Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 14.03.2017

OVG NRW (kläger, öffentliche sicherheit, überwiegende wahrscheinlichkeit, vwvg, ersatzvornahme, firma, polizei, eigentümer, gaststätte, gefahr)

Oberverwaltungsgericht NRW, IV A 734/76
Datum:
25.10.1977
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
IV. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
IV A 734/76
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Köln, 9 K 1122/75
Tenor:
Das angefochtene Urteil wird geändert.
Der Leistungsbescheid des Beklagten vom 13. Februar 1975 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheides des Regierungspräsidenten vom
14. April 1975 wird aufgehoben.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
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Der in XXX, wohnende Kläger ist Eigentümer des Hauses XXX, XXXStraße. Im
Erdgeschoß des Hauses befinden sich eine Gaststätte und ein Ladenlokal, das im Jahre
1974 an einen Herrn XXX vermietet war. Herr betrieb in dem Ladenlokal ein
Textilgeschäft.
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Am 18. Dezember 1974 wurde gegen 22.45 Uhr ein mit zwei Polizeibeamten besetzter
Streifenwagen des Beklagten zu dem Hause StraßeXXX gerufen, weil dort die gläserne
Eingangstür zu dem Ladenlokal beschädigt war. Die Verglasung wies ein Loch von
etwa 15 bis 20 cm Durchmesser auf. Auch an zwei weiteren Häusern in der
Nachbarschaft waren ähnliche Beschädigungen festzustellen.
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Die Streifenwagenbesatzung bemühte sich zunächst, Herrn XXX zu erreichen, dessen
Namen und Adresse an dem Geschäft angebracht waren. Dies gelang jedoch nicht.
Daraufhin beauftragten die Beamten die Firma XXX, umgehend zur
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Eigentumssicherung eine Notverglasung vorzunehmen. Da dies nach Auffassung der
Firma XXX undurchführbar war, befestigte die Firma im Bereich des Scheibenloches
zwei Bretter - eines außen, eines innen- die mit Gewindeschrauben verbunden wurden.
Die Firma XXX forderte hierfür von dem Beklagten den Betrag von 190,92 DM (15,-- DM
für Fahrkosten, 25,-- DM für 2 x 1,5 Gesellenstunden, 100% Nachtzulage, 7,-- DM
Materialkosten, 11% Mehrwertsteuer ).
Der Beklagte versuchte, diese Kosten bei Herrn XXX einzuziehen. Als dies mißlang -
XXX hatte offenbar das Geschäft aufgegeben und war verzogen -, forderte der Beklagte
durch Leistungsbescheid vom 13. Februar 1975 von dem Kläger unter Berufung auf die
§§ 15 bis 20 des Polizeigesetzes i.d.F. der Bekanntmachung vom 28. Oktober 1969, GV
NW 740, (PolG) die Zahlung von 195,42 DM (die von der Firma geforderten Beträge und
4,50 DM für Postzustellungsgebühren und Kosten für Fotokopien).
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Der Kläger legte Widerspruch ein und machte u.a. geltend, er sie nicht Eigentümer- des
Geschäfts und der darin befindlichen Gegenstände gewesen.
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Der Regierungspräsident XXX wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom
14. April 1975 zurück. Zur Begründung führte er u.a. aus: Die Kostenforderung folge aus
§ 68 des Verwaltungsvollstreckungsgesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen vom 23,
Juli 1957, GV NW 216, (VwVG NW) iVm § 11 Abs. 2 Nr. 7 der Kostenordnung zum
Verwaltungsvollstreckungsgesetz vom 30. November 1971, GV NW 394, (KostO NW).
Die Polizei sei aufgrund ihrer Befugnisse nach den §§ 15 bis 20 PolG tätig geworden
und habe eine Ersatzvornahme im Wege des sofortigen Vollzuges (§§ 55 Abs. 2, 59
VwVG NW) durchgeführt. Als Eigentümer sei der Kläger gemäß § 22 PolG iVm § 18
Abs. 1 des Gesetzes über Aufbau und Befugnisse der Ordnungsbehörden i.d.F. der
Bekanntmachung vom 28. Oktober 1969, GV NW 732, (OBG) für die eingetretene
Störung verantwortlich und für die Kosten haftbar.
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Am 14. Mai 1975 hat der Kläger Klage erhoben. Er hat u.a. geltend gemacht: Die
Maßnahme der Polizei sei nicht notwendig und nicht geeignet gewesen. Die geforderten
Beträge seien auch überhöht. Wahrscheinlich sei die Tür nicht vorsätzlich
eingeschlagen, sondern durch einen von einem vorbeifahrenden Fahrzeug
aufgewirbelten Stein beschädigt worden.
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Der Kläger hat beantragt,
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den Bescheid des Beklagten vom 13. Februar 1975 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides des Regierungspräsidenten XXX vom 14. April 1975
aufzuheben.
