Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 30.07.1996

OVG NRW (antragsteller, der rat, grundstück, festsetzung, verwaltungsgericht, befreiung, beschwerde, umgebung, funktion, deckung)

Oberverwaltungsgericht NRW, 10 B 1755/96
Datum:
30.07.1996
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
10. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
10 B 1755/96
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Düsseldorf, 7 L 1097/96
Tenor:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Die Antragsteller tragen als Gesamtschuldner die Kosten des
Beschwerdeverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der
Beigeladenen.
Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 10.000,- DM
festgesetzt.
G r ü n d e :
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Die Beschwerde ist unbegründet. Das Interesse der Beigeladenen daran, die ihr
erteilten Baugenehmigungen sofort ausnutzen zu dürfen, überwiegt das Interesse der
Antragsteller, das Vorhaben der Beigeladenen vorerst bis zum Abschluß des
Hauptsacheverfahrens zu verhindern.
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Die Antragsteller werden die Aufhebung der beiden streitigen Baugenehmigungen vom
15. März 1996 im Hauptsacheverfahren voraussichtlich nicht erreichen. Nach dem
derzeitigen Erkenntnisstand des Senats hat der Antragsgegner bei der Erteilung dieser
beiden Baugenehmigungen keine öffentlich- rechtlichen Vorschriften verletzt, die
zugleich den privaten Interessen der Antragsteller als Nachbarn zu dienen bestimmt
sind.
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Dies gilt zunächst für die nachbarschützende Vorschrift des § 6 Abs. 1 Satz 1 BauO NW.
Zum Grundstück der Antragsteller hin hält das genehmigte Wohnhaus die
Abstandfläche ein. Dies hat das Verwaltungsgericht im einzelnen zutreffend dargelegt.
Hiergegen erhebt die Beschwerde keine Einwendungen.
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Es spricht einiges dafür, daß das Vorhaben der Beigeladenen bauplanungsrechtlich
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nach § 30 Abs. 1 BauGB unzulässig ist. Es soll im Geltungsbereich eines
Bebauungsplans verwirklicht werden, widerspricht jedoch dessen Festsetzungen. Das
Doppelhaus soll außerhalb der festgesetzten Baugrenzen und damit innerhalb der nicht
überbaubaren Grundstücksfläche errichtet werden. Der Antragsgegner hat die
Beigeladene zwar von den entgegenstehenden Festsetzungen des Bebauungsplans
befreit; die Voraussetzungen dafür nach § 31 Abs. 2 Nr. 1 BauGB, § 4 Abs. 1 a Satz 1
BauGB-MaßnahmenG oder nach § 31 Abs. 2 Nr. 3 BauGB dürften indes schwerlich
vorgelegen haben. Es lag in der erkennbaren planerischen Absicht des
Satzungsgebers, das streitige Grundstück in dem hier interessierenden Teil von
Bebauung freizuhalten; eine darin liegende Härte war vom Plangeber beabsichtigt. Die
Deckung dringenden Wohnbedarfs ist zwar nach § 4 Abs. 1 a BauGB-MaßnahmenG
einer von vielen Gründen des Allgemeinwohls, die nach § 31 Abs. 2 Nr. 1 BauGB eine
Befreiung rechtfertigen können. Damit ist aber noch nichts darüber gesagt, ob dieser
Grund eine Befreiung im Verständnis von § 31 Abs. 2 Nr. 1 "erfordert", weil es zur
Deckung des dringenden Wohnbedarfs vernünftigerweise geboten ist, mit Hilfe einer
Befreiung das Vorhaben gerade an der vorgesehenen Stelle zu verwirklichen
vgl.: BVerwG, Beschluß vom 6. März 1996 - 4 B 184/95 -.
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Ein nachbarliches Abwehrrecht der Antragsteller ist dadurch aber nicht begründet.
Städtebauliche Allgemeininteressen zu wahren, ist ausschließlich Sache der
Bauaufsichtsbehörde oder der Aufsichtsbehörde.
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Die Festsetzungen des Bebauungsplans, von denen der Antragsgegner möglicherweise
rechtswidrig befreit hat, schützen den Nachbarn bei summarischer Prüfung nicht. Die
Festsetzung hinterer Baugrenzen und die dadurch bewirkte Festlegung einer nicht
überbaubaren Grundstücksfläche im Inneren eines straßenrandnah bebauten Quartiers
schützt den Nachbarn planungsrechtlich nur dann, wenn der Plangeber den
Festsetzungen nachbarschützende Funktion hat beilegen wollen
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vgl.: BVerwG, Beschluß vom 23. Juni 1995 - 4 B 52.95 - NVwZ 1996, 170; Beschluß
vom 19. Oktober 1995 - 4 B 215.95 - ZfBR 1996, 104.
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Eine solche nachbarschützende Funktion kann sich schon aus der Festsetzung selbst
ergeben, ohne daß auf die Begründung des Bebauungsplans und die dort
hervorgetretenen Vorstellungen des Plangebers zurückgegriffen werden müßte. Die hier
in Rede stehenden Festsetzungen begründen aber aus sich selbst heraus noch keinen
Nachbarschutz. Die Festsetzung hinterer Baugrenzen auch mit dem Ziel, daß Innere
eines Quartiers von Bebauung freizuhalten, ist ein Gesichtspunkt guter städtebaulicher
Ordnung. Er hat unabhängig vom Schutz bestimmter Nachbarn eine städtebauliche
Funktion. Eine rechtliche Begünstigung konkreter Nachbarn muß damit nicht ohne
weiteres gewollt sein. Danach kommt es maßgeblich darauf an, welche Vorstellungen
der Ortsgesetzgeber seinerzeit mit den in Rede stehenden Festsetzungen verfolgt hat.
