Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 22.06.1999

OVG NRW: anschrift, tante, verfügung, flughafen, androhung, bad, vollstreckung, verwaltungsrecht, einverständnis, zivilrecht

Oberverwaltungsgericht NRW, 24 A 3320/95
Datum:
22.06.1999
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
24. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
24 A 3320/95
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Düsseldorf, 19 K 4784/92
Tenor:
Die Berufung wird als unzulässig verworfen.
Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien
Berufungsverfahrens.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die
Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des
Vollstreckungsbetrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der
Vollstreckung in derselben Höhe Sicherheit leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
1
Der im Jahre 1971 in L. geborene Kläger bezog ab Ende Oktober 1988 als
Asylbewerber vom Beklagten Hilfe zum Lebensunterhalt. Am 2. November 1991 wurde
er auf dem Flughafen E. festgenommen. Er führte einen falschen französischen Pass,
ein Flugticket von Brüssel nach New York und zurück sowie ausländische Banknoten
im Werte von über 5.100,-- DM bei sich. Das Geld wurde beschlagnahmt und an den
Beklagten weitergeleitet, der daraufhin ab Dezember 1991 die Sozialhilfeleistungen
einstellte. Zugleich nahm der Beklagte mit Bescheid vom 8. November 1991 gemäß §
45 Abs. 2 Nr. 1 SGB X die für die Zeit vom 1. Dezember 1990 bis zum 30. November
1991 erlassenen Bewilligungsbescheide zurück und forderte die für den genannten
Zeitraum erbrachte Sozialhilfe in Höhe von insgesamt 5.327,05 DM gemäß § 50 Abs. 1
SGB X vom Kläger zurück.
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Mit seinem Widerspruch führte der Kläger aus, daß er seit zwei Jahren mit seiner in L.
lebenden Tante einen Kleidungshandel in der Form betreibe, daß er die Sachen hier
einkaufe und nach L. schicke, wo seine Tante sie mit Gewinn veräußere. Von dem Erlös
werde zu einem Teil seine in L. lebende Familie unterstützt, von dem restlichen Geld
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kaufe er weitere Kleidungsstücke. Er selbst habe für sich damit keinen Gewinn erzielt.
Das im Flughafen beschlagnahmte Geld habe ihm seine Tante zur Verfügung gestellt.
Mit Widerspruchsbescheid vom 3. Juni 1992 wies der Beklagte den Widerspruch nach
Anhörung sozial erfahrener Personen zurück.
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Der Kläger hat am 17. Juni 1992 Klage erhoben. Ergänzend zu seinem bisherigen
Vorbringen hat er vorgetragen, er habe den Handel seiner Tante zwar aufbauen helfen,
sei jedoch nicht Geschäftsinhaber gewesen und habe insbesondere von dem Gewinn
keine laufenden Einnahmen gehabt. Er habe von seiner Tante nur die Einkaufsgelder
bekommen, nie aber eine Vergütung erhalten.
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Er hat beantragt,
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den Bescheid des Beklagten vom 8. November 1991 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 3. Juni 1992 aufzuheben.
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Der Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung hat er auf sein vorprozessuales Vorbringen verwiesen.
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Eine an den Prozeßbevollmächtigten des Klägers gerichtete Anfrage des
Verwaltungsgerichts vom 27. Januar 1994, ob der Kläger sich noch unter der in der
Klageschrift angegebenen Anschrift im Bundesgebiet aufhalte, ist unbeantwortet
geblieben.
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Ausweislich eines Aktenvermerks vom 29. September 1994 über eine von Seiten des
Verwaltungsgerichts an das Ausländeramt des Beklagten gerichtete Anfrage ist der
Kläger am 6. November 1992 von Amts wegen nach unbekannt abgemeldet worden.
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Das Verwaltungsgericht hat die Klage durch den angefochtenen Gerichtsbescheid vom
23. März 1995 abgewiesen, auf den wegen der Einzelheiten Bezug genommen wird.
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Dagegen hat der Kläger - ohne Angabe einer Anschrift - fristgerecht Berufung eingelegt,
mit der er sein erstinstanzliches Begehren weiterverfolgt.
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Er beantragt schriftsätzlich sinngemäß,
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nach seinem erstinstanzlich gestellten Antrag zu erkennen.
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Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Nach seiner Auffassung hat das Verwaltungsgericht zu Recht darauf hingewiesen, daß
sich keine neuen Gesichtspunkte ergeben hätten, die zu einer anderen Bewertung als in
den vorausgegangenen Beschlüssen in den Verfahren des einsteiligen Rechtsschutzes
führen könnten.
