Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 03.12.2008

OVG NRW: aufschiebende wirkung, aufenthaltserlaubnis, lebensmittelpunkt, eltern, brasilien, familie, umzug, ausländerrecht, heirat, hauptsache

Oberverwaltungsgericht NRW, 19 B 444/08
Datum:
03.12.2008
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
19. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
19 B 444/08
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Köln, 5 L 47/08
Tenor:
1. des angefochtenen Beschlusses wird geändert.
Die aufschiebende Wirkung der Klage 5 K 310/08 gegen die
Ordnungsverfügung des Antragsgegners vom 14. Dezember 2007 wird
angeordnet.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens beider Instanzen.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 2.500,- EUR
festgesetzt.
Gründe:
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Die zulässige Beschwerde ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat den Antrag des
Antragstellers auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage 5 K 310/08 gegen
die Ordnungsverfügung des Antragsgegners vom 14. Dezember 2007 zu Unrecht
abgelehnt. Der Antrag ist zulässig und begründet.
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Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die
aufschiebende Wirkung im Fall des Absatzes 2 Nr. 3, in dem die aufschiebende
Wirkung kraft Bundesrechts entfällt - hier der Klage gegen die Ablehnung des Antrags
auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG - ganz oder
teilweise anordnen. Nach 8 Satz 2 AG VwGO i. V. m. § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann
das Gericht der Hauptsache ferner im Fall des § 8 Satz 1 AG VwGO, in dem einem
Rechtsbehelf gegen eine Maßnahme einer Vollzugsbehörde in der
Verwaltungsvollstreckung - hier der Abschiebungsandrohung in der Ordnungsverfügung
des Antragsgegners vom 14. Dezember 2007 - die aufschiebende Wirkung fehlt, diese
ganz oder teilweise anordnen. Die demnach vorzunehmende Interessenabwägung fällt
zu Gunsten des Antragstellers aus, weil Überwiegendes dafür spricht, dass die
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Ordnungsverfügung des Antragsgegners im Hauptsacheverfahren keinen Bestand
haben wird und bei dieser Sachlage das Interesse des Antragstellers überwiegt,
vorläufig im Bundesgebiet bleiben zu können.
Nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage spricht Überwiegendes dafür,
dass der Antragsteller einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus § 32
Abs. 1 Nr. 2 AufenthG hat. Nach dieser Vorschrift ist dem minderjährigen ledigen Kind
eines Ausländers eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn beide Eltern oder der
allein personensorgeberechtigte Elternteil eine Aufenthaltserlaubnis,
Niederlassungserlaubnis oder Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG besitzen und das
Kind seinen Lebensmittelpunkt zusammen mit seinen Eltern oder dem allein
personensorgeberechtigten Elternteil in das Bundesgebiet verlegt. Nach summarischer
Prüfung spricht Überwiegendes dafür, dass der Kläger diese Voraussetzungen erfüllt.
Die Vorschrift ist auf ihn anwendbar, obwohl er inzwischen volljährig ist, weil insoweit
maßgeblich das Alter des Antragstellers im Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf
Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ist.
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Vgl. zu § 20 Abs. 4 AuslG 1990: BVerwG, Urteil vom 18. November 1997 - 1 C 22.96 -,
InfAuslR 1998, 161 (163).
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Im Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis am 26.
Februar 2007 hatte der am 27. Juni 1989 geborene Antragsteller sein 18. Lebensjahr
noch nicht vollendet. Seine Mutter war zu diesem Zeitpunkt auch allein
personensorgeberechtigt und besaß eine Aufenthaltserlaubnis. Nach dem
Sitzungsprotokoll des Ersten Amtsgerichts für Zivilrechtliche Angelegenheiten des
Kreises B. -T. Q. vom 1. September 2004 behielt seine Mutter bei ihrer Trennung vom
Vater des Antragstellers das Sorgerecht. Sie erhielt am 9. Januar 2007 vom
Antragsgegner eine bis zum 30. Dezember 2009 befristete Aufenthaltserlaubnis. Es
spricht auch Überwiegendes dafür, dass der Antragsteller seinen Lebensmittelpunkt
zusammen mit seiner Mutter ins Bundesgebiet verlegte.
