Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 29.05.2008

OVG NRW: aufschiebende wirkung, materielles recht, geschlossene bauweise, öffentlich, wand, grenzabstand, vollziehung, ausnahme, bekleidung, grundstück

Oberverwaltungsgericht NRW, 10 B 616/08
Datum:
29.05.2008
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
10. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
10 B 616/08
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, 5 L 133/08
Tenor:
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des
Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen vom 9. April 2008 geändert. Es wird
festgestellt, dass die beim Verwaltungsgericht Gelsenkirchen erhobene
Klage der Antragstellerin (5 K 560/08) gegen den dem Beigeladenen
erteilten Abweichungsbescheid des Antragsgegners vom 21. Januar
2008 in der Gestalt des Änderungsbescheides vom 22. Februar 2008
aufschiebende Wirkung hat.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens in beiden
Rechtszügen mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten des
Beigeladenen.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 1.500,00 EUR
festgesetzt.
G r ü n d e :
1
Die Beschwerde der Antragstellerin hat Erfolg.
2
1. Ihr Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der beim Verwaltungsgericht
Gelsenkirchen erhobenen Klage (5 K 560/08) gegen den dem Beigeladenen erteilten
Abweichungsbescheid des Antragsgegners vom 21. Januar 2008 in der Gestalt des
Änderungsbescheides vom 22. Februar 2008 bedarf der Auslegung. Nach §§ 122 Abs.
1, 88 VwGO ist das Gericht an die Fassung der Anträge nicht gebunden. Das der
Entscheidung maßgeblich zugrunde zu legende Rechtsschutzziel der Antragstellerin
besteht darin, die Vollziehung der genannten Bescheide einstweilen zu verhindern. Das
hierauf gerichtete Rechtsschutzbegehren ist im vorliegenden Verfahren als Antrag auf
Feststellung der aufschiebenden Wirkung der eingelegten Klage auszulegen. Die Klage
hat bereits nach dem Gesetz aufschiebende Wirkung, so dass eine gerichtliche
Aussetzung der Vollziehung nicht in Betracht kommt.
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Wird ein belastender Verwaltungsakt unter Missachtung der aufschiebenden Wirkung
eines dagegen eingelegten Rechtsbehelfs vollzogen (sog. faktische Vollziehung), ist auf
Antrag des Betroffenen in entsprechender Anwendung des § 80a Abs. 3, § 80 Abs. 5
Satz 1 VwGO festzustellen, dass der Rechtsbehelf aufschiebende Wirkung hat.
4
Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 3. September 1992 - 14 B 684/92 -, NVwZ-RR 1993,
269, vom 1. Dezember 1998 - 10 B 2304/98 -, BRS 60 Nr. 156 und vom 26. März 2004 -
21 B 2399/03 -.
5
Ein solcher Fall liegt hier vor.
6
Der dem Beigeladenen erteilte Abweichungsbescheid des Antragsgegners vom 21.
Januar 2008 in der Gestalt des Änderungsbescheides vom 22. Februar 2008 ist ein
Verwaltungsakt mit Doppelwirkung, der für die Antragstellerin belastend ist.
7
Nach § 80 Abs. 1 VwGO hat die Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung, wenn nicht
einer der Fälle des § 80 Abs. 2 VwGO vorliegt. Das gilt nach § 80 Abs. 1 Satz 2 VwGO
auch bei Verwaltungsakten mit Doppelwirkung. Mangels Anordnung der sofortigen
Vollziehung (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO) entfiele die aufschiebende Wirkung hier
nur, wenn dies durch ein Bundes- oder Landesgesetz vorgeschrieben wäre (§ 80 Abs. 2
Satz 1 Nr. 3 VwGO). Das ist aber nicht der Fall.