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Der Prozeßbevollmächtigte des Klägers ist durch gerichtliche Verfügung unter
Fristsetzung für eine Stellungnahme bis zum 19. Mai 1999 darauf aufmerksam gemacht
worden, daß Bedenken an der Zulässigkeit der Berufung bestehen, weil die in der
Klageschrift angegebene Anschrift des Klägers nicht mehr zutrifft und eine andere
ladungsfähige Anschrift nicht verfügbar ist.
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Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung ohne mündliche
Verhandlung durch den Berichterstatter einverstanden erklärt.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die
Gerichtsakten des vorliegenden Verfahrens und der Verfahren 19 L 4389/91, 19 L 70/92,
19 L 1546/92, 19 L 1880/92, 19 L 2349/92, 19 L 2742/92 und 19 L 3689/92
Verwaltungsgericht E. sowie auf die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des
Beklagten (4 Hefte) Bezug genommen.
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Entscheidungsgründe:
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Die Entscheidung ergeht im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche
Verhandlung durch den Berichterstatter (§ 125 Abs. 1 iVm § 101 Abs. 2 und § 87 Abs. 2
und 3 VwGO).
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Die Berufung ist unzulässig und deshalb zu verwerfen (§ 125 Abs. 2 Satz 1 VwGO). Sie
ist nicht formgerecht eingelegt worden, da der Kläger entgegen dem für das
Berufungsverfahren entsprechend geltenden § 82 Abs. 1 Satz 1 VwGO keine
ladungsfähig Anschrift angegeben hat. Nach § 82 Abs. 1 Satz 1 VwGO (ähnlich § 253
Abs. 2 Nr. 1 ZPO) muß die Klage den Kläger, den Beklagten und den Gegenstand des
Klagebegehrens bezeichnen. Aus § 173 VwGO iVm § 253 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 4 ZPO und
dem für vorbereitende Schriftsätze geltenden § 130 Nr. 1 ZPO folgt, daß zur
Bezeichnung des Klägers auch die Angabe des Wohnortes (samt Straße und
Hausnummer) gehört. Nach herrschender Auffassung sowohl im Zivilrecht,
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vgl. Bundesgerichtshof, Urteil vom 9. Dezember 1987 - IV b ZR 4/87 -, NJW 1988, 2114,
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wie auch im Verwaltungsrecht,
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vgl. OVG NW, Urteil vom 18. Juni 1993 - 8 A 1447/90 -, NVwZ-RR 1994, 124; Beschluß
vom 6. März 1996 - 19 E 944/95 -, NVwZ-RR 1997,390 = NWVBl. 1996, 397; Urteil vom
22. August 1996 - 25 A 7536/95 -, DVBl. 1997, 678; Hess.VGH, Beschluß vom 21.
Dezember 1988 - 4 TG 2070/88 -, NJW 1990, 138; Urteil vom 15. Mai 1995 - 7 UE
2052/94 -, NVwZ-RR 1996, 179; Kopp, VwGO, 11. Aufl., § 82 Rnr. 4.; anderer
Auffassung: Hess.VGH, Beschluß vom 30. Mai 1989 - 12 TH 1658/89 -, NJW 1990, 140,
und VGH Bad.-Württ., Urteil vom 22. April 1996 - 1 S 662/95 -,
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zählt die Angabe der ladungsfähigen Anschrift des Klägers grundsätzlich zum
notwendigen Inhalt der Klageschrift.
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Durch das Erfordernis, die ladungsfähige Anschrift anzugeben, wird dem Kläger im
Verwaltungsprozeß nichts abverlangt, was seinem Anspruch auf Gewährung effektiven
Rechtschutzes ernsthaft entgegensteht. In Fällen, in denen das der Fall wäre, weil es
dem Kläger unmöglich oder unzumutbar ist, eine Anschrift mitzuteilen, oder wenn
schutzwürdige Geheimhaltungsinteressen entgegenstehen, können Ausnahmen vom
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Erfordernis der Angabe einer ladungsfähigen Anschrift zugelassen werden.
Vgl. für den Fall der Obdachlosigkeit: BayVGH, Beschluß vom 1. Juni 1992 - 12 CE
92.1201 -, BayVBl. 1992, 594.
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Die beschriebenen Anforderungen an den notwendigen Inhalt der Klageschrift gelten
über § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO entsprechend für die Anforderungen, die an eine
ordnungsgemäße Berufungseinlegung zu stellen sind.
