Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 13.01.2000

OVG NRW: wiedereinsetzung in den vorigen stand, ablauf der frist, schriftstück, verschulden, fristversäumnis, kontrolle, fürsorgepflicht, verfahrensbeteiligter, sorgfalt, rechtsmittelfrist

Oberverwaltungsgericht NRW, 13 A 3934/97.A
Datum:
13.01.2000
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
13. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
13 A 3934/97.A
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, 15a K 5713/96.A
Tenor:
Dem Beteiligten wird wegen Versäumung der Frist zur Begründung der
Berufung Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.
G r ü n d e :
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Der Beteiligte hat zwar die Monatsfrist des § 124a Abs. 3 Satz 1 VwGO schuldhaft
versäumt, dennoch ist ihm insoweit Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu
gewähren.
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Die - zwischen den Beteiligten unstreitige - Versäumung der Frist des § 124a Abs. 3
Satz 1 VwGO, wonach die Berufung innerhalb eines Monats nach Zustellung des
Beschlusses über die Zulassung der Berufung zu begründen ist, ergibt sich daraus,
dass der die Berufung zulassende Beschluss des Senats vom 21. Mai 1999 dem
Beteiligten am 1. Juni 1999 zugestellt worden ist, die Berufungsbegründungsfrist somit
am 1. Juli 1999 ablief, der die Berufungsbegründung enthaltende Schriftsatz des
Beteiligten, der zunächst am 28. Juni 1999 dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen
zugegangen ist, tatsächlich erst am 8. Juli 1999 beim Oberverwaltungsgericht
eingegangen ist. Durch den Eingang dieses Schriftsatzes beim Verwaltungsgericht
Gelsenkirchen ist, da gemäß § 124a Abs. 3 Satz 2 VwGO die Berufungsbegründung
beim Oberverwaltungsgericht einzureichen ist, die Frist des § 124a Abs. 3 Satz 1 VwGO
nicht gewahrt worden.
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Vgl. BVerfG, Beschluss vom 20. Juni 1995 - 1 BvR 166/93 -, BVerfGE 93, 99; OVG
NRW, Beschluss vom 3. Juli 1997 - 16 A 1968/97 -, NVwZ 1997, 1235; Hess. VGH,
Beschluss vom 14. Juni 1996 - 12 UZ 1657/96.A -, DVBl. 1996, 1278, die beiden letzten
Entscheidungen zum Eingang eines fristgebundenen Rechtsmittels beim unzuständigen
Oberverwaltungsgericht.
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Der Beteiligte hat die Frist des § 124a Abs. 3 Satz 1 VwGO auch schuldhaft versäumt.
Grundsätzlich müssen Behörden, die in Ausnahme von dem beim
Bundesverwaltungsgericht und den Oberverwaltungsgerichten bestehenden
Vertretungszwang durch Rechtsanwälte vom sog. Behördenprivileg Gebrauch machen
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(§ 67 Abs. 1 VwGO), entsprechend §§ 173 VwGO, 85 Abs. 2 ZPO für ein Verschulden
des Vertretungsberechtigten einstehen, und sind bei einem mit der Prozessführung
betrauten Beamten oder Angestellten einer Behörde mit Befähigung zum Richteramt an
die Sorgfaltspflichten bei der Einhaltung einer Rechtsmittelfrist keine geringeren
Anforderungen zu stellen als bei einem Rechtsanwalt. Vgl. BVerwG, Gerichtsbescheid
vom 10. Juni 1997 - 11 A 10.97 -, Buchholz 310, § 67 VwGO Nr. 89, Beschluss vom 6.
Juni 1995 - 6 C 13.93 -, NVwZ-RR 1996, 60; OVG NRW, Beschluß vom 13. Mai 1998 - 8
A 2610/96 -, NWVBl. 1998, 408.
Diese Grundsätze gelten auch für den sich selbst als Bundesoberbehörde ansehenden
Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten (§ 6 AsylVfG), der im
verwaltungsgerichtlichen Verfahren eine dem Vertreter des öffentlichen Interesses (§§
35 ff. VwGO) entsprechende Rechtsstellung besitzt.
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Vgl. BVerwG, Urteil vom 9. November 1983 - 9 B 2597.82 -, BVerwGE 67, 64.
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Verschulden i.S.d. § 60 Abs. 1 VwGO liegt vor, wenn der Verfahrensbeteiligte diejenige
Sorgfalt außer Acht lässt, die für einen gewissenhaften und seine Rechte und Pflichten
sachgemäß wahrnehmenden Prozessführenden geboten ist und ihm nach den
gesamten Umständen des konkreten Falles zuzumuten war. Im vorliegenden Fall kann
der Beteiligte, wie dies im Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vom 6. Juli
1999 geschehen ist, die Versäumung der Monatsfrist des § 124a Abs. 3 Satz 1 VwGO
nicht mit dem Hinweis darauf entschuldigen, die Adressierung der
Berufungsbegründung an das unzuständige erstinstanzliche Verwaltungsgericht
Gelsenkirchen beruhe auf einem Kanzleiversehen und ihm sei ein Überwachungs- bzw.
