Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 21.05.2010

OVG NRW (schule, körperliche unversehrtheit, aufschiebende wirkung, kind, unterricht, förderung, schulbesuch, interesse, ermessen, teilnahme)

Oberverwaltungsgericht NRW, 19 B 239/10
Datum:
21.05.2010
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
19. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
19 B 239/10
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Köln, 10 L 1868/09
Tenor:
Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Köln wird mit Ausnahme der
Streitwertfestsetzung geändert. Die aufschiebende Wirkung der Klage
10 K 8256/09 beim Verwaltungsgericht Köln gegen den Bescheid des
Antragsgegners vom 16. 11. 2009 wird insoweit wieder hergestellt, als
darin angeordnet wurde, dass B. T. zur Feststellung des sonderpäda-
gogischen Förderbedarfs probeweise bis zu einem halben Jahr am
Unterricht der Förderschule mit dem Schwerpunkt „körperliche und
motorische Entwick-lung“ teilnimmt.
Die Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen trägt der Antragsgegner.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfah-ren auf 2.500 Euro
festgesetzt.
Gründe:
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Die Beschwerde ist gemäß § 146 Abs. 1 und 4 VwGO zulässig und begründet. Der im
Beschwerdeverfahren ausdrücklich als Aussetzungsantrag formulierte Antrag nach § 80
Abs. 5 Satz 1 VwGO ist begründet.
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Die im Verfahren nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO gebotene Abwägung zwischen dem
öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des angefochtenen Bescheids und
dem privaten Interesse der Antragstellerin, dass ihre Tochter B. vorerst nicht am
Unterricht in einer Schule teilnimmt, fällt zugunsten der Antragstellerin aus. Denn der
Bescheid des Antragsgegners vom 16. 11. 2009 ist bei summarischer Prüfung jedenfalls
aus formellen Gründen offensichtlich rechtswidrig, weil er entgegen § 37 Abs. 1 VwVfG
NRW inhaltlich nicht hinreichend bestimmt ist.
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Über den Förderort einer sonderpädagogischen Förderung ist abstrakt unter Benennung
aller in Betracht kommenden Förderorte zu entscheiden.
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OVG NRW, Beschluss vom 18. 9. 2008 19 A 1318/08 –, m. w. N.
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Hinsichtlich der Festlegung des Förderortes ist der Bescheid unklar. Aufgrund der
Formulierungen in dem Bescheid ist nicht hinreichend bestimmt, ob die Antragstellerin
ihre Tochter zwingend an der genannten Förderschule anmelden muss oder ob sie auch
eine andere Förderschule außerhalb der Stadt L. mit demselben Förderschwerpunkt
wählen könnte. Der Antragsgegner hat zwar im Tenor des angefochtenen Bescheides
abstrakt eine Förderschule mit dem Förderschwerpunkt körperliche und motorische
Entwicklung bestimmt. Die Begründung und die weiteren Hinweise des Bescheides
schränken dies allerdings ein. Der Antragsgegner führt an, dass in L.
Schuleinzugsbereiche für die Förderschulen für körperliche und motorische Entwicklung
gebildet worden seien. Die Anmeldung müsse an der zuständigen Förderschule
erfolgen. Der Antragsgegner "bitte[t]" die Antragstellerin, ihr Kind an der S.
Förderschule, Förderschwerpunkt Körperliche und Motorische Entwicklung, C. .
149, L. (N. ) anzumelden. Anschließend "fordert" er sie im Bescheid auf, ihr Kind
für einen Schulbesuch mit Beginn des zweiten Schulhalbjahres 2009/2010 an dieser
Schule anzumelden. Für den Fall, dass dies nicht erfolgen sollte, kündigt er an, dies
selbst zu tun. Sollte das Kind diese Förderschule nicht besuchen, läge eine
Schulpflichtverletzung vor, die als Ordnungswidrigkeit mit Bußgeld oder zwangsweiser
Vorführung geahndet werden könne.
