Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 10.09.2004

OVG NRW (bewertung, antragsteller, beurteilung, funktion, verwaltungsgericht, ergebnis, polizei, datum, beschwerde, ausnahme)

Oberverwaltungsgericht NRW, 6 B 1584/04
Datum:
10.09.2004
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
6. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
6 B 1584/04
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, 1 L 1289/04
Tenor:
Der angefochtene Beschluss wird mit Ausnahme der
Streitwertfestsetzung geändert.
Dem Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung
untersagt, eine der beiden dem Polizeipräsidium C. zum 00.00.0000
zugewiesenen Stellen der Besoldungsgruppe A 10 BBesO mit einem
Konkurrenten zu besetzen, bis über die Bewerbung des Antragstellers
unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut entschieden
worden ist.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens in beiden
Rechtszügen mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der
Beigeladenen, die diese selbst tragen.
Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 2.500,- Euro
festgesetzt.
G r ü n d e:
1
Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Die mit ihr dargelegten Gründe (§ 146 Abs.
4 Sätze 3 und 6 VwGO) führen zum Erfolg des Rechtsmittels.
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Das Verwaltungsgericht hat den Antrag des Antragstellers,
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dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung aufzugeben, die dem
Antragsgegner zum 00.00.0000 zugewiesenen Stellen der Besoldungsgruppe A 10
BBesO II. Säule nicht mit einem Konkurrenten zu besetzen, bis über die Bewerbung des
Antragstellers unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut entschieden
worden ist,
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mit der Begründung abgelehnt, dass der Antragsteller keinen Anordnungsanspruch
glaubhaft gemacht habe, weil die Auswahlentscheidung des Antragsgegners den
rechtlichen Anforderungen standhalte. Da der Antragsteller und die Beigeladenen in
ihren aktuellen Regelbeurteilungen zum 00.00.0000 jeweils das Gesamturteil "übertrifft
die Anforderungen" erhalten hätten, sei ein qualitativer Gleichstand gegeben. Der
Antragsgegner habe entgegen der Auffassung des Antragstellers eine inhaltliche
Ausschöpfung unter Auswertung der dem Gesamturteil zugrunde liegenden
Einzelfeststellungen nicht vornehmen müssen. Eine solche inhaltliche Ausschöpfung
dränge sich bei der hier zu treffenden Personalentscheidung jedenfalls nicht auf. Die
angestrebte Beförderungsstelle sei weder an eine bestimmte Funktion gebunden noch
liege ein besonderes Anforderungsprofil vor. Vielmehr handele es sich um eine
Beförderung, bei der der Beförderte die bisher von ihm wahrgenommene Funktion
beibehalte, die sich gegenüber den übrigen Funktionen in den Eingangsämtern des
Laufbahnabschnitts II nicht durch besondere Merkmale heraushebe. Dass der
Antragsgegner die vorangegangenen Eingangsamtsbeurteilungen bei der
Auswahlentscheidung nicht in den Blick genommen habe, sei zwar zu beanstanden,
führe aber wegen des gleichen Gesamturteils der Vorbeurteilungen nicht zum Erfolg des
Antrages auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes. Angesichts des qualitativen
Gleichstandes zwischen Antragsteller und Beigeladenen sei es im Ergebnis nicht zu
beanstanden, dass der Antragsgegner auf das Datum der letzten Ernennung als
vorrangiges Hilfskriterium zurückgegriffen habe.
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Mit seiner Beschwerde macht der Antragsteller im Wesentlichen geltend: Die der
Entscheidung zugrunde gelegte Annahme des Verwaltungsgerichts, dass eine
qualitative Ausschärfung nur dann zwingend durchzuführen sei, wenn sie sich
aufdränge, lasse sich aus der einschlägigen Rechtsprechung des
Oberverwaltungsgerichts nicht ableiten. Hiernach sei der Dienstherr vielmehr
verpflichtet, eine inhaltliche Ausschöpfung der dienstlichen Beurteilungen ernsthaft in
Betracht zu ziehen. Grundsätzlich auf der ersten Stufe sei zu prüfen, ob sich die
Behörde überhaupt mit der Frage der inhaltlichen Ausschöpfung beschäftigt habe. Sei
dies nicht der Fall, führe dies allein zur Rechtswidrigkeit der Beförderungsentscheidung.