8
Eine landesrechtliche Regelung zum Ausschluss der aufschiebenden Wirkung der
Klage gegen eine gemäß § 73 BauO NRW zugelassene - selbständige - Abweichung
von bauordnungsrechtlichen Anforderungen fehlt. Als bundesrechtliche Bestimmung
kommt nur § 212a Abs. 1 BauGB in Betracht. Nach § 212a Abs. 1 BauGB haben
Widerspruch und Anfechtungsklage eines Dritten gegen die „bauaufsichtliche
Zulassung eines Vorhabens" keine aufschiebende Wirkung. Die selbständige
Abweichungsentscheidung gemäß § 73 BauO NRW wird von dieser Regelung nicht
erfasst.
9
Der Begriff der „bauaufsichtlichen Zulassung" bedarf der Auslegung. Dieser ist wie die
Bestimmung des § 212a Abs. 1 BauGB insgesamt restriktiv zu verstehen. Denn bei der
Regelung handelt es sich um eine Ausnahme vom Grundsatz der in § 80 Abs. 1 VwGO
vorgeschriebenen aufschiebenden Wirkung eines eingelegten Rechtsbehelfs. Eine
solche nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO zulässige Ausnahmevorschrift ist
tendenziell eng auszulegen.
10
Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 1. Dezember 1998, a.a.O.; Hamburgisches OVG,
Beschluss vom 19. November 1992 - Bs II 109/92 -, BRS 54 Nr. 150; Fislake, in: Berliner
Kommentar zum BauGB, Stand: April 2008, § 212a Rn 9.
11
Nach dem Wortlaut des § 212a Abs. 1 BauGB ist der Begriff der „bauaufsichtlichen
Zulassung" auf ein Vorhaben bezogen, mithin handelt es sich um eine präventive
Kontrollentscheidung zur Freigabe des Bauvorhabens. § 73 Abs. 1 BauO NRW spricht
dagegen von der Zulassung einer „Abweichung von bauaufsichtlichen Anforderungen
dieses Gesetzes". Insoweit bestimmt diese Vorschrift nicht die Zulässigkeit des
Vorhabens als präventive Kontrollentscheidung vor der Baufreigabe, die § 75 BauO
NRW mit der Baugenehmigung regelt, sondern ermächtigt zur Nichtanwendung einer
entgegenstehenden Norm.
12
Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 1. Dezember 1998, a.a.O.
13
Eine selbständige Abweichungsentscheidung zu einem genehmigungsfreien Vorhaben
ist entgegen einer in der Rechtsprechung vertretenen Auffassung,
14
vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 9. Mai 2006 - 3 S 906/06 -, BRS 70 Nr.
180 (zur grundsätzlich vergleichbaren Bestimmung des § 51 Abs. 5 i.V.m. § 56 der
Landesbauordnung für Baden-Württemberg); so auch Gädtke/Temme/Heintz/Czepuck,
BauO NRW, 11. Aufl. 2008, § 73 Rn 30,
15
auch keine eingeschränkte Zulassung eines Vorhabens. Die
Abweichungsentscheidung ändert nichts daran, dass es für das genehmigungsfreie
Vorhaben kein Zulassungsverfahren gibt. Der Prüfungsumfang ist auf die Reichweite
der Abweichung reduziert. Es ist unerheblich, ob das Vorhaben, für das die Zulassung
der Abweichung beantragt wird, im Übrigen materielles Recht einhält. Wegen der
Genehmigungsfreiheit des Vorhabens muss die Verantwortung für das Vorhaben allein
vom Bauherrn getragen werden. Davon macht § 73 BauO NRW lediglich insoweit eine
Ausnahme, wie die Abweichung reicht, nicht jedoch darüber hinaus.
16
Vgl. Gädtke/Temme/Heintz/Czepuck, a.a.O., § 73 Rn 31.