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Ergänzend weist der Senat auf Folgendes hin: Es dürfte einiges dafür sprechen, dass
der Antragsgegner sein Ermessen bei der Anordnung der probeweisen Beschulung
fehlerhaft ausgeübt hat. Nach § 19 Abs. 2 Satz 1 SchulG NRW entscheidet die
Schulaufsichtsbehörde auf Antrag der Eltern oder der Schule über
sonderpädagogischen Förderbedarf, Förderschwerpunkt und Förderort. Gemäß § 13
Abs. 4 Satz 1 der Verordnung über die sonderpädagogische Förderung, den
Hausunterricht und die Schule für Kranke (AO-SF) kann die Schulaufsichtsbehörde
entscheiden, dass die sonderpädagogische Förderung probeweise bis zu sechs Monate
dauert. Die Probebeschulung kann der Klärung dienen, ob gesundheitliche Gründe der
Teilnahme des Kindes am Unterricht dauerhaft entgegenstehen.
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Vgl. Jehkul, in: ders. u.a., SchulG NRW, Stand: Nov. 2009, § 19 Rdn. 2.8.
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Bei dieser Entscheidung über eine probeweise Förderung steht der Behörde ein
Ermessensspielraum zu. Dementsprechend hat sie nach pflichtgemäßem Ermessen die
entscheidungserheblichen Tatsachen unter Berücksichtigung der Angaben der Eltern
und der Schule zutreffend und umfassend zu ermitteln. Bei einem schwerstbehinderten
Kind muss die Behörde dessen gesundheitliche Schwierigkeiten im Hinblick auf dessen
Recht auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG angemessen
berücksichtigen. Sie darf keine Maßnahmen anordnen, die eine mögliche
Gesundheitsgefährdung des Kindes in Kauf nehmen. Dies gilt auch und gerade dann,
wenn es um die Frage geht, ob das Kind aus gesundheitlichen Gründen den Unterricht
in einer Schule besuchen kann. Liegen konkrete Anzeichen dafür vor, dass für das Kind
möglicherweise schon mit der Fahrt zur Schule gesundheitliche Gefahren verbunden
sind, ist diesen weiter nachzugehen.
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Gemessen an diesen Vorgaben erscheint problematisch, ob der Antragsgegner
ermessensfehlerfrei entschieden hat. Es ist zweifelhaft, ob er den
entscheidungserheblichen Sachverhalt ausreichend ermittelt und die bereits
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vorliegenden Tatsachen angemessen berücksichtigt hat. Zwar mag ein Schulbesuch für
B. vor allem unter Aspekten der sozialen Anteilnahme und den damit verbundenen
Möglichkeiten zur Auseinandersetzung mit Gleichaltrigen geboten sein (so das
Gutachten zur Ermittlung des sonderpädagogischen Förderbedarfs). Jedoch hätte der
Antragsgegner den konkreten Anhaltspunkten für gesundheitliche Beeinträchtigungen
von B. weiter nachgehen und ihren Gesundheitszustand umfassender untersuchen
lassen müssen. Dabei hätte er vor allem abklären müssen, wie B. trotz der Gefahr
von gesundheitsschädlichen Krampfanfällen bei Autofahrten in eine Schule transportiert
werden kann, welche Vorkehrungen dort erforderlich sind, um Krampfanfälle und
Infektionen nach Möglichkeit zu vermeiden, sowie ob und ggf. inwieweit B.
Infektionsanfälligkeit überhaupt einen Schulbesuch zulässt. Dazu hat der Antragsgegner
bisher keine oder nur wenige Feststellungen getroffen.
B. ist im Juni 2009 schulärztlich untersucht worden. Die untersuchende Kinderärztin
stellte dabei u. a. fest, dass im letzten Jahr keine ärztliche Notfallsituation oder schwere
Erkrankung vorgekommen sei. Angesichts des stabilen Verlaufs hielt sie eine
kleinschrittige Probebeschulung für möglich, alternativ Hausunterricht. Darauf gestützt
hat der Antragsgegner die probeweise Teilnahme am Unterricht angeordnet. Den
Angaben der Antragstellerin zu B. Gesundheitszustand ist er dagegen kaum
nachgegangen.
