Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 16.08.2001

OVG NRW: politische verfolgung, afghanistan, wahrscheinlichkeit, unmenschliche behandlung, gefahr, bundesamt, staatliche verfolgung, verfassungskonforme auslegung, ausreise, abschiebung

Oberverwaltungsgericht NRW, 20 A 3011/97.A
Datum:
16.08.2001
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
20. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
20 A 3011/97.A
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Minden, 9 K 3107/95.A
Tenor:
Das angefochtene Urteil wird geändert.
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens einschließlich der Kosten
des Revisionsverfahrens.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
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Der 1965 geborene Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger. Er beantragte im Juni
1995, kurz nach seiner Einreise über den Flughafen Frankfurt/Main, seine Anerkennung
als Asylberechtigter. Zu seinem Einreisebegehren führte er aus: Er sei Tadschike und
habe Afghanistan im Februar 1995 verlassen. Sein Leben sei in Gefahr gewesen, weil
die damals Regierenden ihn in den Kampf hätten schicken wollen. Außerdem sei Kabul,
wo er sich vor seiner Ausreise aufgehalten und wo er ein Lebensmittelgeschäft
betrieben habe, mit Raketen beschossen worden; bei solchen Angriffen seien seine
Eltern getötet und seine Schwester verletzt worden. Durch den Verkauf eines Fahrzeugs
und seines Geschäfts habe er das Geld für die von einem Schlepper arrangierte
Ausreise nach Deutschland beschaffen können. Seine Befürchtungen für den Fall eines
Kampfeinsatzes ergäben sich daraus, dass er schon unter den Kommunisten vier Jahre
Kriegsdienst geleistet habe und Mitglied der Hizbe Watan sei; diese Umstände würden
dazu führen, dass er an die vorderste Front geschickt werde, damit er umkomme.
Mitglied der Hizbe Watan sei er geworden, weil man sich für eine Partei habe
entscheiden müssen und er, da er in Kabul gelebt habe, zu dieser Partei habe gehen
müssen, zu der er aber nicht stehe. Ziel der Partei sei es, für Frieden und Ruhe in
Afghanistan zu sorgen; in Verfolgung dieses Ziels seien auch gewalttätige Mittel
eingesetzt worden. Bei seiner Anhörung durch das Bundesamt für die Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge (Bundesamt) gab er an: Nach dem Abitur habe er unter der
kommunistischen Herrschaft vier Jahre Militärdienst geleistet und anschließend bis
1991 als Beamter gearbeitet. Danach habe er ein Lebensmittelgeschäft geführt. Das
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Haus seiner Familie in Kabul sei im Zuge der folgenden kriegerischen
Auseinandersetzungen zweimal von Raketen getroffen worden, wobei seine Eltern
getötet worden seien und seine Schwester schwer verletzt worden sei; in diesen
Geschehnissen liege der Hauptgrund für die bald darauf erfolgte Flucht. Ein weiterer
Grund sei darin zu sehen, dass die Mujahedin, die von seinem Militärdienst unter dem
kommunistischen Regime gewusst hätten, ab 1993 von ihm verlangt hätten, für sie an
vorderster Front zu kämpfen. Für den Fall seiner Weigerung hätten sie gedroht, ihn zu
liquidieren. Er sei Sympathisant der DVPA gewesen, die später Heimatpartei genannt
worden sei und deren Nachfolgerin die Hizbe Watan sei; Mitglied sei er nicht gewesen,
andernfalls würde er über einen Parteiausweis verfügen. Das Bundesamt lehnte mit
Bescheid vom 10. Juli 1995 den Asylantrag ab. Gleichzeitig stellte es fest, dass die
Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 des Ausländergesetzes (AuslG) und
Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorliegen, und forderte den Kläger
unter Androhung der Abschiebung nach Afghanistan zur Ausreise auf. Der Bescheid
wurde dem Kläger am 21. Juli 1995 zugestellt.