Im vorliegenden Fall sei eine qualitative Ausschärfung der dienstlichen Beurteilung
unstreitig unterblieben, was das Verwaltungsgericht gleichwohl nicht als rechtsfehlerhaft
gewertet habe. Das Verwaltungsgericht habe in diesem Zusammenhang zu Unrecht
darauf abgestellt, dass die zu vergebende Stelle der Besoldungsgruppe A 10 II. Säule
nicht an eine bestimmte Funktion gebunden sei und kein besonderes Anforderungsprofil
vorliege. Dies sei bei Beförderungsstellen bei der Polizei der Landes Nordrhein-
Westfalen grundsätzlich der Fall. Der Grundsatz der Bestenauslese, der die qualitative
Ausschärfung von Beurteilungen einschließe, sei jedoch bei allen Beförderungen zu
berücksichtigen, und nicht nur dann, wenn auf der Beförderungsstelle eine neu
wahrzunehmende Funktion ausgeübt werden solle. Zudem sei in der II. Säule ein
besonderes Augenmerk auf die Mitarbeiterführung zu legen. Vor diesem Hintergrund sei
ein qualitative Ausschärfung insbesondere auch mit Blick auf die Beurteilung des
Hauptmerkmals 4 (Mitarbeiterführung) durchzuführen. Dabei gelange man zu dem
Ergebnis, dass die Beigeladenen eine Führungsverantwortung nicht ausgeübt hätten
und somit das Merkmal 4 nicht beurteilt worden sei. Bereits dieser Punkt führe zu einem
qualitativen Vorsprung der dienstlichen Beurteilung des Antragstellers.
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Der Antragsteller hat mit seiner Beschwerde Gründe dargelegt, die es gebieten, den
angefochtenen Beschluss zu ändern und dem Antrag auf Gewährung vorläufigen
Rechtsschutzes gemäß dem Beschlussausspruch stattzugeben. Er hat hierfür einen
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Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.
Nach der im Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes vorzunehmenden
summarischen Prüfung hat der Antragsgegner bei der Entscheidung über die Besetzung
der Beförderungsplanstellen sein Auswahlermessen fehlerhaft ausgeübt.
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Zwar lässt die vom Antragsteller zugunsten des Beigeladenen zu 1. getroffene
Auswahlentscheidung keine Rechtsfehler erkennen, die sich zum Nachteil des
Antragstellers auswirken könnten. Insoweit wird auf die Darlegungen in dem Beschluss
vom 8. September 2004 - 6 A 1586/04 - Bezug genommen. Dagegen sieht der Senat
durch die Auswahlentscheidung des Antragsgegners, die andere der beiden
streitbefangenen Beförderungsstellen mit dem Beigeladenen zu 2. zu besetzen, das
Recht des Antragstellers auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über sein
Beförderungsbegehren verletzt.
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Der Antragsgegner hat in Anwendung der Beurteilungsrichtlinien im Bereich der Polizei
des Landes Nordrhein-Westfalen vom 25. Januar 1996 (BRL Pol), MBl. NRW. 1996,
278, in der Fassung der einschlägigen Änderungen, den Antragsteller und den
Beigeladenen zu 2. als im Wesentlichen gleich gut qualifiziert eingestuft und die
Beförderungsentscheidung auf das Datum der letzten Ernennung als das nach seiner
Beförderungspraxis vorrangig heranzuziehende Hilfskriterium gestützt. Die dieser
Entscheidung zugrunde liegende Annahme eines Qualifikationsgleichstandes hat der
Antragsgegner allein dem Gesamturteil der aktuellen dienstlichen Regelbeurteilungen
vom 00.00.0000(betreffend den Antragsteller) und vom 00.00.0000 (betreffend den
Beigeladenen zu 2.) entnommen, welches mit "Die Leistung und Befähigung des ...