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Die Antragstellerin hatte bereits in ihrer telefonischen Anhörung am 30. 10. 2008
gegenüber dem Antragsgegner u. a. mitgeteilt, dass B. beim Autofahren heftig
krampfe und sehr infektanfällig sei. Die Krampfanfälle werden nach Angaben der
Antragstellerin ausgelöst durch Lichtreflexe, Angst, Aufregung, Reizüberflutung jeglicher
Art, z. B. extrem laute Geräusche bzw. Geräusche, die B. nicht zuordnen könne (so
der Bericht des Epilepsie-Zentrums C1. -C2. vom 29. 6. 2006). Sie hat ferner
angegeben, dass die Anfälle in direktem Zusammenhang mit den häufigen Infekten
sowie mit Fieber und zyklischen Abläufen im Körper ständen. Häufig träten sie bei
Autofahrten, Lichtflackern oder Blitzlicht auf. Zu Krampfanfällen findet sich im
schulärztlichen Gutachten lediglich die Feststellung, dass eine photosensible Epilepsie
vorliege. Der Antragsgegner hat sich mit dieser Problematik in seinem angefochtenen
Bescheid nicht auseinandergesetzt. Im Erörterungstermin am 21. 4. 2010 erklärte die
Kinderärztin hinsichtlich der Krampfanfälle bei Autofahrten, dass dagegen üblicherweise
polarisierende Brillen aufgesetzt würden. Demgegenüber gab die Antragstellerin an,
dass sie dieses Verfahren bereits vergeblich versucht habe, und legte dazu eine
Rechnung eines Optikers vom März 2004 über die Anfertigung einer Lichtschutzbrille
vor.
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Abgesehen von Krampfanfällen ist B. nach Angaben ihres Hausarztes vom 3. 5. 2010
durch bronchiale Infekte oder Infekte der Nebenhöhlen gefährdet, weil ihr weitgehend
der Hustenreiz fehle und sie daher Schleim nicht abhusten könne. Auch diesen
Umstand hat der Antragsgegner bei seiner Entscheidung nach Aktenlage nicht
berücksichtigt. Im Erörterungstermin am 21. 4. 2010 hat die Kinderärztin zwar erklärt, sie
halte es für medizinisch vertretbar, B. in eine Schule zu schicken, in der die
allgemeine Gefahr bestehe, dass sie sich theoretisch anstecken könne. Gleichwohl hat
sie auch eingeräumt, dass schwerbehinderte spastische Kinder Probleme beim
Abhusten hätten und dass sich festsetzender Schleim Infekte hervorrufen könne. Die
aktuelle Infektanfälligkeit von B. könne sie nicht ganz zuverlässig einschätzen, weil
ihr dafür zu wenig medizinische Unterlagen vorlägen.
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Weiter könnte problematisch sein, ob B. das nach Aktenlage nicht auszuschließende
Risiko, auf der Fahrt zur Schule oder in der Schule gesundheitsschädliche
Krampfanfälle zu erleiden oder sich zu infizieren, zuzumuten ist und hinter dem
öffentlichen Interesse daran, jedes Kind entsprechend seinen Fähigkeiten und
Möglichkeiten zu unterrichten, zurückzutreten hat.
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Schließlich weist der Senat darauf hin, dass nach Aktenlage offen sein dürfte, ob die
Voraussetzungen für die Einrichtung von Hausunterricht vorliegen. Der Antragsgegner
lehnt dies nach seinen Angaben im Erörterungstermin deswegen ab, weil B. nicht
krank, sondern schwerstbehindert sei. Da B. jedoch nach Angaben der
Antragstellerin oft an Fieber oder Infektionen leidet und der behandelnde Hausarzt B.
in den ersten Monaten dieses Jahres mehrfach wegen akuter infektiöser Bronchitis
behandelt hat, kommt das Vorliegen der Voraussetzungen für Hausunterricht in
Betracht. In diesem Zusammenhang ist es Sache der Antragstellerin, konkrete
Nachweise für Art und Häufigkeit von B. Erkrankungen vorzulegen.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 52 Abs. 1 und 2, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 66 Abs. 3 Satz 3, 68 Abs. 1
Satz 5 GKG).
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