Insoweit hat das Verwaltungsgericht unter zutreffender Auswertung der
Aufstellungsvorgänge nur feststellen können, daß der Rat der damals noch
selbständigen Stadt S. mit dem Bebauungsplan und seinen Festsetzungen die
städtebauliche Entwicklung in geordneten Bahnen hat verlaufen lassen wollen. Wie das
Verwaltungsgericht hat der Senat im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes Ansätze
für einen gewollten Nachbarschutz nicht feststellen können. Insbesondere bei
historischer Betrachtung war 1966 nahezu unbekannt, derartigen Festsetzungen
Nachbarschutz angedeihen zu lassen. Auch die Beschwerde zeigt nicht auf, daß solche
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Vorstellungen in der Absicht des Plangebers gelegen hätten.
Hat der Antragsgegner die Beigeladene danach von einer nicht nachbarschützenden
Festsetzung des Bebauungsplans befreit, kann sich Nachbarschutz zugunsten der
Antragsteller aus § 31 Abs. 2 BauGB ergeben. Danach verlangt die Befreiung von einer
Festsetzung des Bebauungsplans auch eine Würdigung nachbarlicher Interessen. In
dieser Vorschrift ist für Fallgestaltungen der hier gegebenen Art das Gebot der
nachbarlichen Rücksichtnahme verankert.
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Das Vorhaben der Beigeladenen ist aber gegenüber den Antragstellern nicht
rücksichtslos. Das vorgesehene Wohngebäude nimmt ihrem Grundstück zwar Licht,
Sonne und Luft, ermöglicht ferner einen Einblick in den rückwärtigen Bereich ihres
Grundstücks. Ihrem Grundstück ist die Giebelwand zugekehrt. In deren Spitze befindet
sich ein Fenster, nämlich dasjenige des "Studios" im Spitzboden. Diese Belange
werden jedoch durch das bauordnungsrechtliche Abstandflächenrecht aufgefangen. Mit
§ 6 BauO NW hat der Gesetzgeber insoweit abschließend geregelt, welches Maß an
Rücksichtnahme der Bauherr seinem Nachbarn schuldet und wann diesem ein
Vorhaben auf dem Nachbargrundstück unzumutbar wird. Das gilt auch für den
"Sozialabstand". Unter diesen Gesichtspunkten läßt sich daher bei gewahrten
Abstandflächen eine Rücksichtslosigkeit des Vorhabens nicht begründen. Raum für das
Gebot der Rücksichtnahme ist hier nur unter dem Gesichtspunkt, daß in eine bisher
weitgehend ungestörte Ruhe- und Freizeitzone im rückwärtigen Bereich der
Grundstücke ein Bauvorhaben eindringt. Jedoch läßt sich auch unter diesem
Gesichtspunkt eine Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme nicht feststellen. Die
Beigeladene will ein Doppelhaus mit insgesamt nur zwei Wohneinheiten errichten. Der
Baukörper ist durchaus maßvoll; er ist eingeschossig mit ausgebautem Dachgeschoß
und einer Firsthöhe von 9 m von der Geländeoberfläche
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zur Bedeutung dieser Kriterien vgl. OVG NW, Beschluß vom 15. Dezember 1992 - 10 B
3536/92 -.
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Terrassen und Dachgaupen sind nicht zum Grundstück der Antragsteller hin
ausgerichtet. Die Zufahrt in den Innenbereich berührt die Antragsteller nicht. Das
Grundstück wird nicht von der N.--------straße , sondern von der F. Gasse aus
angefahren.
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Vermittelt danach die notwendige Würdigung nachbarlicher Belange in § 31 Abs. 2
BauGB den Antragstellern keinen Nachbarschutz, können sie nicht mit Hilfe der
Gerichte einer objektiv rechtswidrigen Verschlechterung der Wohnqualität
entgegensteuern. Die Möglichkeiten fachaufsichtlichen Einschreitens bleiben davon
unberührt.
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Wäre der Bebauungsplan unwirksam, wäre das Ergebnis kein anderes. In diesem Falle
richtete sich die planungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens nach § 34 Abs. 1 und 2
BauGB. Das Vorhaben wäre danach freilich wohl planungsrechtlich unzulässig, weil es
sich nach der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, nicht in die Eigenart der
näheren Umgebung einfügt. In der maßgeblichen näheren Umgebung ist nämlich keine
Hinterlandbebauung vorhanden. Dieses Kriterium des § 34 Abs. 1 BauGB vermittelt
aber für sich keinen Nachbarschutz. Ein Vorhaben, das deshalb rechtswidrig ist, weil es
sich nach der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, nicht in die Eigenart der
näheren Umgebung einfügt, verletzt unter diesem Gesichtspunkt mithin nicht zugleich
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den Nachbarn in seinen Rechten. Nachbarschutz vermittelt hier nur das Gebot der
Rücksichtnahme, das jedoch aus den bereits dargelegten Gründen nicht verletzt ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 159 Satz 2, § 162 Abs. 3 VwGO. Die
Festsetzung des Streitwerts folgt aus § 20 Abs. 3, § 13 Abs. 1 GKG.
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Dieser Beschluß ist unanfechtbar.
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