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Vgl. OVG NW, Beschluß vom 15. März 1984 - 19 B 20186/84 -, DÖV 1984, 893, 894;
VGH Bad.-Württ., Urteile vom 11. März 1997 - 9 S 2904/95 -, VGH BW
Rechtsprechungsdienst 1997, Beilage 5, B 3, und Beschluß vom 27. September 1994 -
6 S 2322/94 -, VGH BW, Rechtsprechungsdienst 1994, Beilage 12, B 2-3 = Die Justiz
1995, 101.
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Der vom Bundesgerichtshof im Beschluß vom 9. Dezember 1987 - IV b ZR 4/87 -, NJW
1988, 2114, für die Zulässigkeit einer Berufung herangezogene Gedanke, es müsse
dem Kläger möglich sein, die Rechtsauffassung des Vordergerichts durch die höhere
Instanz überprüfen zu lassen, ohne durch Mitteilung seiner Anschrift seinen
Rechtsstandpunkt praktisch aufgeben zu müssen, hindert die Annahme der
Unzulässigkeit der Berufung im vorliegenden Fall nicht, denn das Verwaltungsgericht
hat die Klage, die zunächst unter Angabe einer vollständigen Wohnungsanschrift
erhoben worden war, aus Sachgründen abgewiesen. Es ist auch aus anderen Gründen
nicht ersichtlich, daß vorliegend eine Ausnahme vom Erfordernis der ordnungsgemäßen
Angabe einer ladungsfähigen Anschrift gemacht werden müßte. Zwar muß das
Verfahrensrecht im Hinblick auf die Rechtschutzgewährleistung durch Art. 19 Abs. 4 GG
Besonderheiten des Einzelfalles Rechnung tragen, wenn - s.o. - unüberwindliche oder
nur schwer zu beseitigende Schwierigkeiten im Wege stehen oder ein schutzwürdiges
Geheimhaltungsinteresse besteht. Derartiges ist von Seiten des Klägers, dessen
Prozeßbevollmächtigter durch Verfügung des Senats vom 4. Mai 1999 auf das Fehlen
der Angabe der ladungsfähigen Anschrift unter Einräumung einer Frist zur
Stellungnahme bis zum 19. Mai 1999 hingewiesen worden ist, jedoch nicht vorgetragen
worden.
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Der Kläger kann auch nicht mit Erfolg einwenden, er sei im Prozeß von Anfang an durch
einen bevollmächtigten Rechtsanwalt vertreten gewesen, dessen Anschrift dem Gericht
bekanntgewesen sei. Zwar sind Zustellungen oder Mitteilungen des Gerichts gemäß §§
56 Abs. 2, 67 Abs. 3 Satz 3 VwGO iVm § 8 Abs. 4 VwZG stets an den bestellten
Bevollmächtigten zu richten. Besonderheiten gelten indes für bestimmte prozessuale
Situationen. Ordnet das Gericht das persönliche Erscheinen des Klägers an (§ 95 Abs. 1
Satz 1 VwGO), so kann das Gericht zur Erzwingung der Anwesenheit die in § 95 Abs. 1
Sätze 2 bis 4 VwGO vorgesehenen Beugemittel - Androhung und Festsetzung von
Ordnungsgeld - einsetzen. Die gerichtliche Sanktionierung des Ausbleibens setzt
voraus, daß der Kläger über seine Erscheinenspflicht und die Folgen im Falle seines
Ausbleibens formgerecht unterrichtet wird. Dazu ist es geboten, daß die Ladung nicht
nur dem Prozeßbevollmächtigten, sondern auch dem Kläger selbst mitgeteilt wird (§ 173
VwGO iVm § 141 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 1 ZPO), und zwar im Wege der förmlichen
Zustellung (§ 56 Abs. 1 VwGO). Entsprechendes gilt für die Androhung und Festsetzung
eines Ordnungsgeldes.
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Vgl. im einzelnen: OVG NW, Urteil vom 22. August 1996 - 25 A 7536/95 -, DVBl. 1997,
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678.
Die Mitteilung der ladungsfähigen Anschrift auch eines anwaltlich vertretenen Klägers
ist insbesondere mit Blick auf dessen etwaige Kostentragungspflicht geboten. Dies gilt
auch in gemäß § 188 Satz 2 VwGO gerichtskostenfreien Verfahren wie dem
vorliegenden. Denn auch in derartigen Verfahren kommt in Betracht, daß der Kläger
außergerichtliche Kosten der obsiegenden Behörde zu erstatten hat.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit
ergibt sich aus § 188 Satz 2 VwGO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit
beruht auf § 167 VwGO iVm § 708 Nr. 10, 711 ZPO.
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Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keine der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2
VwGO gegeben ist.
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