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Das minderjährige Kind verlegt seinen Lebensmittelpunkt auch dann zusammen mit
dem allein sorgeberechtigten Elternteil ins Bundesgebiet, wenn es seinen
Lebensmittelpunkt nicht gleichzeitig, aber noch im zeitlichen Zusammenhang mit der
Verlegung des Lebensmittelpunktes des allein personensorgeberechtigten Elternteil ins
Bundesgebiet verlegt. Wann ein solcher zeitlicher Zusammenhang (noch) vorliegt,
richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls. Entscheidend ist, dass das Gesamtbild
eines Umzugs der gesamten Familie vom Ausland ins Bundesgebiet gewahrt bleibt.
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Vgl. auch Ziffer 32.1.3.7 der Vorläufigen Anwendungshinweise des Bundesministeriums
des Innern.
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Dies ergibt sich aus der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zu § 32
Abs. 1 Nr. 3 AufenthG. Demnach ist es, wenn die gesamte Familie zusammen
zuwandert und damit der Lebensmittelpunkt der Kinder gemeinsam mit den Eltern oder
im zeitlichen Zusammenhang mit der Zuwanderung der Eltern ins Bundesgebiet
verlagert wird, gerechtfertigt, den Nachzugsanspruch allen minderjährigen Kindern
einzuräumen. Für einen Umzug der ganzen Familie bedürfe es oft weitreichender
Vorbereitungen (Wohnungssuche, Suche eines Kindergarten oder Schulplatzes,
Auswahl von Betreuungspersonen, etc.). Es könne sachgerecht sein, dem Kind vor dem
Umzug die Beendigung des laufenden Schuljahres zu ermöglichen. Die gemeinsame
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Verlagerung des Lebensmittelpunktes sei daher nicht mit einer gleichzeitigen Einreise
aller Familienangehörigen gleichzusetzen, sondern bezeichne einen Vorgang, dessen
Dauer sich nach den Umständen des Einzelfalles richte.
BT-Drs. 15/420, S. 83.
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Hieraus ergibt sich, dass der Lebensmittelpunkt der Eltern und des minderjährigen
Kindes nicht gleichzeitig ins Bundesgebiet verlagert werden muss, sondern dass es
ausreicht, wenn der Lebensmittelpunkt des minderjährigen Kindes im zeitlichen
Zusammenhang mit dem der Eltern in Bundesgebiet verlagert wird, dass aber das
Gesamtbild eines gemeinsamen Umzugs nach den Umständen des Einzelfalles noch
gewahrt sein muss („ein Vorgang").
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Gemessen an diesem Maßstab ist nach Aktenlage das Gesamtbild eines gemeinsamen
Umzugs des Antragstellers und seiner Mutter von Brasilien nach Deutschland noch
gewahrt. Die Mutter des Antragstellers verlegte ihren Lebensmittelpunkt durch ihre
Heirat mit Herrn L. am 7. Dezember 2006 von Brasilien nach Deutschland und betrieb
unmittelbar anschließend den Nachzug des Antragstellers, der sich ohne nennenswerte
Verzögerungen durch seine Einreise am 11. Februar 2007 vollzog. Seinen
Lebensmittelpunkt hat jemand dort, wo sich der Schwerpunkt seiner
Lebensbeziehungen befindet.
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Vgl. Marx, in: Gemeinschaftskommentar zum Aufenthaltsgesetz, Stand Juni 2008, § 32,
Rn 45; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand April 2008, § 32 AufenthG, Rn 10; Renner,
Ausländerrecht, 8. Aufl. 2005, § 32 AufenthG, Rn 9.
