Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 23.07.2007

OVG NRW: öffentliche sicherheit, ausweisung, befristung, wiederholungsgefahr, strafvollzug, bewährung, nötigung, egmr, körperverletzung, energie

Oberverwaltungsgericht NRW, 17 B 229/06
Datum:
23.07.2007
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
17. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
17 B 229/06
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, 16 L 1580/05
Tenor:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 2.500,-- Euro
festgesetzt.
G r ü n d e :
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Die Beschwerde ist nicht begründet.
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Die dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat beschränkt ist, § 146 Abs. 4 Satz
6 VwGO, geben keinen Anlass, den angefochtenen Beschluss abzuändern oder
aufzuheben.
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Die Ausweisung des Antragstellers steht nicht im Widerspruch zu Art. 14 ARB 1/80. Der
Antragsgegner ist zu Recht davon ausgegangen, dass vom Antragsteller aufgrund des
persönlichen Verhaltens eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung
ausgeht, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, und dass das öffentliche
Interesse am Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit im Sinne des Art. 14 Abs.
1 ARB 1/80 sein Interesse am Verbleib im Bundesgebiet deutlich überwiegt.
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Die Einwände der Beschwerde gegen die negative Legalprognose verfangen nicht. Der
Senat teilt - auch bezogen auf den maßgeblichen Zeitpunkt der
Beschwerdeentscheidung - die Einschätzung des Verwaltungsgerichts, dass vom
Antragsteller eine konkrete Wiederholungsgefahr ausgeht und zu befürchten ist, dass
sich diese noch vor dem rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens
realisieren könnte. Auf die diesbezüglichen Ausführungen in der angegriffenen
Entscheidung wird zunächst Bezug genommen.
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Bei der Prognose, ob eine Wiederholung droht, sind im Rahmen der Würdigung der
Umstände des Einzelfalles zum einen die Schwere der konkreten Straftaten, die
Umstände ihrer Begehung, die Höhe der verhängten Strafe sowie das Gewicht der bei
einem Rückfall bedrohten Rechtsgüter und zum anderen die Persönlichkeit des
betreffenden Täters sowie seine Entwicklung und sonstigen Lebensumstände zu
berücksichtigen. Von diesen Grundsätzen ausgehend gilt Folgendes:
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Der Antragsteller hat durch die von ihm begangenen Straftaten ein nachhaltig gestörtes
Verhältnis zur geltenden Rechtsordnung an den Tag gelegt. Das Landgericht Dortmund
verurteilte den Antragsteller mit Urteil vom 17. Oktober 2003 wegen schwerer
räuberischer Erpressung, wegen versuchter räuberischer Erpressung in Tateinheit mit
Körperverletzung und Nötigung, wegen unerlaubter Ausübung der tatsächlichen Gewalt
über eine Schusswaffe in Tateinheit mit versuchter Nötigung, wegen vorsätzlicher
Körperverletzung in Tateinheit mit versuchter Nötigung und wegen gefährlicher
Körperverletzung. Der Senat nimmt auf die eingehende Darstellung der Einzelheiten der
mit großer Brutalität innerhalb kurzer Zeit ausgeführten Straftaten, derentwegen der
Antragsteller zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten
verurteilt worden ist, Bezug. Hervorzuheben ist, dass der Antragsteller bei der
Eintreibung von Schutzgeldern bei Gastwirten planmäßig und professionell vorging und
er mit einer Schusswaffe nicht nur drohte, sondern sie auch in einem Raum abfeuerte
und dadurch andere Personen gefährdete. Bemerkenswert ist zudem, dass der
Antragsteller sich bei der Tat zum Nachteil der Gastwirtin A. noch nicht einmal durch das
zwischenzeitliche Erscheinen der Polizei von der Fortsetzung der Tat abhalten ließ. Die
Art und Weise der Begehung dieser abgeurteilten Straftaten, namentlich die vom
Antragsteller dabei gezeigte Gewaltbereitschaft und Rücksichtslosigkeit gegenüber den
Rechtsgütern Anderer, veranschaulichen eindrucksvoll, dass der Antragsteller ein tief in
seiner Person verwurzeltes Problem mit der Respektierung der Rechtsordnung hat, und
widerspiegeln seine besonders ausgeprägte kriminelle Energie. Diese Annahme wird
durch den Umstand bestärkt, dass der Antragsteller in einem Alter handelte, in dem die
Persönlichkeitsentwicklung bereits abgeschlossen war und die Taten keine
persönlichkeitsfremden, durch besondere Umstände bedingte Handlungen gewesen
sind, sondern erhebliche und verfestigte kriminelle Neigungen aufscheinen lassen. Ein
kriminelles Verhalten dieser Art kann nur als Ausdruck grundlegender charakterlicher
Defizite und Persönlichkeitsmängel gewertet werden und legt das Bestehen einer
ernsthaften Wiederholungsgefahr nahe.