17
Der partiellen Gleichsetzung der Abweichungsentscheidung mit der Baugenehmigung
stehen auch grundlegende systematische Unterschiede entgegen. Die
Baugenehmigung beseitigt die formelle Sperre des bestehenden präventiven Verbots
mit Erlaubnisvorbehalt. Der Bauherr hat gemäß § 75 Abs. 1 Satz 1 BauO NRW einen
Anspruch auf diese, wenn dem Vorhaben öffentlich-rechtliche Vorschriften nicht
entgegenstehen. Zum einen enthält sie die Feststellung, dass das Vorhaben den
öffentlich-rechtlichen Vorschriften nicht widerspricht, zum anderen erlaubt sie die
Ausführung des genehmigten Vorhabens. Für Abweichungen besteht demgegenüber
ein repressives Verbot mit Befreiungsvorbehalt. Über deren Erteilung entscheidet die
Behörde grundsätzlich nach Ermessen. Zudem steht bei der Abweichung fest, dass das
Vorhaben nicht im Einklang mit den geltenden bauordnungsrechtlichen Bestimmungen
steht.
18
Vgl. Boeddinghaus/Hahn/Schulte, BauO NRW, Stand: Februar 2008, § 63 Rn 3, 7, § 75
Rn 1.
19
Diese Unterschiede gebieten es, die selbständige Abweichungsentscheidung gemäß §
73 BauO NRW anders als eine Baugenehmigung nicht als bauaufsichtliche Zulassung
eines Vorhabens im Sinne des § 212a Abs. 1 BauGB zu bewerten. Beim genehmigten
Vorhaben ist grundsätzlich ein berechtigtes Interesse des Bauherrn an der sofortigen
Realisierung des Vorhabens anzuerkennen, nachdem die Bauaufsichtsbehörde die
Übereinstimmung mit den öffentlich-rechtlichen Vorschriften festgestellt hat.
Demgegenüber ist die Rechtsposition des Bauherrn deutlich schwächer, dem für ein
genehmigungsfreies Vorhaben eine selbständige Abweichung zugelassen worden ist.
Ihm ist grundsätzlich das Abwarten einer zulässigerweise erhobenen Klage eines
Nachbarn zuzumuten, da bei der Abweichung der Verstoß gegen eine potentiell
nachbarschützende bauordnungsrechtliche Bestimmung feststeht und nach Auffassung
der Behörde lediglich ausnahmsweise hingenommen werden soll.
20
Trotz der demnach gegebenen aufschiebenden Wirkung der erhobenen zulässigen
21
Anfechtungsklage soll der Bescheid vollzogen werden. Der Beigeladene hat in der
Vergangenheit wiederholt - u.a. im Schreiben vom 27. März 2007 - zum Ausdruck
gebracht, dass er die Wärmedämmung kurzfristig realisieren wolle. Er hat auch im
anhängigen Eilverfahren nie in Abrede gestellt, dass mit einer umgehenden
Verwirklichung zu rechnen sei. Es fehlt zudem jeglicher Anhaltspunkt dafür, dass der
Antragsgegner ihn hieran hindern will. Vielmehr hat er in seinen Hinweisen zu den
angefochtenen Bescheiden ausgeführt, dass die Rechtsbehelfe von Nachbarn keine
aufschiebende Wirkung haben. Deshalb ist die Feststellung der aufschiebenden
Wirkung der Klage geboten.
2. Selbst wenn man entgegen den obigen Ausführungen den Begriff der
bauaufsichtlichen Zulassung in § 212a Abs. 1 BauGB auch auf die Zulassung einer
selbständigen Abweichung nach § 73 BauO NRW erstreckt, hätte der Antrag auf
Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes Erfolg. Da die aufschiebende Wirkung der
Klage gegen den Abweichungsbescheid des Antragsgegners vom 21. Januar 2008 in
der Gestalt des Änderungsbescheides vom 22. Februar 2008 dann kraft Gesetzes
ausgeschlossen wäre, wäre der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der
eingelegten Klage gemäß § 80a Abs. 3, Abs. 1 Nr. 2, § 80 Abs. 5 VwGO sachgerecht.
Bei der insoweit gebotenen Abwägung der Interessen ist das Aussetzungsinteresse der
Antragstellerin höher zu bewerten als das Interesse des Antragsgegners und des
Beigeladenen an der Vollziehung bzw. Ausnutzung der Abweichungsentscheidung.