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Der Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Er hat u.a. vorgetragen: Nach Art und Umfang der Beschädigungen sei der Verdacht des
versuchten Einbruchdiebstahls gerechtfertigt gewesen. Auch sei zu befürchten
gewesen, daß die Täter die Tat vollendet hätten, wenn keine Sicherungsmaßnahmen
ergriffen worden wären. Zudem hätten Witterungsänderungen, etwa Sturm, Regen oder
Schnee, über den Glasbruch hinaus weitere Schäden am Gebäude und am Inventar
verursachen, können. Schließlich sei zu besorgen gewesen, daß die Einbruchsspuren
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andere Bürger hätten dazu verleiten können, auch ihrerseits die Polizei zu
benachrichtigen und sie dadurch in ihrer Funktionsfähigkeit zu beeinträchtigen. Die
Maßnahme sei unaufschiebbar und notwendig gewesen. Die Kosten seien ortsüblich.
Das Verwaltungsgericht hat die Klage durch Urteil vom 25. Februar 1976, auf das Bezug
genommen wird, abgewiesen.
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Gegen das ihm am 2. April 1976 zugestellte Urteil hat der Kläger am 29. April 1976
Berufung eingelegt.
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Er hat u.a. weiter vorgetragen:
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Es sei den Polizeibeamten zumutbar gewesen, sich im Hause oder in der
Nachbarschaft nach dem Hauseigentümer zu erkundigen und anschließend ihn, den
Kläger, anzurufen. In dem Hause hätten 15 Mietparteien gewohnt, die auch fast alle im
Zeitpunkt des polizeilichen Einschreitens zu Hause gewesen seien. Von jedem der
Hausbewohner und auch von dem Pächter der im Hause gelegenen Gaststätte, die bis
1.00 Uhr geöffnet gewesen sei, hätten die Polizeibeamten seinen Namen erfragen
können. Der Pächter der Gaststätte habe, seine, des Klägers, Telefonnummer gewußt
und hätte die Polizei auch an den im Hause wohnenden Hausmeister verweisen
können. Er, der Kläger, sei am fraglichen Tage zwischen 22.45 und 24.00 Uhr in seiner
Wohnung erreichbar gewesen.
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Der Kläger beantragt,
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das angefochtene Urteil zu ändern und nach seinem erstinstanzlichen Klageantrag zu
erkennen.
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Der Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Die Beteiligten haben auf mündliche Verhandlung verzichtet.
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Wegen des weiteren Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im einzelnen
wird auf die Verfahrensakte sowie auf die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des
Beklagten und des Regierungspräsidenten Köln verwiesen.
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Entscheidungsgründe:
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Der Senat kann ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil sich die Beteiligten
hiermit einverstanden erklärt haben (§§ 125 Abs. 1, 101 Abs. 2 der
Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO)).
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Die Berufung ist zulässig und begründet.
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Der Leistungsbescheid des Beklagten vom 13. Februar 1975 und der
Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidenten Köln vom 14. April 1975 sind
rechtswidrig, verletzen den Kläger in seinen Rechten und sind daher aufzuheben (§ 113
Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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Der Beklagte hat gegen den Kläger keinen Kostenersatzanspruch aufgrund der §§ 59,
68 Abs. 1 und 2 VwVG NW iVm § 11 Abs. 2 Nr. 7 KostO NW. Nach diesen Vorschriften
kann die Vollstreckungsbehörde nur dann die an Beauftragte gezahlten Kosten einer
Ersatzvornahme von dem Pflichtigen erstattet verlangen, wenn die Ersatzvornahme
rechtmäßig war (vgl. auch § 14 Abs. 1 KostO NW).
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Es kann dahingestellt bleiben, ob wegen der zerbrochenen Scheibe des Ladenlokals
überhaupt eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung iSd §§ 15 Abs. 1 Satz
2 und 20 PolG drohte und ob gegebenenfalls gerade der Kläger als Eigentümer des
Hauses Störer iSv § 22 PolG iVm § 18 Abs. 1 OBG war. Sollte der Kläger nicht Störer
gewesen sein - sei es, daß eine Gefahr überhaupt, sei es, daß jedenfalls eine
Zustandshaftung des Klägers zu verneinen wäre -, so wäre die Inanspruchnahme des
Klägers aufgrund der §§ 59, 68 Abs. 1, 2 VwVG NW iVm § 11 Abs. 2 Nr. 7 KostO NW
schon aus diesem Grunde nicht möglich, da der Kläger als Nichtstörer auch nicht
Pflichtiger iSd genannten Vorschriften wäre.
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Geht man indessen davon aus, daß der Kläger Störer ist, scheidet ein Anspruch aus §
11 Abs. 2 Nr. 7 KostO aus, weil die durchgeführte Ersatzvornahme wegen eines
Verstoßes gegen § 55 Abs. 2 VwVG NW rechtswidrig war.
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Der Beklagte hat das Zwangsmittel der Ersatzvornahme ohne voraufgehende, dem
Pflichtigen das geforderte Verhalten aufgebenden Grundverwaltungsakt angewendet.