übertreffen die Anforderungen" für beide Beamten gleich lautet. Dass es der
Antragsgegner dabei hat bewenden lassen, hinsichtlich der aktuellen
Regelbeurteilungen aus dem Jahre 0000 nur deren (gleichlautende) Gesamturteile in
den Blick zu nehmen, ohne eine weitergehende inhaltliche Auswertung in Betracht zu
ziehen, erweist sich als rechtsfehlerhaft, weil sich - anders als bei der zwischen dem
Antragsteller und dem Beigeladenen zu 1. getroffenen Auswahlentscheidung - eine
inhaltliche Ausschöpfung der Regelbeurteilungen in Bezug auf die (unterschiedliche)
Bewertung der Hauptmerkmale hier durchaus aufdrängt.
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Der Senat geht in ständiger Rechtsprechung,
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vgl. Beschlüsse vom 27. Februar 2004 - 6 B 2451/03 -, vom 4. Juni 2004 - 6 B 637/04 -
und vom 25. August 2004 - 6 B 1649/04 -,
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davon aus, dass der Dienstherr zu einer inhaltlichen Ausschöpfung dienstlicher
Beurteilungen nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet ist, eine solche zumindest
ernsthaft in Betracht zu ziehen. Der Dienstherr muss bei gleichlautenden Gesamturteilen
der Frage nachgehen, ob die Einzelfeststellungen in aktuellen dienstlichen
Beurteilungen eine Prognose über die zukünftige Bewährung im Beförderungsamt
ermöglichen. Er darf sich also im Rahmen des Qualifikationsvergleichs nicht ohne
weiteres auf das Gesamturteil aktueller Beurteilungen beschränken. Führt die
Auswertung der Einzelfeststellungen zu dem Ergebnis, dass ein Beamter für das
Beförderungsamt besser qualifiziert ist als seine Mitbewerber, dann wird dies auch die
Bedeutung älterer Beurteilungen regelmäßig in den Hintergrund drängen.
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Bei der Würdigung von Einzelfeststellungen einer Beurteilung kommt dem Dienstherrn
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ein gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbarer Beurteilungsspielraum zu. Die
Entscheidung des Dienstherrn, bestimmte Einzelfeststellungen zur Begründung eines
Qualifikationsvorsprungs heranzuziehen oder ihnen keine Bedeutung beizumessen, ist
im Grundsatz deshalb nur dann zu beanstanden, wenn der in diesem Zusammenhang
anzuwendende Begriff oder der gesetzliche Rahmen, in dem sich der Dienstherr frei
bewegen kann, verkannt worden ist oder wenn von einem unrichtigen Sachverhalt
ausgegangen, allgemein gültige Wertmaßstäbe nicht beachtet oder sachfremde
Erwägungen angestellt worden sind. Im Interesse effektiver Rechtsschutzgewährung
trifft den Dienstherrn dabei eine - u.U. erhöhte - Begründungs- und
Substantiierungspflicht, wenn er sich aufdrängenden oder zumindest nahe liegenden
Unterschieden in den dienstlichen Beurteilungen der jeweiligen Konkurrenten keine
Bedeutung beimessen will.
Die Beurteilungsrichtlinien im Bereich der Polizei schließen eine inhaltliche Auswertung
von Beurteilungen nicht aus. Auch im Anwendungsbereich dieser
Beurteilungsrichtlinien ermöglichen in erster Linie die Gesamturteile eine vergleichende
Betrachtung. Bei gleichlautenden Gesamturteilen kann wegen der Schematisierung des
Beurteilungssystems aber auch die Bewertung vor allem der Hauptmerkmale
aussagekräftig sein. Dabei geht es nicht um beschreibende Einzelaussagen, die
angesichts der Verwendung eines standardisierten "Beschreibungskatalogs" in den
Hintergrund treten können, sondern um in Notenstufen ausgedrückte Bewertungen, die
als solche bei vergleichender Betrachtung eine unmittelbare Reihung ermöglichen
können.
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Vgl. Beschluss des Senats vom 27. Februar 2004 - 6 B 2451/03 -.