Am 26. Juli 1995 hat der Kläger Klage erhoben. Ergänzend und vertiefend hat er
vorgetragen: Er sei schon in der Zeit seines Militärdienstes Mitglied der Watan-Partei
gewesen; die frühere Angabe, er sei nur Sympathisant gewesen, sei ein
Missverständnis gewesen. Seine Aufgabe als Beamter habe darin bestanden, im Büro
des 11. Parteibezirks in Kabul Archivierungen und Registrierungen vorzunehmen.
Neben dieser bis zur Machtübernahme durch die Mujahedin dauernden Tätigkeit habe
er sein Geschäft geführt. Einem Einsatz für die Jamiat-e-Islami, die die Macht in Kabul
übernommen gehabt habe, habe er sich zu entziehen gesucht, da ein solcher mit seinen
politischen Überzeugungen nicht vereinbar gewesen wäre. Sowohl wegen seiner
politischen Aktivitäten als auch wegen des ethnischen Gegensatzes zu den
pashtunischen Mujahedin habe er um sein Leben gefürchtet. Im Falle seiner Rückkehr
nach Afghanistan wäre er durch die Taliban bedroht. Er könne es nicht akzeptieren,
einen Bart und afghanische Kleidung zu tragen.
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Der Kläger hat beantragt,
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die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes vom 10. Juli 1995 zu
verpflichten, ihn als Asylberechtigten anzuerkennen sowie festzustellen, dass die
Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG und Abschiebungshindernisse nach § 53
AuslG vorliegen.
5
Die Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Das Verwaltungsgericht hat durch das angefochtene Urteil, auf das Bezug genommen
wird, den Bescheid des Bundesamtes aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, den
Kläger als Asylberechtigten anzuerkennen sowie festzustellen, dass die
Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen. Der gegen dieses Urteil gerichteten,
vom Senat mit Beschluss vom 22. Februar 2000 zugelassenen Berufung des Beteiligten
mit dem Ziel, das angefochtene Urteil zu ändern und die Klage abzuweisen, hat der
Senat mit Urteil vom 25. Mai 2000 stattgegeben. Auf die Revision des Klägers hin hat
das Bundesverwaltungsgericht dieses Urteil aufgehoben (Urteil vom 20. Februar 2001 -
BVerwG 1 C 31.00 -) und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung
zurückverwiesen.
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Der Beteiligte führt nunmehr unter ergänzender Bezugnahme insbesondere auf das
frühere Urteil des Senats aus, dem Kläger drohe im Falle einer Rückkehr nicht mit
beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung. Er beantragt,
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das angefochtene Urteil zu ändern und die Klage abzuweisen.
10
Der Kläger beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Er macht ergänzend geltend: Da die Herrschaft der Taliban schon über Jahre hin
andauere, sei das für eine staatsähnliche Herrschaftsmacht wesentliche Merkmal der
Dauerhaftigkeit zu bejahen. Eine Verfolgung durch die Taliban drohe ihm als
Tadschiken und wegen seines Engagements in der Watan-Partei. Zu Letzterem legt der
Kläger ein vom 12. April 2001 datierendes Schreiben der "Watan Party of Afghanistan"
und einen Mitgliedsausweis vor und führt noch aus, er habe in Deutschland an
Veranstaltungen einer von einem Cousin geleiteten Organisation der Watan-Partei in
München und Frankfurt teilgenommen, habe sich der Partei auch immer zugehörig
gefühlt und deren Mitgliedsausweis über die Jahre hin durch seine Schwester
aufbewahren lassen, da er auf ein erneutes Erstarken der Partei gehofft habe.
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Die Beklagte stellt keinen Antrag.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte
- insbesondere die Niederschrift über die mündliche Verhandlung am 16. August 2001
sowie die vom Kläger überreichten Unterlagen -, die beigezogenen
Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes und der Ausländerbehörde, ferner auf die in
das Verfahren eingeführten Erkenntnisse zur Situation in Afghanistan Bezug
genommen.
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Entscheidungsgründe
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Die Berufung des Beteiligten hat Erfolg.
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Gegenstand des Berufungsverfahrens, mit dem der Beteiligte das Ziel der Abweisung
der Klage verfolgt, sind die Ansprüche auf Anerkennung als Asylberechtigter nach Art.