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Hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller zwischenzeitlich einen
grundlegenden Läuterungsprozess vollzogen und die Gebote der Rechtsordnung so
nachhaltig verinnerlicht hätte, dass die Begehung neuerlicher schwerer Straftaten mit
der gebotenen Sicherheit ausgeschlossen werden kann, werden mit der Beschwerde
nicht aufgezeigt. Die vom Antragsteller geltend gemachten Aspekte
(Persönlichkeitsentwicklung, beanstandungsfreies Vollzugsverhalten,
Reststrafenaussetzung und stabile Familienbindungen) berechtigen weder für sich noch
in einer Gesamtschau zu der Annahme, dass von ihm keine erheblichen Gefahren für
die öffentliche Sicherheit mehr ausgehen.
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Dass eine hinreichend konstruktive Auseinandersetzung des Antragstellers mit den
Taten erfolgt ist, die notwendige Voraussetzung für die Annahme eines grundlegenden
Läuterungsprozesses ist, ist nicht erkennbar. Der Antragsteller hat während des
Strafverfahrens keine uneingeschränkte Unrechtseinsicht und Reue gezeigt. Er hat die
Taten im Wesentlichen bestritten. Auf Belastungszeugen wurde Einfluss ausgeübt,
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damit sie den Antragsteller belastende Aussagen unterlassen. In der Stellungnahme der
Justizvollzugsanstalt Dortmund vom 8. September 2004 wird die Gewaltbereitschaft des
Antragstellers (noch) als hoch eingestuft. Eine grundlegende Aufarbeitung der Taten
lässt sich auch nicht der von der Beschwerde in Bezug genommenen Stellungnahme
der Leiterin der Justizvollzugsanstalt Dortmund vom 8. Dezember 2005 entnehmen.
Darin wird ihm lediglich eine „zumindest ansatzweise" Auseinandersetzung mit seinem
Fehlverhalten bescheinigt. Dies ist angesichts des professionellen Vorgehens, der
Brutalität und der in den Taten zum Ausdruck kommenden erheblichen kriminellen
Energie nicht ausreichend. Der Senat teilt aus diesem Grund nicht die in der
Stellungnahme des psychologischen Dienstes der Justizvollzugsanstalt Dortmund vom
15. Dezember 2005 weiter geäußerte Einschätzung, es habe sich um ein „einmaliges
episodenhaftes Verhalten" gehandelt. Bei der Gesamtbetrachtung kann schließlich nicht
unbeachtet bleiben, dass der Antragsteller nach wie vor nicht bereit ist, sich
rechtskonform zu verhalten. Durch seine hartnäckige Weigerung zur Vorlage des
Passes bzw. Mitwirkung an der Passbeschaffung, um aufenthaltsbeendende
Maßnahmen zu vereiteln, hat er nachhaltig ausländerrechtliche Vorschriften missachtet
und damit zu erkennen gegeben, sich nicht an die Rechtsordnung halten zu wollen,
wenn ihre Beachtung seinen Interessen zuwiderläuft.
Dem nach anfänglichen Auffälligkeiten seit Oktober 2004 gezeigten Wohlverhalten im
Strafvollzug misst der Senat ebenfalls keine durchschlagende indizielle Relevanz zu.