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Den dagegen erhobenen Einwand des Antragsgegners, das nach den BRL Pol
zustande gekommene Gesamturteil sei keinesfalls wieder auf die Ebene der
Hauptmerkmale zurückzuführen, so dass ein Rückgriff auf die reinen Punktwerte
bewerteter Hauptmerkmale zu einer Verfälschung führen könne, hält der Senat nicht für
stichhaltig. Da der Rückgriff auf die Bewertung der Hauptmerkmale im Rahmen des
Qualifikationsvergleichs ohnehin nur bei gleichem Gesamturteil in Betracht kommt,
vermag der Senat nicht zu erkennen, weshalb eine solche inhaltliche Ausschöpfung das
Gesamturteil, welches als primäres Auswahlkriterium auf der Leistungsebene
unverändert erhalten bleibt, verfälschen würde. Es geht auch nicht um eine Rückführung
des Gesamturteils auf die Ebene der Hauptmerkmale, sondern allein darum, die
Bewertung der Hauptmerkmale zur Gewinnung zusätzlicher Erkenntnisse für den
Qualifikationsvergleich heranzuziehen. Da das Gesamturteil auf der Bewertung der
Leistungs- und Befähigungsmerkmale unter Würdigung ihrer Gewichtung basiert (Nr.
9.1. BRL Pol), verliert die Bewertung der Hauptmerkmale durch die Bildung des
Gesamturteils keineswegs ihre Aussagekraft. Andernfalls würde es keinen Sinn
machen, dass die Beurteilungsrichtlinien die Berücksichtigung von Richtsätzen nicht nur
beim Gesamturteil, sondern auch bei der Beurteilung der Hauptmerkmale vorschreiben
(Nr. 8.2.2 BRL Pol) und bei der Abweichung der Endbeurteilung vom
Beurteilungsvorschlag eine Begründungspflicht sowohl hinsichtlich der Abweichung
vom Gesamturteil als auch von der Bewertung der Hauptmerkmale beinhalten (Nr. 9.2
BRL Pol). Daher behalten Hauptmerkmale auch bei einer Änderung des Gesamturteils
ihre Aussagekraft. Anders liegt der Fall bei den Submerkmalen, weil diese vom
Endbeurteiler grundsätzlich nicht geändert werden, wenn er in Anwendung von Nr. 9.2
BRL Pol zu einer anderen Bewertung der Hauptmerkmale und des Gesamturteils
gelangt.
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Vgl. Beschluss des Senats vom 12. Mai 2004 - 6 B 189/04 -.
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Unter Anwendung dieser Grundsätze drängt sich hier eine inhaltliche Ausschöpfung der
aktuellen Regelbeurteilungen des Antragstellers und des Beigeladenen zu 2. mit Blick
auf die Bewertung der Hauptmerkmale auf, denn der Antragsteller hat beim
Hauptmerkmal Sozialverhalten die Höchstnote von 5 Punkten erreicht, während der
Beigeladene zu 2. insoweit nur mit 4 Punkten beurteilt worden ist. Auch wenn die
weiteren - in beiden Beurteilungen ausgewiesenen - Hauptmerkmale
(Leistungsverhalten und Leistungsergebnis) übereinstimmend jeweils mit 4 Punkten
beurteilt worden sind, so darf dies nicht dazu führen, die unterschiedliche Beurteilung
des Hauptmerkmals Sozialverhalten aus dem Qualifikationsvergleich völlig
auszublenden. Das Sozialverhalten, welches die Zusammenarbeit mit Kollegen, das
Verhalten gegenüber Vorgesetzten und dem Umgang mit Bürgern umfasst, ist an keine
bestimmte Funktion gebunden, so dass die Bewertung dieses Hauptmerkmals
Bedeutung für jedes Beförderungsamt haben kann.
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Die hier bestehende Pflicht zur inhaltlichen Ausschöpfung der Regelbeurteilungen im
Rahmen der Auswahlentscheidung zwischen dem Antragsteller und dem Beigeladenen
zu 2. besagt nicht, dass die bessere Bewertung des genannten Hauptmerkmals in der
Beurteilung des Antragstellers von ausschlaggebender Bedeutung sein müsste. Den
Antragsgegners trifft bei dieser Sachlage aber eine Begründungs- und
Substantiierungspflicht, wenn er dem Unterschied in den Beurteilungen keine
Bedeutung beimessen will. Diesem Erfordernis ist der Antragsgegner bislang nicht
nachgekommen, so dass sich die Auswahlentscheidung als defizitär darstellt.
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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 3 VwGO, die
Streitwertfestsetzung auf §§ 53 Abs. 3 Nr. 1, 52 Abs. 2, 72 GKG in der seit dem 1. Juli
2004 geltenden Fassung.
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