16 a des Grundgesetzes (GG) und auf Zuerkennung von Abschiebungsschutz nach § 51
Abs. 1 AuslG, ferner auch die Ansprüche auf Feststellung eines
Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 1 bis 4 oder Abs. 6 Satz 1 AuslG sowie die
Anfechtung der Abschiebungsandrohung. Wegen ihrer Nachrangigkeit zu den
Ansprüchen aus Art. 16 a GG und § 51 Abs. 1 AuslG stehen die Ansprüche zu § 53
AuslG - als in der ersten Instanz wegen Stattgabe nach dem Hauptbegehren
unbeschieden gebliebene Hilfsbegehren - gegebenenfalls auch unmittelbar in der
Rechtsmittelinstanz zur Entscheidung an, wenn der Beteiligte - wie hier - gegen die
Verurteilung der Beklagten nach dem vorrangigen Klagebegehren Rechtsmittel einlegt.
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Vgl. BVerwG, Urteil vom 28. April 1998 - 9 C 2.98 -; Urteile vom 15. April 1997 - 9 C
38.96 -, InfAuslR 1997, 341 und - 9 C 19.96 -, InfAuslR 1997, 420.
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Die Klage ist in vollem Umfang unbegründet; der angefochtene Bescheid des
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Bundesamtes ist rechtmäßig.
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter, weil er nicht
politisch Verfolgter ist (Art. 16 a GG). Die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG
liegen deshalb ebenfalls nicht vor. Politisch Verfolgter ist, wer in Anknüpfung an seine
politische und religiöse Überzeugung oder an für ihn unverfügbare persönliche
Merkmale, die sein Anderssein prägen, gezielt Rechtsverletzungen ausgesetzt ist, die
ihn ihrer Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit
ausgrenzen.
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Vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 26. November 1986 - 2 BvR 1058/85 -, BVerfGE 74, 51,
und vom 10. Juli 1989 - 2 BvR 502/86 u.a. -, BVerfGE 80, 315.
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Derartige Verfolgungsgefahren müssen - für den vorgestellten Fall der Rückkehr des
Betreffenden in seinen Heimat- bzw. Herkunftsstaat - aktuell und für absehbare Zeit
drohen. Im Falle des Klägers muss sich die Feststellung drohender politischer
Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit treffen lassen. Der so genannte
herabgestufte Prognosemaßstab,
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vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Februar 1997 - 9 C 9.96 -, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr.
191,
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kommt ihm nicht zugute, denn er hat Afghanistan nicht vorverfolgt verlassen. Die von
ihm vorgebrachten Gründe für die Ausreise hatten ihren Ursprung in den allgemeinen
Erscheinungsformen des seinerzeitigen Bürgerkrieges und nicht in erlittenen oder
unmittelbar drohenden Verfolgungsmaßnahmen, die an asylerhebliche Merkmale
anknüpften. Das gilt sowohl für die vom Kläger in der Anhörung beim Bundesamt als
Hauptgrund genannten Raketenangriffe, bei denen seine Eltern getötet wurden und
seine Schwester schwer verletzt wurde, ferner das Elternhaus zerstört wurde, wie auch
für den angeblich auf ihn ausgeübten Druck, an militärischen Aktionen teilzunehmen. Es
ist nichts dafür dargetan oder ersichtlich, dass die Raketenangriffe über das
Kampfgeschehen zur Einnahme oder Zerstörung der betroffenen Teile Kabuls hinaus
gezielt auf die Familie des Klägers und ihn selbst gerichtet waren. Auch die
Ausführungen des Klägers zu ihm abverlangtem Militärdienst ergeben kein
überzeugendes Bild einer politischen Verfolgung. Es spricht Überwiegendes dafür, dass
dieses Angehörigen der Jamiat-e-Islami zugeschriebene Drängen auf eine Stärkung der