Eine solche Anwendung des Zwangsmittels im Wege des sofortigen Vollzugs ist nur
unter den Voraussetzungen des § 55 Abs. 2 VwVG NW zulässig. Danach ist u.a.
erforderlich, das der sofortige Vollzug zur Verhinderung einer rechtswidrigen, mit Strafe
oder Bußgeld bedrohten Tat oder zur Abwendung einer drohenden Gefahr notwendig
ist. Notwendig ist ein solches sofortiges Eingreifen dann, wenn die überwiegende
Wahrscheinlichkeit besteht, daß der Zweck der Maßnahme auf normalem Wege, d.h.
durch Erlaß eines Verwaltungsaktes mit sofortiger Vollziehbarkeit oder durch bloßes
Einwirken auf den Pflichtigen nicht erreicht werden könnte. Ob eine Vollstreckung in
diesem Sinne notwendig war, ist einer gerichtlichen Überprüfung vollzugänglich, der
Verwaltung steht insoweit kein Beurteilungsspielraum zu.
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Vgl. Engelhardt, Kommentar zum Verwaltungsvollstreckungsgesetz, S. 65;
Oberverwaltungsgericht (OVG) Münster, Beschluß vom 25. September 1963 - VII B
225/63 -, Monatsschrift für Deutsches Recht (MDR) 1964, 180.
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Nicht notwendig ist der sofortige Vollzug, wenn es der Vollzugsbehörde bei zumutbarem
Bemühen möglich gewesen wäre, den Pflichtigen rechtzeitig zu ermitteln und ihn selbst
zur Beseitigung der Störung zu veranlassen. Art und Maß der von der Vollzugsbehörde
anzustellenden Ermittlungen richten sich dabei nach den besonderen Umständen des
Einzelfalles, insbesondere nach den voraussichtlichen Erfolgsaussichten einer
Ermittlungstätigkeit und dem Grade der drohenden Gefahr.
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Vgl. Steckert, Deutsches Verwaltungsblatt (DVBl) 1971, 245.
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Hierbei ist die Notwendigkeit der Maßnahme nach dem Sach- und Erkenntnisstand der
Vollzugsbehörde zu dem Zeitpunkt, zu dem die Maßnahme getroffen worden ist, zu
beurteilen.
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Vgl. auch Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil. vom 1. Juli 1975 - I C 35.70 -,
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Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwGE) 49,36, = Neue Juristische
Wochenschrift (NJW) 1975, 2158.
Im vorliegenden Fall haben die Polizeibeamten des Beklagten zumutbare Ermittlungen
unterlassen, von denen den Umständen nach angenommen werden kann, daß sie ein
Eingreifen im Wege des sofortigen Vollzugs überflüssig gemacht hätten. Es wäre den
Beamten möglich und zumutbar gewesen, vor einer Beauftragung der Firma XXX
Nachforschungen nicht nur nach dem Geschäftsinhaber XXX sondern auch nach dem
Kläger, dem Hauseigentümer, anzustellen, um diesen - notfalls durch Erlaß eines
Verwaltungsaktes - zu Abhilfemaßnahmen aufzufordern. Die Beamten durften
angesichts des Umstandes, daß es sich bei dem betreffenden Haus um ein größeres
Gebäude mit zahlreichen Mietparteien, einem Geschäftslokal und einer Gaststätte
handelte, nicht darauf vertrauen, daß der - nicht erreichbare - Geschäftsinhaber XXX,
dessen Namensbezeichnung lediglich an dem Geschäft angebracht war, zugleich der
Hauseigentümer war. Sie hätten bei den Mietern im Hause wegen des Namens, der
Anschrift und der Telefonnummer des Hauseigentümers nachfragen können. Da im
Hause 15 Mietparteien wohnten, war damit zu rechnen, daß zumindest einzelne Mieter
auch zu so später Stunde noch bereit gewesen wären, entsprechende Angaben zu
machen. Noch näherliegender wäre es gewesen, den Wirt oder das Personal der im
Hause eingerichteten, zur fraglichen Zeit noch geöffneten Gastwirtschaft entsprechend
zu befragen. Wenn ihnen der Name des Klägers mitgeteilt worden wäre, hätten die
Polizeibeamten sich telefonisch mit dem Kläger in Verbindung setzen oder mit dem
Streifenwagen zu dessen nicht allzu weit entfernt liegenden Wohnung fahren können.
Nach den nicht widerlegbaren Angaben des Klägers war dieser auch am 18. Dezember
1974 in der Zeit zwischen 22.45 und 24.00 Uhr in seiner Wohnung - auch telefonisch -
erreichbar. Die Ersatzvornahme im Wege des sofortigen Vollzuges war daher nicht
notwendig iSd § 55 Abs. 2 VwVG NW. Ob der Beklagte im übrigen im Sinne dieser
Vorschrift "im Rahmen seiner gesetzlichen Befugnisse" gehandelt hat, kann
offenbleiben.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, der Ausspruch der vorläufigen
Vollstreckbarkeit wegen der Kosten folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 10 der
Zivilprozeßordnung (ZPO).
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Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen hierfür nicht gegeben sind
(vgl. § 132 Abs. 2 VwGO).
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