Es entspricht dem üblichen Verhaltensmuster, dass Ausländer unter dem Eindruck der
verbüßten Strafhaft und mit Blick auf das laufende Ausweisungsverfahren um eine
einwandfreie Führung im Strafvollzug und legales Verhalten bemüht sind. Aus diesem
Grund indiziert ein solches Verhalten allein keine tiefgreifende Verhaltensänderung und
keinen grundlegenden Läuterungsprozess. Entgegen der Beschwerde führt diese
Beurteilung nicht zu der Annahme, dass in Strafhaft befindliche assoziationsberechtigte
türkische Staatsangehörige generell ausgewiesen werden können. Die einwandfreie
Führung eines Ausländers im Strafvollzug kann bei Hinzutreten weiterer gewichtiger
Indizien, insbesondere einer - hier nicht vorliegenden - eingehenden konstruktiven
Auseinandersetzung mit seinen Taten, die einen glaubhaften und überzeugenden
Gesinnungswandel anzeigen, auf eine positive Legalprognose führen.
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Das Bestehen einer Wiederholungsgefahr lässt sich nicht im Hinblick auf die
Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung verneinen. Die strafgerichtliche Prognose
bezüglich der Begehung erneuter Straftaten bindet weder die Ausländerbehörde noch
die Verwaltungsgerichte. Beide Stellen haben vielmehr eine eigenständige Prognose zu
treffen. Dies gilt schon deshalb, weil der von ihnen anzulegende Prognosemaßstab
nicht identisch mit dem der Strafgerichte ist. Die strafgerichtliche Entscheidung hat zwar
auch die Gefahr erneuten Straffälligwerdens des Betroffenen in den Blick zu nehmen.
Insoweit kann aber erfahrungsgemäß häufig eine Aussetzung der Vollstreckung
verantwortet werden, weil für die Dauer der Bewährungszeit das „Damoklesschwert"
des Widerrufs der Bewährung über dem Haftentlassenen schwebt und im Übrigen
Gesichtspunkte einer möglichst frühzeitigen Resozialisierung sowie fiskalische
Interessen des Staates (Haftkostenersparnis) eine vorzeitige Haftentlassung regelmäßig
vertretbar erscheinen lassen. Demgegenüber haben Ausländerbehörden und
Verwaltungsgericht ausschließlich auf ordnungsbehördliche Überlegungen, d.h. solche
der Gefahrenabwehr, abzustellen. Die genannten Stellen sind bei der Einschätzung des
Maßes der Wiederholungsgefahr nicht gehalten, ein gleich großes Restrisiko für die
Bevölkerung in Kauf zu nehmen wie die Strafgerichte. Der Beschluss des Landgerichts
Dortmund vom 9. Januar 2006, durch den die Reststrafenaussetzung nach Verbüßung
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von mehr als zwei Dritteln der Freiheitsstrafe zur Bewährung erfolgt ist, ist auch
hinsichtlich seines konkreten Inhalts nicht geeignet, eine positive Legalprognose zu
stützen. Er beschränkt sich neben der formelhaften Wendung, es könne „verantwortet
werden zu erproben, ob der Verurteilte außerhalb des Strafvollzuges keine Straftaten
mehr begehen wird", auf den Hinweis, dass der Antragsteller Erstverbüßer und offenbar
durch den bisherigen Strafvollzug genügend beeindruckt sei. Dass eine hinreichend
konstruktive Auseinandersetzung mit den Taten stattgefunden hat, wird hingegen nicht
festgestellt.
Die familiäre Situation des Antragstellers bietet gleichfalls keine hinreichende Gewähr
für einen künftigen rechtstreuen Lebenswandel. Auch in der Vergangenheit hat ihn die
familiäre Einbindung und die Übernahme familiärer Verantwortung nicht von der
Begehung schwerer Straftaten abhalten können. Es kann - worauf der Antragsgegner
zutreffend hingewiesen hat - auch nicht unbeachtet bleiben, dass der Antragsteller in
das persönliche und örtliche Umfeld zurückkehren wird, aus dem in der Vergangenheit
heraus die Straftaten begangen worden sind. An der Bewertung ändert auch das
Vorbringen nichts, er habe sich aus dem „Gaststättenmilieu" gelöst. Ob dies von Dauer
ist, lässt sich nicht verlässlich abschätzen, zumal diese Beziehungen jederzeit wieder
aktiviert werden können.