Denn der auf § 73 BauO NRW gestützte Abweichungsbescheid ist mit überwiegender
Wahrscheinlichkeit rechtswidrig und verletzt die Antragstellerin in ihren subjektiv-
öffentlichen Nachbarrechten.
22
2.1. Nach § 73 Abs. 1 Satz 1 BauO NRW kann - soweit in diesem Gesetz nichts anderes
geregelt ist - die Genehmigungsbehörde Abweichungen von bauaufsichtlichen
Anforderungen dieses Gesetzes zulassen, wenn sie unter Berücksichtigung des Zwecks
der jeweiligen Anforderungen und unter Würdigung der nachbarlichen Interessen mit
den öffentlichen Belangen vereinbar sind. § 73 Abs. 2 BauO NRW stellt klar, dass diese
Regelung auch für die Zulassung von selbständigen bauordnungsrechtlichen
Abweichungen für genehmigungsfreie bauliche Anlagen gilt.
23
Die Zulassung der selbständigen Abweichung nach § 73 BauO NRW ist bereits deshalb
fehlerhaft, weil sie - nach der Erklärung des Antragsgegners in der Antragserwiderung -
auf eine Gestattung nach § 6 Abs. 14 Satz 2 BauO NRW („können gestattet werden")
bezogen ist. Hierbei kann offen bleiben, ob die Verfahrensvorschrift des § 73 Abs. 2
BauO NRW entsprechend auf die Gestattungen nach § 6 Abs. 13 bis 16 BauO NRW
sowie die Erleichterungen nach § 54 Abs. 1 BauO NRW anwendbar ist. Jedenfalls hat
eine Gestattung nach § 6 Abs. 14 Satz 2 BauO NRW materiell-rechtlich mit einer
Abweichungsentscheidung nach § 73 BauO NRW "nichts zu tun". Die Sonderregelung
des § 6 Abs. 14 BauO NRW enthält eine abschließende Bestimmung zur Abstandfläche
für die nachträgliche Verblendung von Außenwänden zur Verbesserung des
Wärmeschutzes. Kann eine geringere Tiefe der Abstandfläche unter den dort genannten
Voraussetzungen zugelassen werden, erfüllt das Gebäude die bauaufsichtlichen
Anforderungen. Darüber hinaus ist für eine Abweichung von den
Abstandflächenvorschriften auf der Grundlage des § 73 Abs. 1 BauO NRW kein Raum.
24
Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 17. Dezember 1998 - 10 B 2308/98 - und vom 1.
Februar 2000 - 10 B 2092/99 -, BRS 63 Nr. 139 (jeweils zu § 6 Abs. 15 BauO NRW
a.F.).
25
Das Interesse des Beigeladenen, zur Verbesserung des Wärmeschutzes seine
Außenwände nachträglich zu verblenden, rechtfertigt keine Abweichung von § 6 BauO
NRW. Denn dieser Belang findet seine abschließende Berücksichtigung im Rahmen
der speziellen Regelung des § 6 Abs. 14 BauO NRW.
26
Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 27. Oktober 1997 - 10 B 2249/97 - und vom 5. Oktober
1998 - 7 B 1850/98 -, BRS 60 Nr. 105 (jeweils zur abschließenden Berücksichtigung der
Belange des § 6 Abs. 15 BauO NRW a.F.).
27
Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus § 73 Abs. 1 Satz 3 BauO NRW. Danach sind
Abweichungen unter den Voraussetzungen des Satzes 1 zuzulassen, wenn sie der
Verwirklichung von Vorhaben zur Einsparung von Energie dienen. Diese Bestimmung
bezieht sich wegen der abschließenden speziellen Regelung des § 6 Abs. 14 BauO
NRW nicht auf die mit abstandrechtlichen Verstößen verbundene nachträgliche
Bekleidung von Außenwänden zur Verbesserung des Wärmeschutzes.
