtseinsicht als von einem Kollegialgericht grundsätzlich nicht erwartet
werden kann. Die kollegialgerichtliche Billigung des Verwaltungshandelns als
rechtmäßig schließt ein Verschulden der tätig gewordenen Behördenbediensteten
dementsprechend nur dann nicht aus, wenn besondere Umstände dafür sprechen, dass
die Behördenbediensteten es ausnahmsweise hätten besser wissen müssen.
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Das kann dann der Fall sein, wenn es sich bei dem umstrittenen Verwaltungshandeln
um eine grundlegende Maßnahme einer obersten Dienststelle handelt, die durch
Auswertung allen einschlägigen Materials und erschöpfende Abwägung aller
Gesichtspunkte vorbereitet worden ist.
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Vgl. BVerwG, Urteil vom 17. August 2005 - 2 C
14
36.04 -.
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Um eine solche Maßnahme handelt es sich hier nicht. Der vorliegende Fall ist weder
grundlegend noch ist die Bezirksregierung L. eine oberste Dienststelle.
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Des weiteren greift die Kollegialgerichtsregel nicht ein, wenn das Gericht - was hier
ebenfalls nicht zutrifft - nur aufgrund einer summarischen Prüfung entschieden hat.
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Vgl. BVerwG, Urteil vom 17. August 2005 - 2 C
18
36.04 -.
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Im Übrigen hängt die Anwendung der Kollegialgerichtsregel im Einzelfall davon ab, ob
die gerichtliche Entscheidung auf einer umfassenden und sorgfältigen Prüfung der
Sach- und Rechtslage beruht. Daran fehlt es in tatsächlicher Hinsicht, wenn das Gericht
seiner rechtlichen Würdigung einen unzureichend ermittelten Sachverhalt zu Grunde
gelegt oder den festgestellten Sachverhalt nicht sorgfältig und erschöpfend gewürdigt
hat. In rechtlicher Hinsicht fehlt es daran, wenn das Gericht "handgreifliche" Fehler
begangen hat, etwa bereits in seinem rechtlichen Ausgangspunkt von einer verfehlten
Betrachtungsweise ausgegangen ist oder wesentliche rechtliche Gesichtspunkte
unberücksichtigt gelassen hat.
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Vgl. BVerwG, Urteil vom 17. August 2005 - 2 C
21
36.04 -.
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Das ist hier nicht der Fall. Die Feststellung des Verwaltungsgerichts, dass es nicht
rechtswidrig war, den Kläger erst mit Wirkung vom 16. Mai 2002 zum Gesamtschulrektor
zu befördern, beruht auf einer umfassenden und sorgfältigen Prüfung der Sach- und
Rechtslage. Das Verwaltungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass ein
Beamter nach § 25 Abs. 3 des Landesbeamtengesetzes NRW (LBG) i.V.m. § 10 Abs. 4
der Laufbahnverordnung NRW (LVO) vor Feststellung der Eignung für einen
höherbewerteten Dienstposten in einer Erprobungszeit nicht befördert werden darf.
Weder aus § 25 Abs. 3 LBG noch aus § 10 Abs. 4 LVO ergibt sich, dass auf die
Erprobungszeit auch zurückliegende Zeiten angerechnet werden können, in denen der
Beamte die höherwertige Funktion bereits wahrgenommen hat. Nach dem Erlass der
Bezirksregierung L. vom 23. November 2001 - 47.1 - (Amtl. SchBl. 1/2002, S. 7) ist zwar
unter bestimmten Voraussetzungen eine derartige Anrechnung möglich. Diese
Voraussetzungen liegen im vorliegenden Fall aber - wie das Verwaltungsgericht im
Einzelnen ausgeführt hat - nicht vor. "Handgreiflich" vorhandene Bedenken gegen die
Anwendbarkeit dieses Erlasses musste das Verwaltungsgericht nicht haben. Der Kläger
war nach Lage der Akten am 27. November 2001 für die zu besetzende Stelle
ausgewählt worden; der zuständige Personalrat stimmte der Auswahlentscheidung am
5. Dezember 2001 zu. Die Entscheidung über die Anrechnung von Vordienstzeiten in
der entsprechenden Funktion auf die Erprobungszeit, die der Auswahlentscheidung
naturgemäß nachfolgt, war im vorliegenden Fall also bereits unter Geltung des Erlasses
vom 23. November 2001 zu treffen. Dass der Schulleiter der Gesamtschule M./L. im
Februar 2001 bei der Übertragung von Abteilungsleiteraufgaben auf den Kläger die
Regelungen dieses späteren Erlasses noch nicht kennen und dementsprechend die
seinem Einflussbereich unterliegenden Voraussetzungen für eine spätere Anrechnung
der besagten Vordienstzeiten nicht schaffen konnte, liegt auf der Hand. Dieser Umstand
spricht jedoch nicht gegen die Anwendbarkeit des Erlasses. Es musste sich dem
Verwaltungsgericht auch nicht aufdrängen, dass bei Anwendung des Erlasses ein
schutzwürdiges Vertrauen des Klägers auf den Fortbestand einer ihm günstigen
früheren Anrechnungspraxis verletzt werden könnte. Der Kläger hat nicht ansatzweise
substantiiert vorgetragen, dass vor dem 23. November 2001 eine ihn begünstigende
Anrechnungspraxis bestand. Abgesehen davon fehlt es an einer Darlegung, warum sein
Vertrauen in den Fortbestand einer etwaigen Anrechnungspraxis schutzwürdig wäre.