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Entgegen der Beschwerde ist die Ausweisung nicht deshalb rechtswidrig, weil sie
unbefristet erfolgt ist. Eine Befristungsnotwendigkeit in der Ausweisungsentscheidung
lässt sich aus dem Gemeinschaftsrecht nicht herleiten. Dies verdeutlicht Art. 32 der
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Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004
über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet
der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (ABl. L 158 S. 77),
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die den gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts widerspiegelt. Danach ist
Personen, gegen die aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit ein
Aufenthaltsverbot verhängt worden ist, lediglich das Recht eingeräumt worden, nach
einem entsprechend den Umständen angemessenen Zeitraum, in jedem Fall aber drei
Jahre nach Vollstreckung des nach dem Gemeinschaftsrecht ordnungsgemäß
erlassenen endgültigen Aufenthaltsverbots einen Antrag auf Aufhebung des
Aufenthaltsverbots unter Hinweis darauf einzureichen, dass eine materielle Änderung
der Umstände eingetreten ist, die das Aufenthaltsverbot rechtfertigt. Dem Antragsteller
bleibt es unbenommen, einen solchen Antrag zu stellen (vgl. § 11 Abs. 1 Satz 3
AufenthG). Ergänzend merkt der Senat an, dass nach seiner Rechtsprechung eine
derartige Befristungsnotwendigkeit auch nicht konventionsrechtlich geboten ist. Der
EGMR hat zwar in mehreren Entscheidungen die Ausweisung eines Ausländers als
unverhältnismäßig im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK erachtet, weil (noch) keine
Entscheidung über die Befristung ihrer Wirkungen getroffen worden war.
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Vgl. Urteile vom 17. April 2003 - 52853/99 - (Yilmaz), NJW 2004, 2147, 2149; vom 22.
April 2004 - 42703/98 - (Radovanovic), InfAuslR 2004, 374, und vom 27. Oktober 2005 -
32231/92 - (Keles), InfAuslR 2006, 3.
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Den kasuistischen, die Umstände des Einzelfalles betonenden Urteilen des EGMR lässt
sich indes nicht entnehmen, dass die Befristungsentscheidung stets bereits mit der
Ausweisungsentscheidung zusammen getroffen werden muss und dass die Befristung
nicht von einem entsprechenden Antrag abhängig gemacht werden darf. Das deutsche
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Recht verhindert eine - durch die Ausweisung zunächst mit unbefristeter Sperrwirkung
möglicherweise ausgelöste - unverhältnismäßige Einschränkung der persönlichen
Lebensführung des Ausländers dadurch, dass es ihm für den Regelfall einen Anspruch
auf Befristung der Wirkungen der Ausweisung, insbesondere des Einreise- und
Aufenthaltsverbots, gewährt (§ 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG). Es macht somit - anders als
der EGMR - die Entscheidung über das „Ob" der Befristung der Ausweisungswirkungen
im Regelfall nicht einmal von einer Verhältnismäßigkeitsprüfung abhängig.
Vgl. Senatsbeschluss vom 17. Juli 2007 - 17 B 726/06 -.
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Im Übrigen hat die Beschwerde der vom Verwaltungsgericht unter Würdigung der
Umstände des vorliegenden Einzelfalles getroffenen Feststellung, unter
Verhältnismäßigkeitsgründen sei hier eine zeitliche Befristung der Wirkungen der
Ausweisung (schon) mit der Ausweisungsentscheidung nicht geboten, nichts
Substanziiertes entgegengesetzt.
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Auf das Beschwerdevorbringen hinsichtlich der fehlenden Setzung einer Ausreisefrist
für den Fall der Abschiebung aus der Haft kommt es nicht (mehr) an. Insoweit ist die
Abschiebungsandrohung infolge der Entlassung des Antragstellers aus der Strafhaft
gegenstandslos geworden.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf §§
47 Abs. 1, 52 Abs. 1 und 2, 53 Abs. 3 Nr. 2 GKG.
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Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar.
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