28
Vgl. Gädtke/Temme/Heintz/Czepuck, a.a.O., § 73 Rn 21.
29
2.2. Die Zulassung einer Abweichung nach § 73 BauO NRW kommt allenfalls dann in
Betracht, wenn eine atypische Grundstückssituation vorliegt, die von dem Normalfall,
welcher der gesetzlichen Regelung der Abstandflächen zugrunde liegt, in so deutlichem
Maße abweicht, dass die strikte Anwendung des Gesetzes zu Ergebnissen führt, die der
Zielrichtung der Norm nicht entsprechen.
30
Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 2. März 2007 - 10 B 275/07 -, BauR 2007, 1027
(1029), vom 5. März 2007 - 10 B 274/07 -, BauR 2007, 1031 (1032) und vom 12.
November 2007 - 7 B 1354/07 -.
31
Hieran fehlt es. Das Grundstück des Beigeladenen weist keine atypischen
Besonderheiten auf. Die Grenzen seines vorderen Teils - auf dem sich die von der
Abweichung betroffenen baulichen Anlagen befinden - verlaufen im rechten Winkel zur
(erschließenden) U.-----straße .
32
2.3. Das Vorhaben des Beigeladenen hält die auch für genehmigungsfreie Vorhaben zu
wahrende Abstandfläche (§ 65 Abs. 4 BauO NRW) nicht ein. Das Vorhaben ist weder
nach § 6 Abs. 14 Satz 1 BauO NRW zulässig noch kommt eine Gestattung nach § 6
Abs. 14 Satz 2 BauO NRW in Betracht.
33
Jedenfalls hinsichtlich der östlichen Außenwand des nördlichen Teils des Hauses des
Beigeladenen ist die Einhaltung einer mindestens 3 m tiefen Abstandfläche erforderlich
(§ 6 Abs. 5 Satz 5, Abs. 6 BauO NRW). Diese Fläche steht nicht zur Verfügung, da die
Außenwand nach der Verblendung nur 2,33 m von der Grenze entfernt sein soll.
34
Die Einhaltung der Abstandfläche ist nicht im Hinblick auf § 6 Abs. 1 Satz 2 Buchst. a)
BauO NRW entbehrlich. Danach ist innerhalb der überbaubaren Grundstücksfläche eine
Abstandfläche nicht erforderlich gegenüber Grundstücksgrenzen, gegenüber denen
nach planungsrechtlichen Vorschriften ohne Grenzabstand oder mit geringerem
Grenzabstand als nach § 6 Abs. 5 und 6 BauO NRW gebaut werden muss.
35
Der Pflicht zur Einhaltung der Abstandfläche steht hier nicht entgegen, dass es mit der -
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u.a. für das Grundstück des Beigeladenen geltenden - Festsetzung der geschlossenen
Bauweise im Bebauungsplan der Stadt C. Nr. 5.11/5 eine planungsrechtliche Vorschrift
gibt, wonach ohne Grenzabstand gebaut werden muss (§ 22 Abs. 3, 1. Halbsatz
BauNVO). Denn der Verzicht auf die Abstandfläche nach § 6 Abs. 1 Satz 2 a) BauO
NRW gilt grundsätzlich nur dann, wenn die bauliche Anlage entsprechend der
planungsrechtlichen Bestimmung grenzständig errichtet wird. Das ist hier nicht der Fall,
da die genannte Außenwand 2,33 m von der Grenze entfernt stehen soll.
