Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 12.10.2006

OVG NRW: wiederherstellung der aufschiebenden wirkung, aufschiebende wirkung, entlassung, unterricht, ausbildung, beendigung, beamtenrecht, vertrauensverhältnis, schule, widerruf

Oberverwaltungsgericht NRW, 6 B 1550/06
Datum:
12.10.2006
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
6. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
6 B 1550/06
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Minden, 4 L 446/06
Tenor:
Der angefochtene Beschluss wird geändert.
Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin gegen die
Entlassungsverfügung des Antragsgegners vom 24. Juni 2004 wird
wiederhergestellt.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge.
G r ü n d e :
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Die zulässige Beschwerde ist begründet.
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Das Interesse der Antragstellerin an einer Wiederherstellung der aufschiebenden
Wirkung ihrer Klage gegen die Entlassungsverfügung des Antragsgegners vom 24. Juni
2004 wiegt bei summarischer Prüfung schwerer als das Interesse des Antragsgegners
an deren sofortiger Vollziehung.
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Die Entlassungsverfügung ist weder offensichtlich rechtmäßig noch offensichtlich
rechtswidrig.
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Nach § 35 Abs. 1 Satz 1 des Landesbeamtengesetzes NRW (LBG) kann ein Beamter
auf Widerruf nach pflichtgemäßem Ermessen bei Vorliegen eines sachlichen Grundes
jederzeit entlassen werden. § 35 Abs. 2 Satz 1 LBG schränkt dieses Ermessen für
Beamte auf Widerruf im Vorbereitungsdienst jedoch ein. Diesen Beamten soll
Gelegenheit gegeben werden, den Vorbereitungsdienst abzuleisten und die Prüfung
abzulegen. Eine Entlassung ist hiernach nur in begründeten Ausnahmefällen zulässig.
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Vgl. Brockhaus, in: Schütz/Maiwald, Beamtenrecht des Bundes und der Länder,
Kommentar, Stand: September 2006, Rn. 44 zu § 35 LBG, m.w.N.
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Diese Einschränkung hat ein besonderes Gewicht, wenn der Vorbereitungsdienst - wie
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hier - auch Voraussetzung für die Ausübung eines Berufs außerhalb des öffentlichen
Dienstes ist.
Vgl. Brockhaus, in: Schütz/Maiwald, a.a.O., Rn. 45 zu § 35 LBG.
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Seinen Entlassungsbescheid vom 24. Juni 2004 und den Widerspruchsbescheid vom
15. Dezember 2004 hat der Antragsgegner wie folgt begründet: Die Antragstellerin habe
sich insgesamt als ungeeignet für die angestrebte Laufbahn einer Lehrerin erwiesen.
Sie sei an mindestens 13 Arbeitstagen ohne Genehmigung dem Dienst ferngeblieben.
Dies stelle eine erhebliche Dienstpflichtverletzung dar. Es bestünden darüber hinaus
gravierende Mängel hinsichtlich der fachlichen Leistungen der Antragstellerin. Diese
benötige für ihre Unterrichtsstunden bis ins kleinste Detail gehende
Handlungsanweisungen und sei nicht in der Lage, auf das Schülerverhalten -
insbesondere auf Störungen - angemessen und flexibel zu reagieren. Sie werde nicht in
der Lage sein, den nach den Ausbildungsvorschriften vorgesehenen
eigenverantwortlichen Unterricht zu erteilen. Eine Verbesserung des Leistungsbildes sei
nicht zu erwarten, zumal es der Antragstellerin auch an der nötigen "inneren
Grundhaltung" fehle: Sie gehe oft unvorbereitet in den Unterricht, halte sich nicht an
Absprachen, ignoriere Hinweise und Ratschläge erfahrener Kolleginnen, lehne eine
Ausbildung im Fach Sprache ab und versuche, sich den vorgeschriebenen
Unterrichtsbesuchen zu entziehen. Es müsse nach alledem davon ausgegangen
werden, dass die Antragstellerin weder willens noch in der Lage sei, den
Vorbereitungsdienst erfolgreich zu beenden. Darüber hinaus habe die Antragstellerin
das Vertrauensverhältnis gegenüber Schule und Kollegium, Studienseminar und
Schulbehörde empfindlich gestört, indem sie falsche Informationen verbreitet und
gegenüber Dritten die Kompetenz ihrer Musikmentorin angezweifelt habe.
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Diese Erwägungen sind jedenfalls nicht offensichtlich ermessensfehlerfrei.