Bloße Erwartungen sind insoweit grundsätzlich nicht geschützt. Dass er im Hinblick auf
eine frühere Anrechnungspraxis einen Rechtsanspruch auf eine spätere Anrechnung
erworben haben könnte, ist fernliegend. Vor diesem Hintergrund musste sich das
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Verwaltungsgericht nicht veranlasst sehen, von sich aus Ermittlungen zu einer
eventuellen dem Kläger günstigen Anrechnungspraxis vor dem 23. November 2001
anzustellen.
Aus den obigen Ausführungen folgt zugleich, dass die Rechtssache keine besonderen
Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 2
VwGO aufweist.
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Die Rechtssache hat auch keine grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 124 Abs. 2
Nr. 3 VwGO. Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache, wenn sie eine im
Berufungsverfahren klärungsbedürftige und für die Entscheidung dieses Verfahrens
erhebliche Rechts- oder Tatsachenfrage aufwirft, deren Beantwortung über den
konkreten Fall hinaus wesentliche Bedeutung für die einheitliche Anwendung oder
Weiterentwicklung des Rechts hat.
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Vgl. Sodan/Ziekow, Verwaltungsgerichtsordnung, 2. Aufl. 2006, Rn. 127 zu § 124.
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Die vom Kläger als grundsätzlich bedeutsam angesehene Frage, ob die Anrechnung
von Zeiten einer Funktionsübertragung auf die Erprobungszeit durch Erlass rückwirkend
zu seinem Nachteil geändert werden durfte, beruht auf der bloßen - wie gesagt nicht
weiter substantiierten - Vermutung, dass vor dem 23. November 2001 eine für ihn
günstigere Anrechnungspraxis bestanden hat. Abgesehen davon ist sie für den
vorliegenden Fall nicht unmittelbar entscheidungserheblich. Es kann hier nur darauf
ankommen, ob das Verwaltungsgericht diese Frage "handgreiflich" falsch beantwortet
hat. Das ist - wie oben dargestellt - nicht der Fall. Im Übrigen hat der Kläger nicht
substantiiert dargelegt, warum die von ihm formulierte Rechtsfrage über den konkreten
Fall hinaus wesentliche Bedeutung hat.
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Vgl. zu den insoweit bestehenden Substantiierungsanforderungen OVG NRW,
Beschluss vom 22. Mai 2006 - 6 A 4015/04 -.
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Es liegt schließlich auch kein Verfahrensmangel im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO
vor, auf dem die verwaltungsgerichtliche Entscheidung beruhen kann. Insbesondere hat
das Verwaltungsgericht nicht gegen seine Sachaufklärungspflicht nach § 86 Abs. 1
VwGO verstoßen. Wie bereits ausgeführt, hat der Kläger weder substantiiert
vorgetragen, dass vor dem 23. November 2001 eine für ihn günstigere
Anrechnungspraxis bestand, noch ausgeführt, warum sein Vertrauen in den Fortbestand
einer solchen Anrechnungspraxis schutzwürdig sein könnte; vor diesem Hintergrund
hatte das Verwaltungsgericht keine Veranlassung, von sich aus Ermittlungen zu einer
etwaigen Anrechnungspraxis vor dem 23. November 2001 anzustellen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 47 Abs. 3 und § 52 Abs. 3 des
Gerichtskostengesetzes.
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Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das Urteil des Verwaltungsgerichts
rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).
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