Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 29.07.2003

OVG NRW: grenzabstand, geschlossene bauweise, aufschiebende wirkung, gebäude, bebauungsplan, belichtung, besonnung, öffentlich, interessenabwägung, grundstück

Oberverwaltungsgericht NRW, 10 B 1057/03
Datum:
29.07.2003
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
10. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
10 B 1057/03
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, 10 L 893/03
Tenor:
Der angefochtene Beschluss wird geändert.
Die aufschiebende Wirkung des von den Antragstellern eingelegten
Widerspruchs gegen die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung
vom 4. März 2003 wird angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens in beiden
Rechtszügen. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind
nicht erstattungsfähig.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 3.750,00 EUR
festgesetzt.
G r ü n d e :
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Die zulässige Beschwerde der Antragsteller, deren Begründung den Anforderungen des
§ 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO genügt, hat Erfolg.
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Ihr Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ist zulässig und begründet. Bei
der im Rahmen §§ 80 a Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3, 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmenden
Interessenabwägung überwiegt das Interesse der Antragsteller, von dem Vollzug der
Baugenehmigung vorerst verschont zu bleiben, das Interesse der Beigeladenen an der
sofortigen Ausnutzung der Baugenehmigung. Für das Ergebnis der
Interessenabwägung sind regelmäßig die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der
Hauptsache maßgeblich, wenn sie - wie hier - bei der in den Verfahren des vorläufigen
Rechtsschutzes gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage mit
hinreichender Wahrscheinlichkeit beurteilt werden können.
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Die Interessenabwägung fällt zu Gunsten der Antragsteller aus, da die angefochtene
Baugenehmigung rechtswidrig ist und sie als Miteigentümer des Hauses T. straße 41 in
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I. in ihren Nachbarrechten verletzt.
Die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung zur Errichtung eines Hauses mit 30
Seniorenwohnungen sowie 12 Pkw-Garagen und Stellplätzen auf dem Grundstück T.
straße 39 in I. verstößt zu Lasten der Antragsteller gegen die nachbarschützende
Vorschrift des § 6 Abs. 1 Satz 1 BauO NRW, wonach vor den Außenwänden von
Gebäuden Abstandflächen, die grundsätzlich auf dem Baugrundstück selbst liegen
müssen, von oberirdischen Gebäuden freizuhalten sind. Dieser Bestimmung
widerspricht die angefochtene Baugenehmigung insoweit, als die nordwestliche
Außenwand des Vorhabens unmittelbar an der Grenze zum Grundstück T. straße 41
errichtet werden soll.
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Die Einhaltung von Abstandflächen vor der nordwestlichen Außenwand des Vorhabens
ist entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts erforderlich. Ein Fall des § 6 Abs.
1 Satz 2 BauO NRW liegt nicht vor. Nach dieser Vorschrift ist eine Abstandfläche nicht
erforderlich vor Außenwänden, die an der Nachbargrenze errichtet werden, wenn nach
planungsrechtlichen Vorschriften a) das Gebäude ohne Grenzabstand gebaut werden
muss oder b) das Gebäude ohne Grenzabstand gebaut werden darf und öffentlich
rechtlich gesichert ist, dass auf dem Nachbargrundstück ebenfalls ohne Grenzabstand
gebaut wird. Beides trifft hier nicht zu.
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Dass der Bebauungsplan 62/1 "C. straße /H. straße " der Stadt I. für den Bereich des
Baugrundstücks geschlossene Bauweise festsetzt, führt nicht dazu, dass dort nach
planungsrechtlichen Vorschriften ohne Grenzabstand gebaut werden muss. Der
Bebauungsplan ist nämlich sowohl in seiner ursprünglichen als auch in seiner am 30.
Januar 2003 in Kraft getretenen ergänzten Form unwirksam. Was den Ursprungsplan
angeht, hat das Verwaltungsgericht auf den zur Unwirksamkeit des Plans führenden
Mangel, der sich aus den sich überlagernden Festsetzungen "Gemeinbedarfsfläche"
und "Allgemeines Wohngebiet" ergibt, hingewiesen. Aber auch der geänderte
beziehungsweise ergänzte Bebauungsplan leidet an einem durchgreifenden Mangel.
Die Grenzen des im nordwestlichen Teil des Plangebiets festgesetzten Kerngebiets und
des allgemeinen Wohngebiets im Nordosten lassen sich im Bereich der in der
Planurkunde so bezeichneten Flurstücke 61 und 122 anhand der Festsetzungen des
Bebauungsplans nicht bestimmen, sodass es an der notwendigen Normenklarheit fehlt.
Dieser Bestimmtheitsmangel, der sich auf einen Bereich auswirkt, der mehr als die
Hälfte des Plangebiets erfasst, führt zur Unwirksamkeit des Bebauungsplans insgesamt.
Ebenso wenig ist die Regelung des § 6 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe b BauO NRW
einschlägig. Zwar mag es sein, dass bei einer Bewertung nach § 34 Abs. 1 BauGB auf
dem Baugrundstück nach planungsrechtlichen Vorschriften ohne Grenzabstand gebaut
werden darf, doch ist nicht öffentlich-rechtlich gesichert, dass auf dem
Nachbargrundstück ebenfalls ohne Grenzabstand gebaut wird. Daran ändert sich durch
das vorhandene grenzständige Gebäude T. straße 41 nichts. Ein auf dem
Nachbargrundstück vorhandenes grenzständiges Gebäude, von dessen Fortbestand
ausgegangen werden kann, ersetzt eine öffentlich-rechtliche Sicherung im Sinne des §
6 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe b BauO NRW nur insoweit, als das Neubauvorhaben
innerhalb der überbaubaren Grundstücksfläche errichtet werden soll.