Sofern trotz festgesetzter geschlossener Bauweise Außenwände nicht grenzständig
errichtet werden, sind die nach § 6 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 ff. BauO NRW zu bemessenden
Abstandflächen einzuhalten. Das steht mit Planungsrecht im Einklang, soweit es hierfür
eine planungsrechtliche Rechtfertigung gibt. Für die festgesetzte geschlossene
Bauweise ist insoweit die Bestimmung des § 22 Abs. 3, 2. Halbsatz BauNVO
maßgeblich. Diese entbindet ausdrücklich von der Verpflichtung des 1. Halbsatzes,
Gebäude ohne seitlichen Grenzabstand zu errichten, wenn die vorhandene Bebauung
eine Abweichung erfordert. Liegen diese Voraussetzungen vor, so besteht kraft
Planungsrechts weder eine Pflicht noch ein Recht zum Verzicht auf einen seitlichen
Grenzabstand. Welcher Abstand in diesem Fall einzuhalten ist, richtet sich nach dem
jeweiligen Bauordnungsrecht.
37
Vgl. BVerwG, Beschluss vom 12. Januar 1995 - 4 B 197.94 -, BRS 57 Nr. 131.
38
Hier ist ausnahmsweise ein Abweichen vom Bauen ohne seitlichen Grenzabstand
geboten. Denn einer grenzständigen Bebauung steht die auf dem Grundstück der
Antragstellerin befindliche Garage wegen der im Baulastenverzeichnis von C. im
Baulastenblatt Nr. 779 eingetragenen Baulast entgegen. Danach besteht die
Verpflichtung des Beigeladenen - als Rechtsnachfolger der Frau B. T. -, die Fläche
östlich des nördlichen Teils des Wohnhauses U.-----straße 88 von baulichen Anlagen
freizuhalten, um die Zufahrt zur Garage U.-----straße 88a öffentlich-rechtlich zu sichern.
Diese Verpflichtung erstreckt sich entgegen der Auffassung des Antragsgegners auf die
gesamte Fläche bis zur Grundstücksgrenze. Das ergibt sich aus der Grünschraffierung
der zur Baulast zugehörigen Flurkarte. Die Angabe der Breite des Streifens mit ca. 2,30
m stellt demgegenüber keine wirksame Beschränkung dar. Denn es handelt sich
lediglich um eine unpräzise Angabe ("ca."), zu deren Konkretisierung maßgeblich auf
die eindeutige Flurkarte abzustellen ist. Solange die Baulast existiert, ist die Umsetzung
der grenzständigen Bebauung ausgeschlossen. Einer Berücksichtigung der Baulast im
Rahmen des Nachbarrechtsstreits steht nicht entgegen, dass nach ständiger
Rechtsprechung der Bausenate des beschließenden Gerichts,
39
vgl. u.a. Urteil vom 28. Januar 1997 - 10 A 3465/95 -, BRS 59 Nr. 229,
40
die Baulast grundsätzlich ausschließlich dem öffentlichen Interesse dient und dem
Eigentümer des begünstigten Grundstücks regelmäßig keine subjektiv- öffentlichen
Rechte auf deren Durchsetzung gewährt. Es bedarf hier keiner Klärung, ob eine Baulast
selbst ausnahmsweise ein nachbarliches Abwehrrecht zu begründen vermag. Denn hier
ist entscheidend, dass durch die Missachtung der Baulast eine Norm verletzt wird, die
der Nachbarin gegenüber drittschützenden Charakter hat (§ 6 BauO NRW).
41
Vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 9. Dezember 1997 - 5 S 2568/97 -, BRS
59 Nr. 112; Boeddinghaus/Hahn/Schulte, a.a.O., § 83 Rn 84;
Gädtke/Temme/Heintz/Czepuck, a.a.O., § 83 Rn 52.
42
Das Vorhaben des Beigeladenen ist auch nicht auf der Grundlage der
Ausnahmebestimmung des § 6 Abs. 14 Satz 1 BauO NRW zulässig. Hiernach ist bei
bestehenden Gebäuden die nachträgliche Bekleidung oder Verblendung von
Außenwänden zulässig, wenn die Baumaßnahme der Verbesserung des
Wärmeschutzes dient, die Stärke der Bekleidung oder Verblendung nicht mehr als 0,25
m und der verbleibende Abstand zur Nachbargrenze mindestens 2,50 m beträgt. Auf
diese gesetzliche Ausnahmeregelung kann sich der Beigeladene für die geplante
Verblendung seiner Außenwände nicht stützen, weil deren Abstand zur Nachbargrenze
geringer als 2,50 m ist.