Organisationsverschulden im Hinblick auf die Arbeitstätigkeit des Kanzleipersonals
nicht vorzuwerfen. In Frage steht nicht der Fall der zwar richtigen Adressierung eines
Schriftsatzes, aber seiner fehlerhaften Übersendung an ein unzuständiges Gericht. Die
Bezeichnung des zuständigen Gerichts wird von den Vorgaben umfasst, die der
Unterzeichner eines Schriftsatzes (z.B. durch eine entsprechende Diktatanweisung)
dem Kanzleipersonal vorgibt und fällt auch wegen der Unterschrift unter dem von der
Kanzlei gefertigten Schriftstück, bei der er die inhaltlichen Angaben desselben einer
(erneuten) Kontrolle zu unterziehen hat, allein in den Verantwortungsbereich des das
Schriftstück Unterzeichnenden. Dementsprechend kann die fehlerhafte Adressierung
der Berufungsbegründung des Beteiligten vom 24. Juni 1999 nicht als Versehen des
Kanzleipersonals eingestuft werden, sie ist vielmehr Folge der fehlenden Beachtung der
gebotenen Sorgfaltspflichten des mit der Prozessführung betrauten Beamten oder
Angestellten des Beteiligten.
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Dem Beteiligten ist dennoch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, weil
die Berufungsbegründungsschrift vom 24. Juni 1999 so rechtzeitig beim
Verwaltungsgericht Gelsenkirchen eingegangen war, dass sie noch fristgerecht bis zum
Ende der Berufungsbegründungsfrist am 1. Juli 1999 an das Oberverwaltungsgericht
hätte weitergeleitet werden können.
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Im Rahmen nachwirkender Fürsorgepflicht ist jedenfalls ein Gericht, bei dem das
Verfahren anhängig gewesen ist, verpflichtet, fristgebundene Schriftsätze für das
Rechtsmittelverfahren, die bei ihm eingereicht werden, an das zuständige
Rechtsmittelgericht weiterzuleiten. Ist ein solcher Schriftsatz so zeitig eingereicht
worden, dass die fristgerechte Weiterleitung an das Rechtsmittelgericht im ordentlichen
Geschäftsgang ohne weiteres erwartet werden kann, darf ein Verfahrensbeteiligter nicht
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nur darauf vertrauen, dass der Schriftsatz überhaupt weitergeleitet wird, sondern auch
darauf, dass er noch fristgerecht beim Rechtsmittelgericht eingeht. Dementsprechend
wirkt sich mit dem Übergang des Schriftsatzes in die Verantwortungssphäre des zur
Weiterleitung verpflichteten Gerichts ein etwaiges Verschulden eines
Verfahrensbeteiligten an einer Fristversäumnis nicht mehr aus.
Vgl. BVerfG, a.a.O.; BGH, Urteil vom 1. Dezember 1997 - II ZR 85/97 -, NJW 1998, 908;
OVG NRW, Beschluss vom 3. Juli 1997, a.a.O.
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So liegt der Fall auch hier. Die Berufungsbegründung des Beteiligten vom 24. Juni 1999
ist am 28. Juni 1999, also drei Tage vor Ablauf der Frist des § 124a Abs. 3 Satz 1
VwGO, beim Verwaltungsgericht Gelsenkirchen eingegangen. Zwar war der Schriftsatz
an das Verwaltungsgericht adressiert, aus dem angegebenen Aktenzeichen 13 A
3934/97.A und den mehrfach in dem Schreiben enthaltenen Worten/Wortbestandteilen
"Berufung" war jedoch erkennbar, dass der Schriftsatz nicht ein beim
Verwaltungsgericht (noch) anhängiges Verfahren, sondern ein Rechtsmittelverfahren
beim Oberverwaltungsgericht betraf. Dies gilt unabhängig davon, dass aus dem
Schriftsatz selbst dessen fristwahrender Charakter und der bevorstehende Ablauf der
Berufungsbegründungsfrist nicht unmittelbar erkennbar waren, andererseits aber auch
insoweit, als - wie die Mitarbeiterin der zuständigen Kammer des Verwaltungsgerichts
mitgeteilt hat - das Schriftstück aufgrund der Angabe des Aktenzeichens "13 ..." der 13.
Kammer des Verwaltungsgerichts und nicht der ursprünglich zuständig gewesenen 15a-
Kammer zugeleitet worden ist. Auch für die zuvor mit dem Verfahren nicht befasste 13.
Kammer des Verwaltungsgerichts war der Charakter des Schreibens des Beteiligten
vom 24. Juni 1999 als ein bedeutsames Schriftstück im Rahmen eines
Rechtsmittelverfahrens erkennbar, auch wenn es einem Verfahren in dieser Kammer
nicht zugeordnet werden konnte. Eine ordnungsgemäße postalische Weiterleitung des
Schriftsatzes am Tage des Eingangs oder einen Tag später an das
Oberverwaltungsgericht hätte dazu geführt, dass dieses noch rechtzeitig bis zum Ablauf
der Frist am 1. Juli 1999 beim Oberverwaltungsgericht eingegangen wäre. Unter diesen
Umständen beruht deshalb die Fristversämung letztlich nicht mehr auf dem einem
Mitarbeiter des Beteiligten anzulastenden Verschulden. Die Wiedereinsetzung in den
vorigen Stand wegen Versäumung der Frist zur Berufungsbegründung durch den
Beteiligten ist deshalb gerechtfertigt.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 60 Abs. 5 VwGO, § 80 AsylVfG).
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