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Demnach verlegte die Mutter des Antragstellers ihren Lebensmittelpunkt nicht schon mit
ihrer Einreise am 18. Oktober 2006, sondern erst durch ihre Heirat mit Herrn L. am 7.
Dezember 2006 ins Bundesgebiet, weil sie erst hierdurch eine rechtlich gesicherte und
damit dauerhafte Beziehung zu Herrn L. und damit zum Bundesgebiet begründete und
einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1
AufenthG erwarb. Unmittelbar im Anschluss hieran betrieb sie die Verlegung des
Lebensmittelpunktes des Antragstellers ins Bundesgebiet, welche sich ohne
nennenswerte Verzögerungen vollzogen hat. Am 19. Dezember 2006 bevollmächtigte
der Vater des Antragstellers Herrn B1. G. T1. , die erforderlichen Unterlagen für die
Genehmigung und die Einziehung des Reisepasses des Antragstellers zu besorgen.
Anfang 2007 beantragte Herr G. T1. dann eine richterliche Verfügung, damit der
Antragsteller seinen Reisepass einziehen und unbegleitet nach Deutschland reisen
konnte, die ihm am 23. Januar 2007 erteilt wurde. Am 11. Februar 2007 reiste der
Antragsteller sodann ins Bundesgebiet ein.
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An einer gemeinsamen Verlegung des Lebensmittelpunktes ins Bundesgebiet fehlte es
auch nicht deshalb, weil der Antragsteller und seine Mutter zuvor keinen gemeinsamen
Lebensmittelpunkt in Brasilien gehabt hätten. Der Antragsteller hat insoweit glaubhaft
vorgetragen, er, seine Mutter und sein Bruder hätten vor der Einreise (seiner Mutter) ins
Bundesgebiet gemeinsam in einer Wohnung gelebt. Dass der Antragsteller nach
Angaben des Herrn L. vor seiner Einreise ca. drei Monate bei Bekannten lebte, steht
dem nicht entgegen. Hierbei handelte es sich um die Zeit zwischen der Einreise seiner
Mutter am 18. Oktober 2006 und seiner eigenen Einreise am 11. Februar 2007, die der
Antragsteller notwendigerweise außerhalb des Haushalts seiner Mutter verbringen
musste, was der Annahme einer gemeinsamen Verlegung des Lebensmittelpunktes
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aber - wie dargelegt - nicht entgegensteht.
Die weiteren Erteilungsvoraussetzungen sind nach summarischer Prüfung erfüllt. Der
Lebensunterhalt des Antragstellers ist gesichert (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG), weil Herr L.
eine entsprechende Verpflichtungserklärung für ihn abgegeben hat. Über einen gültigen
Pass (§ 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG) dürfte der Antragsteller bei seiner Einreise verfügt
haben. Von der vorherigen Einholung eines Visums zur Familienzusammenführung war
er nach § 39 Nr. 3 AufenthV in der bis zum 27. August 2007 geltenden Fassung,
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vgl. OVG NRW, Beschluss vom 21. Dezember 2007 - 18 B 1535/07 -, InfAuslR 2008,
129 (130 f.),
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befreit, weil er sich als brasilianischer Staatsangehöriger am 26. Februar 2007
rechtmäßig visumfrei im Bundesgebiet aufhielt und die Voraussetzungen eines
Anspruchs auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erfüllt waren.
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Die Abschiebungsandrohung kann bei Bestehens eines Anspruchs auf Erteilung einer
Aufenthaltserlaubnis keinen Bestand haben.
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Da der Antragsteller voraussichtlich einen Anspruch auf Erteilung einer
Aufenthaltserlaubnis hat, ist ihm ein vorübergehendes Verlassen des Bundesgebiets
und eine spätere Wiedereinreise nicht zumutbar.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47, 53 Abs. 3 Nr. 2, 52 Abs. 1 und 2 GKG.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§152 Abs. 1 VwGO, §§ 66 Abs. 3 Satz 3, 68 Abs. 1
Satz 5 GKG).
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