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Die fachlichen Leistungen der Antragstellerin mögen zwar vom Beginn ihrer Ausbildung
am 1. Februar 2004 bis zu ihrer Entlassung zum 31. Juli 2004 durchgängig erhebliche
Mängel aufgewiesen haben. Dies allein reicht für eine Entlassung jedoch nicht aus.
Auch weniger qualifizierten Beamten muss grundsätzlich die Beendigung des
Vorbereitungsdienstes durch Ablegung der Prüfung ermöglicht werden.
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Vgl. Brockhaus, in: Schütz/Maiwald, a.a.O., Rn. 44 zu § 35 LBG m.w.N.
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Etwas anderes gilt nur dann, wenn die Leistungen derart unzureichend sind, dass das
Ziel des Vorbereitungsdienstes auch bei wohlwollender Betrachtung nicht erreichbar
erscheint.
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Vgl. Schnellenbach, Beamtenrecht in der Praxis, 6. Aufl. 2005, Rn. 199 und 202 m.w.N.
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Die der Entlassungsverfügung zu Grunde liegende Prognose, dass die Antragstellerin
nicht in der Lage sein werde, ihre Ausbildung erfolgreich - wenn auch mit einer weniger
guten Note - abzuschließen, erscheint trotz der negativen Stellungnahmen der
Ausbildungslehrerinnen und der Ausbildungskoordinatorin nach nur fünf
Ausbildungsmonaten nicht hinreichend gesichert und ist angesichts der mit ihr
verbundenen Folgen jedenfalls nicht unbedenklich. Zudem ist im Zweifel davon
auszugehen, dass die Antragstellerin im weiteren Verlauf des Vorbereitungsdienstes
ihre fachlichen Leistungen steigern wird. Soweit es in der Stellungnahme der Lehrerin
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S. vom September 2004 heißt, die Antragstellerin verfüge einfach nicht über die
Fähigkeiten, die eine künftige Lehrerin von vornherein mitbringen müsse (Geschick im
Umgang mit Kindern, aktives und freiwilliges Agieren, Experimentierfreude und
Umsetzung eigener Ideen), so überzeugt dies mit Blick auf die Zukunft nicht
hinreichend. Es ist nach Auffassung des Senats nicht ausgeschlossen, dass sich
derartige Fähigkeiten noch während der praktischen Ausbildung im Rahmen des
Vorbereitungsdienstes ausbilden und etwa vorhandene Hemmungen abbauen können.
Auch die vom Antragsgegner aufgezeigten Mängel in der "inneren Grundhaltung" -
verstanden als Mängel in der Ausbildungsbereitschaft - dürften nicht den Schluss
zulassen, dass die Antragstellerin ihr Ausbildungsziel nicht erreichen wird. Nach Lage
der Akten spricht zwar vieles dafür, dass es die Antragstellerin anfänglich am nötigen
Engagement hat fehlen lassen: Sie hat sich offenbar nicht ausreichend auf den
Unterricht vorbereitet, Aufträge nicht ausgeführt, nicht die nötige Gesprächsbereitschaft
mit der Schulleitung und den Ausbilderinnen aufgebracht, Hilfestellungen abgelehnt,
Kritik nicht angenommen und durchgängig versucht, ihre Ausbildungsaktivitäten auf das
unbedingt Notwendige zu beschränken. Insoweit ist es aber offenbar zu einer
Verhaltensänderung der Antragstellerin gekommen. Die Stellungnahmen der
Schulleiterin der L. -Schule vom 10. Mai 2004 und 2. Juni 2004 weisen jedenfalls darauf
hin, dass die Antragstellerin sich zuletzt bemüht hat, an außerschulischen
Veranstaltungen teilzunehmen, sich formal korrekt zu verhalten und insgesamt mehr
Einsatz zu zeigen.
Die vom Antragsgegner angeführten Dienstpflichtverletzungen der Antragstellerin
dürften ebenfalls eine Entlassung nicht rechtfertigen. Zwar steht für den Senat - wie
zuvor schon für das Verwaltungsgericht - fest, dass die Antragstellerin an einzelnen
Tagen unentschuldigt dem Dienst ferngeblieben ist und damit ihre Dienstpflichten
verletzt hat. Das Fernbleiben vom Dienst ist insbesondere nicht dadurch gerechtfertigt,
dass sie an den betreffenden Tagen wohl ohne dies mit ihrer Ausbildungsbehörde
abzustimmen, Termine an der Musikhochschule I. im Zusammenhang mit den dort für ihr
Musikstudium abgelegten Prüfungen wahrgenommen hatte. Die Belange des
Vorbereitungsdienstes haben Vorrang vor dem Besuch einer Musikhochschule. Soll
eine Entlassung jedoch ausschließlich auf derartige Dienstpflichtverletzungen gestützt
werden, muss nach § 35 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 34 Abs. 4 Satz 2 LBG zunächst
entsprechend den §§ 21 bis 30 des Disziplinargesetzes NRW der Sachverhalt
aufgeklärt werden.
