Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 07.06.2005

OVG NRW: ernährung, fürsorge, wurst, ballaststoff, sozialhilfe, vollstreckbarkeit, zusammensetzung, vorverfahren, krankheit, sicherheitsleistung

Oberverwaltungsgericht NRW, 12 A 4624/02
Datum:
07.06.2005
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
12. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
12 A 4624/02
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Köln, 5 K 425/00
Tenor:
Auf die Berufung wird das angefochtene Urteil geändert. Die Klage wird
abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens beider
Rechtszüge.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig
vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch
Sicherheitsleistung in Höhe des beizutreibenden Betrages abwenden,
wenn nicht der Beklagte zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
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Der am 1947 geborene Kläger bezieht seit Jahren vom Beklagten laufende Hilfe zum
Lebensunterhalt. Bis einschließlich Juli 1999 gewährte der Beklagte dem Kläger wegen
diagnostizierter chronischer Pankreatitis (Entzündung der Bauchspeicheldrüse) und
Hyperlipidämie (erhöhten Blutfettwerten) einen Mehrbedarfszuschlag nach § 23 Abs. 4
BSHG wegen kostenaufwändiger Ernährung in Höhe von monatlich 70,-- DM.
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Mit Bescheid vom 22. Juni 1999 gewährte der Beklagte dem Kläger für die Zeit ab Juli
1999 den Mehrbedarfszuschlag nur noch wegen chronischer Pankreatitis in der
verminderten Höhe von monatlich 50,-- DM und lehnte die Gewährung eines
Mehrbedarfs wegen Hyperlipidämie ab. Zur Begründung wurde ausgeführt, die
medizinischen Voraussetzungen für einen solchen Mehrbedarf seien nicht gegeben, der
Gesamtcholesterinwert liege unter 300 mg/dl, der HDL-Chole-sterinwert sei größer als
35 mg/dl.
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Dagegen legte der Kläger Widerspruch ein und machte zur Begründung geltend, sein
Cholesterinwert liege bei 300 mg/dl und sei starken Schwankungen ausgesetzt, zudem
liege der obere Referenzwert der Cholesterinbestimmung bei 200 mg/dl.
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Mit Widerspruchsbescheid vom 13. Dezember 1999 wurde der Widerspruch des Klägers
zurückgewiesen. Zur Begründung führte der Beklagte aus: Die Voraussetzungen für die
Gewährung eines Mehrbedarfs wegen Hyperlipidämie seien nicht gegeben, weil der
Gesamtcholesterinwert unter 300 mg/dl liege und der HDL- Cholesterinwert nicht gleich
oder kleiner 35 mg/dl sei.
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Der Kläger hat daraufhin Klage erhoben und ergänzend vorgetragen, sein Wert des
"schlechten" Cholesterins (LDL-Friedewald) liege deutlich über dem Normalwert.
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Der Kläger hat erstinstanzlich beantragt,
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den Beklagten unter teilweiser Aufhebung seines Bescheides vom 22. Juni 1999 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Dezember 1999 zu verpflichten, ihm für
die Zeit vom 1. Juli 1999 bis 30. Juni 2000 über den bewilligten Mehrbedarfszuschlag
wegen kostenaufwändiger Ernährung in Höhe von monatlich 50,-- DM hinaus weitere
20,-- DM monatlich zu gewähren.
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Der Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung hat er vorgetragen: Nach einer amtsärztlichen Stellungnahme vom 23.
März 2000 sei der erhöhte LDL-Cholesterinwert nicht maßgeblich, sondern das
Verhältnis der einzelnen Fettfraktionen untereinander, insbesondere der LDL- Wert
geteilt durch den HDL-Wert. Dieser Quotient ergebe, dass beim Kläger kein besonderes
Risiko gegeben sei. Zudem sei nach dem Gutachten des Prof. Dr. N. C. von der I. -I1. -
Universität E. vom 8. April 2002 nicht davon auszugehen, dass bei Hyperlipidämie eine
lipidsenkende und kostensteigernde Ernährung indiziert sei.
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Das Verwaltungsgericht hat den Beklagten mit Urteil vom 29. Oktober 2002
antragsgemäß verpflichtet. Wegen der Einzelheiten der Begründung wird auf die
Urteilsgründe verwiesen.
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Auf den Antrag des Beklagten hat der Senat mit Beschluss vom 18. März 2005 die
Berufung zugelassen. Der Beklagte hat mit Schriftsatz vom 30. März 2005 zur
Begründung der Berufung im Wesentlichen auf die Zulassungsschrift vom Dezember
2002 Bezug genommen, in der er unter Vertiefung des erstinstanzlichen Vorbringens im
Einzelnen anführt, aus welchen Gründen er das angefochtene Urteil für unzutreffend
hält.
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Der Beklagte beantragt,
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das angefochtene Urteil zu ändern und die Klage insgesamt abzuweisen.
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Der Kläger hat sinngemäß auf sein bisheriges Vorbringen Bezug genommen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
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Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug
genommen.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
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Die Berufung ist zulässig,
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vgl. BVerwG, Beschluss vom 2. Oktober 2003
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- 1 B 33/03 -, NVwZ-RR 2004, 320; Beschluss vom 7. März 2003 - 2 B 32/02 -, juris,
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und hat auch in der Sache Erfolg. Der Kläger hat nach der allein in Betracht kommenden
Anspruchsgrundlage des § 23 Abs. 4 BSHG keinen Anspruch auf die streitige Erhöhung
eines Mehrbedarfszuschlags wegen kostenaufwändiger Ernährung im Umfang von
monatlich 20 DM für die Zeit vom 1. Juli 1999 bis 30. Juni 2000.