43
Auch eine Gestattung nach § 6 Abs. 14 Satz 2 BauO NRW scheidet aus.
44
Nach der Regelung des § 6 Abs. 14 Satz 2 BauO NRW können über die in Satz 1
genannten Maße hinausgehend unter Würdigung nachbarlicher Belange und der
Belange des Brandschutzes geringere Tiefen der Abstandflächen gestattet werden,
wenn die Baumaßnahme der Verbesserung des Wärmeschutzes dient. Die Belange des
Brandschutzes sind grundsätzlich nur dann gewahrt, wenn die Anforderungen des § 31
BauO NRW eingehalten werden. Nach § 31 Abs. 1 Nr. 1 BauO NRW sind bei
Gebäuden, die weniger als 2,50 m von der Nachbargrenze entfernt errichtet werden,
Gebäudeabschlusswände herzustellen, es sei denn, dass ein Abstand von mindestens
5 m zu bestehenden oder zulässigen Gebäuden öffentlich-rechtlich gesichert ist.
45
Die Würdigung der Belange des Brandschutzes gebietet es demnach grundsätzlich, bei
Wärmedämmmaßnahmen eine Unterschreitung des Abstands der Außenwand von 2,50
m zur Nachbargrenze nur unter engen Voraussetzungen zuzulassen: Entweder muss
diese Wand eine Gebäudeabschlusswand sein oder ein Gesamtabstand von 5 m zur
nachbarlichen Wand ist öffentlich-rechtlich gesichert. Diese Voraussetzungen sind hier
nicht erfüllt. Die zur Grenze der Antragstellerin hin ausgerichtete Wand des
Beigeladenen ist ausweislich des vorgelegten Lageplans zum Abweichungsbescheid
nach der Durchführung der Verkleidungsmaßnahme lediglich 4,84 m von der Wand des
Hauses der Antragstellerin entfernt. Eine öffentlich-rechtliche Sicherung zur Einhaltung
eines Abstands von 5 m gibt es nicht. Bei der maßgeblichen Außenwand des Hauses
des Beigeladenen handelt es sich auch nicht um eine Gebäudeabschlusswand im
Sinne des § 31 BauO NRW. Denn in Gebäudeabschlusswänden sind gemäß § 31 Abs.
4 BauO NRW Öffnungen unzulässig. Die Wand verfügt aber sowohl im Erd- wie im
Dachgeschoss über insgesamt vier Fenster. Es gibt keine konkreten Anhaltspunkte
dafür, dass trotz des Verstoßes gegen § 31 BauO NRW ausnahmsweise keine konkrete
Brandübertragungsgefahr besteht. Vielmehr sprechen die gegebenen Verhältnisse für
eine konkrete Brandübertragungsgefahr, da die Schlafzimmerfenster in den
Obergeschossen der benachbarten Wohnhäuser sich unmittelbar gegenüber liegen. Die
Verkürzung des Abstands durch das Heranrücken der Wand an die Grenze verstärkt die
bestehenden Brandlasten. Im übrigen hat weder der Antragsgegner eine Stellungnahme
seiner Feuerwehr eingeholt noch hat der Beigeladene ein Brandschutzgutachten
vorgelegt, denen das ausnahmsweise Fehlen einer konkreten Brandübertragungsgefahr
trotz des Verstoßes gegen § 31 BauO NRW entnommen werden könnte.
46
Nach alledem bedarf es hier keiner Entscheidung, ob darüber hinaus die sonstigen zu
würdigenden Belange der benachbarten Antragstellerin einer Gestattung nach § 6 Abs.
14 Satz 2 BauO NRW entgegen stehen.
47
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1, 162 Abs. 3 VwGO. Die
Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 53 Abs. 3 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG.
48
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3
Satz 3 GKG).
49
50