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Vgl. Brockhaus, in: Schütz/Maiwald, a.a.O., Rn. 26 und 48 zu § 35 LBG.
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Eine solche (formalisierte) Sachverhaltsermittlung hat im vorliegenden Fall nicht
stattgefunden. Allerdings können Dienstvergehen auch dergestalt sein, dass aus ihnen
zugleich auf eine charakterliche Nichteignung für eine spätere Ernennung zum Beamten
auf Lebenszeit oder, sofern der Vorbereitungsdienst - wie hier - zugleich
Ausbildungsstätte im Sinne des Art. 12 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) ist, für den
angestrebten Beruf schlechthin geschlossen werden kann. In einem solchen Fall sind
vorherige disziplinarrechtliche Ermittlungen nicht erforderlich.
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Vgl. Brockhaus, in: Schütz/Maiwald, a.a.O., Rn. 30 zu § 35 LBG unter Bezugnahme auf
Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil vom 28. April 1983 - 2 C 89.81 -, in:
Deutsches Verwaltungsblatt 1983, 1105.
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Es erscheint jedoch fraglich, ob die Fehltage der Antragstellerin derart gravierend sind,
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dass aus ihnen bereits jetzt auf eine charakterliche Nichteignung für den Lehrerberuf
geschlossen werden kann, zumal die Antragstellerin auch insoweit ihr Verhalten
geändert hat: Zwar hat sie zunächst trotz entsprechender Gespräche auf
unterschiedlichen Ebenen zunächst auf ihrem "Recht" bestanden, an einzelnen Tagen
der Ausbildungsschule fernzubleiben. Das Gespräch bei der Bezirksregierung E. am 20.
April 2004 und die Anhörung zur beabsichtigten Entlassung scheinen jedoch eine
gewisse Wirkung nicht verfehlt zu haben. Jedenfalls hatte die Antragstellerin nach dem
30. März 2004 keine weiteren ungenehmigten Fehltage zu verzeichnen.
Die Erwägung des Antragsgegners, die Antragstellerin habe durch ihr Verhalten das
Vertrauensverhältnis insbesondere zur Ausbildungsschule empfindlich gestört, vermag
für sich gesehen eine Entlassung nicht zu tragen. Hier hätte sich möglicherweise - als
milderes Mittel - ein Wechsel der Ausbildungsstelle angeboten.
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Wenn - wie hier - weder eine offensichtliche Rechtmäßigkeit noch eine offensichtliche
Rechtswidrigkeit der angefochtenen Verfügung angenommen werden kann, ist eine
offene Interessenabwägung durchzuführen. Diese fällt hier zugunsten der
Antragstellerin aus. Das Interesse der Antragstellerin an einer Wiederherstellung der
aufschiebenden Wirkung ihrer Klage erhält besonderes Gewicht dadurch, dass sie sich
auf einen durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützten Ausbildungsanspruch berufen kann. Das
vom Antragsgegner demgegenüber angeführte öffentliche Interesse an einem
geordneten Schulbetrieb muss dahinter zurückstehen. Wenn der Antragsgegner
Lehramtsanwärter mit der selbständigen Erteilung von Unterricht betraut, besteht immer
auch das Risiko, dass der Unterricht - bei weniger qualifizierten Lehramtsanwärtern -
hinter den normalen Qualitätsstandards zurückbleibt. Dass die Antragstellerin weiterhin
durch ungenehmigtes Fernbleiben vom Dienst den Schulbetrieb stört, ist angesichts der
Beendigung ihres Musikstudiums nicht mehr zu erwarten. Infolge der Beendigung dieser
Ausbildung dürfte auch im Übrigen den Konflikten die Grundlage entzogen sein, die die
Antragstellerin durch ihr Verhalten augenscheinlich in ihre Dienststelle getragen hat.
Denn diese sind maßgeblich dadurch entstanden, dass sich die Antragstellerin durch
ihre Dienststelle an der erfolgreichen Ablegung ihres Musikdiploms gehindert sah.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung. Die
Streitwertfestsetzung folgt aus § 53 Abs. 3 Nr. 2 und § 52 Abs. 1 i.V.m. Abs. 5 Satz 1 Nr.
2 des Gerichtskostengesetzes.
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