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Nach § 23 Abs. 4 BSHG in der Fassung vom 23. Juni 1993 (BGBl. I S. 944), die hier für
den Streitzeitraum von Juli 1999 bis Juni 2000 maßgeblich ist, ist für Kranke,
Genesende, Behinderte oder von einer Krankheit oder Behinderung Bedrohte, die einer
kostenaufwändigen Ernährung bedürfen und nach den Maßstäben der §§ 11 ff. BSHG
hilfebedürftig sind, ein Mehrbedarf in angemessener Höhe anzuerkennen.
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Eine verwaltungsgerichtliche Verpflichtung des Sozialhilfeträgers, einen Mehrbedarf für
einen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum zuzuerkennen, setzt grundsätzlich
voraus, dass sich der Hilfe Suchende tatsächlich kostenaufwändiger ernährt hat. Wenn
der Hilfesuchende sich nicht tatsächlich kostenaufwändiger ernährt hat, kann der Zweck
der gesetzlichen Regelung, eine solche Ernährung, wenn sie erforderlich ist, innerhalb
eines bestimmten Zeitraums zu ermöglichen, nachträglich nicht mehr erreicht werden.
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Vgl. hierzu das rechtskräftige Urteil des Senats vom 6. September 2004 - 12 A 459/03 -
mit weiteren Nachweisen; ferner etwa Fichtner, BSHG, 2. Aufl., Rz. 28 zu § 23 und Lehr-
und Praxiskommentar zum BSHG, 6. Aufl., Rz. 28 zu § 23.
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Hiernach kann der Kläger einen höheren Mehrbedarfszuschlag als 50 DM monatlich für
den streitbefangenen Zeitraum nicht beanspruchen.
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Dafür, dass sich der Kläger im Streitzeitraum - wie für die begehrte Zuerkennung
erforderlich - in der Weise kostenaufwändiger ernährt hätte, dass er einen nicht nur 50
DM, sondern 70 DM über dem Regelsatzanteil für Ernährung liegenden
Kostenmehraufwand hatte, lässt sich den Akten nichts entnehmen. Angaben hierzu
enthalten weder die Schreiben des Klägers im Vorverfahren und im gerichtlichen
Verfahren erster Instanz, noch lässt sich dem Tatbestand oder den Gründen der
erstinstanzlichen Entscheidung entnehmen, dass hierzu in der mündlichen Verhandlung
substantieller Sachvortrag des Klägers erfolgt ist. Auch im Berufungsverfahren hat er
sich zu diesem Punkt trotz des hierzu vor der mündlichen Verhandlung des Senats
ergangenen schriftlichen Hinweises nicht geäußert.
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Danach bedarf es vorliegend keiner abschließenden Klärung, ob eine im Sinne von §
23 Abs. 4 BSHG erforderliche besondere Ernährungsform bei Hyperlipidämie überhaupt
mit einem entsprechenden Kostenmehraufwand verbunden wäre. Eine lipidsenkende
Kost, bei der insbesondere bestimmte tierische Fette in Fleisch und Wurst deutlich
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reduziert und stattdessen vermehrt pflanzliche Fette verzehrt werden und der
Ballaststoff- und Kohlenhydratanteil der Ernährung erhöht wird, dürfte wohl keine
"Mehrkosten" verursachen, die die begehrte Erhöhung des Mehrbedarfs von 50 DM auf
70 DM monatlich rechtfertigen; nach aktuellen fachwissenschaftlichen Untersuchungen
ist eine solche Ernährungsform nicht mit gegenüber dem Regelsatzanteil für Ernährung
erhöhten Kosten verbunden.
Vgl. dazu den von einer Arbeitsgruppe von Ärztinnen und Ärzten aus
Gesundheitsämtern erstellten Begutachtungsleitfaden für den Mehrbedarf bei
krankheitsbedingter kostenaufwendiger Ernährung (Krankenkostzulage) gemäß § 23 (4)
BSHG, hrsg. vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe, Januar 2002, (S. 8 sowie S. 5
der Anlage I).
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Die gegen diese Feststellung des Begutachtungsleitfadens im Hinblick auf die
Empfehlungen des Deutschen Vereins für die öffentliche und private Fürsorge für die
Gewährung von Krankenkostzulagen in der Sozialhilfe (2. Aufl. 1997, S. 32, 36, 42)
erhobenen Einwände,
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vgl. OVG Lüneburg, Beschlüsse vom 13. Oktober 2003 - 12 LA 385/03 -, FEVS 55, 359
sowie 14. November 2002 - 4 ME 465/02 -, FEVS 54, 368,
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berücksichtigen nicht hinreichend, dass den Empfehlungen des Deutschen Vereins
lediglich eine nicht mehr aktuelle Kostenermittlung zugrunde liegt, die auf im Jahre 1978
nach den damaligen fachlichen Erkenntnissen zusammengestellten Tagesspeiseplänen
beruht und den heutigen medizinischen Erkenntnissen an die erforderliche
Zusammensetzung der Ernährung, die in den Ausführungen des
Begutachtungsleitfadens zugrundegelegt sind, nicht mehr entsprechen dürfte. Die
Einschätzung des Begutachtungsleitfadens wird im Übrigen auch durch das Gutachten
des Bundesgesundheitsamts vom 17. März 1993 bestätigt, das den Empfehlungen als
Anlage 6 - Krankenkostzulagen nach BSHG bei Herz-, Kreislauf- und
Nierenerkrankungen - beigefügt ist (a.a.O., S. 101/103).
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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt
aus § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
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Die Revision wird nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO
nicht gegeben sind.
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