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Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 5. Oktober 1995 - 10 B 2445/95 -, BRS 57 Nr. 136, und
vom 13. Dezember 1995 - 7 A 159/94 -, BRS 57 Nr. 137.
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Anders als das Verwaltungsgericht geht der Senat davon aus, dass das umstrittene
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Vorhaben nicht innerhalb der nach § 34 Abs. 1 BauGB zu bestimmenden überbaubaren
Grundstücksfläche liegen wird. Die nach § 34 Abs. 1 BauGB zur Bestimmung der
zulässigen Bebauungstiefe maßgebliche nähere Umgebung des Vorhabens wird nach
dem vorliegenden Kartenmaterial wohl durch die vorhandene Straßenrandbebauung
entlang der T. straße zwischen T. straße und H. straße geprägt, wobei nur die
Hauptgebäude von Bedeutung sind und das inzwischen beseitigte Altgebäude T. straße
39 bei der Betrachtung unberücksichtigt bleibt. Danach wäre - was die überbaubare
Grundstücksfläche betrifft - auf dem Baugrundstück eine Bebauungstiefe von nur etwa
20 m zulässig, während das Vorhaben eine Bebauungstiefe von fast 27 m erreichen
soll.
Ein Verzicht auf die Einhaltung der vor der nordwestlichen Außenwand des Vorhabens
freizuhaltende Abstandfläche kommt auch nicht nach § 6 Abs. 1 Satz 3 BauO NRW in
Betracht. Danach kann, wenn nach planungsrechtlichen Vorschriften mit Grenzabstand
gebaut werden muss, gestattet oder verlangt werden, dass ohne Grenzabstand gebaut
wird, wenn auf dem Nachbargrundstück innerhalb der überbaubaren Grundstücksfläche
ein Gebäude ohne Grenzabstand vorhanden ist. Eine solche Gestattung oder ein
solches Verlangen kann sich nur auf eine Bebauung innerhalb der überbaubaren
Grundstücksflächen beziehen, die nach den vorstehenden Ausführungen hier zu
verneinen ist. Im Übrigen setzt ein Vorgehen nach § 6 Abs. 1 Satz 3 BauO NRW eine
Ermessensentscheidung der Bauaufsichtsbehörde voraus, bei der auch die Belange
des Grundstücksnachbarn zu berücksichtigen sind. Dass der Beklagte eine solche
Ermessensentscheidung getroffen hat, ist nicht ersichtlich, da er von einer
geschlossenen Bauweise entsprechend den Festsetzungen des Bebauungsplans 62/1
ausgegangen ist. Eine Ermessensentscheidung, die eine Bebauung ohne
Grenzabstand in der vorgesehenen Weise gestatten oder verlangen würde, wäre zudem
wohl aus den nachfolgenden Gründen rechtswidrig.
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Das Vorhaben, das sich - wie oben festgestellt - hinsichtlich der überbaubaren
Grundstücksfläche nicht in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt, erweist sich
den Antragstellern gegenüber als rücksichtslos. Wegen des Versprungs der
grenzständigen nordwestlichen Außenwand des Vorhabens nach Südwesten werden
die Belichtung und die Besonnung der rückwärtigen Räume und Balkone des nördlich
gelegenen Hauses T. straße 41 in erheblicher Weise beeinträchtigt. Das
möglicherweise auch früher solche Beeinträchtigungen durch das Altgebäude T. straße
39 bestanden haben, spielt für den mit der angegriffenen Baugenehmigung
verbundenen Rücksichtnahmeverstoß keine Rolle, da das Altgebäude zwischenzeitlich
beseitigt worden ist. Im Übrigen schloss sich die nordwestliche Außenwand des nur
zweigeschossigen Altgebäudes nicht unmittelbar an die südöstliche Außenwand des
Hauses T. straße 41 an, sodass die Belichtungsverhältnisse bezogen auf die frühere
und die nunmehr geplante bauliche Situation wohl nicht zu vergleichen sind. Die
Annahme des Verwaltungsgerichts, wonach in verdichteten innerstädtischen Bereichen
die Belichtungs- und Besonnungssituation regelmäßig schlechter ist als in Baugebieten,
die von aufgelockerter Bebauung geprägt sind, trifft zwar zu, doch rechtfertigt es die in
innerstädtischen Bereichen übliche und oftmals erforderliche bauliche Verdichtung
nicht, berechtigte nachbarliche Belange einfach außer acht zu lassen. Gerade wenn
Abstandflächen, die auch eine hinreichende Belichtung und Besonnung der
Nachbargrundstücke gewährleisten sollen, nicht eingehalten werden, müssen bei stark
voneinander abweichenden Bebauungstiefen die möglichen negativen Auswirkungen
einer solchen Bebauung bei der Erteilung von Baugenehmigungen berücksichtigt
werden. Würde die rückwärtige Außenwand des Neubauvorhabens beispielsweise auf
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Höhe der rückwärtigen Außenwand des Hauses T. straße 41 errichtet, wäre trotz einer
weitgehend verdichteten Bebauung in diesem Bereich keine wesentliche
Beeinträchtigung der Belichtung und Besonnung des Nachbargrundstücks zu erwarten.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 3 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung stützt sich auf die §§ 20 Abs. 3, 13 Abs. 1 Satz 1 GKG.
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