Kampfkraft der Organisation gerichtet, nicht aber auf eine Rechtsgutsverletzung gerade
beim Kläger gezielt war. Abgesehen davon, dass der Kläger das Drängen der Jamiat-e-
Islami in seiner erstinstanzlich eingereichten Stellungnahme nicht dem militärischen
Bereich, sondern einer Fortsetzung seiner Tätigkeit im Staatsdienst zugeordnet hat -
was jedenfalls Zweifel an einem empfundenen gewichtigen Druck zu einem Dienst mit
zu erwartenden Rechtsgutsverletzungen weckt - erscheint es schlechthin nicht
glaubhaft, dass sich der Kläger gezielt auf ihn gerichteten Maßnahmen in Form eines
militärischen Einsatzes über die gegebene lange Zeit hin mit den vorgebrachten
Argumenten hat entziehen können. Es mag daher dahinstehen, ob in dem für die
Beurteilung entscheidenden Zeitpunkt der Ausreise des Klägers im Jahre 1995, in dem
der Staat Afghanistan infolge des Bürgerkriegs handlungsunfähig war, in der
Heimatregion des Klägers überhaupt eine zu politischer Verfolgung fähige
staatsähnliche Organisation bestanden hat, ob die vorgebrachten Beeinträchtigungen
einer solchen Organisation zuzurechnen sind und welche Bedeutung der Veränderung
der Machtverhältnisse, die in der Folgezeit eingetreten ist, im Hinblick auf
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Konsequenzen aus einer erlittenen politischen Verfolgung zukommt. Da nicht
festzustellen ist, dass dem Kläger im Fall der Rückkehr nach Afghanistan Übergriffe von
asylerheblicher Intensität mit der mangels Vorverfolgung erforderlichen beachtlichen
Wahrscheinlichkeit drohen, kann für das vorliegende Verfahren auch dahinstehen, ob
nunmehr eventuelle Verfolgungshandlungen politischen Charakter hätten, also
staatliche Verfolgung oder Maßnahmen einer Organisation mit staatsähnlicher
Herrschaftsgewalt darstellten.
Die Betrachtungen zur Frage einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit von
asylerheblichen Übergriffen gegenüber dem Kläger können sich auf die Situation im
Herrschaftsbereich der Taliban beschränken. Allein dieses Gebiet kommt als
erreichbare Region bei einer möglichen Rückkehr, insbesondere bei einer Abschiebung
in Betracht. Flugverbindungen nach Afghanistan, mit dem kein Rücknahmeabkommen
gilt, bestehen, wenn überhaupt, nach Kabul und anderen von den Taliban beherrschten
Städten (AA Lagebericht vom 9.5.2001; zur Unterbrechung der Flugverbindungen durch
die UN-Sanktionen AA Lagebericht vom 24.1.2000). Die derzeit unter der Herrschaft der
Nord-Allianz stehenden Bereiche im Nordosten Afghanistans sind für zivile Reisende
vom Ausland her auf dem Landweg nicht oder nur unter kaum zu bewältigenden
Schwierigkeiten erreichbar (AA Lagebericht vom 24.1.2000; UNHCR von 00.1.2001
unter Hinweis auf die Probleme der erforderlichen Durchreise durch Drittstaaten).
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Für die Annahme einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit müssen die für eine Verfolgung
sprechenden Umstände ein größeres Gewicht haben als die dagegen sprechenden
Tatsachen; dabei sind auch die Zumutbarkeit eines mit der Rückkehr verbundenen
Risikos und auf diesem Wege der Rang des gefährdeten Rechtsguts von Bedeutung,
27
vgl. BVerwG, Beschluss vom 21. Februar 1997 - 9 B 701.96 -
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und sind etwaige Referenzfälle als gewichtige Indizien zu berücksichtigen.
29
Vgl. BVerwG, Beschluss vom 3. Januar 1996 - 9 B 650.95 -.
30
Den Umständen, die für eine Verfolgung des Klägers sprechen könnten, ist bei
Betrachtung der einzelnen denkbaren Anknüpfungspunkte wie in einer Gesamtschau
ein deutlich geringeres Gewicht beizumessen als den Tatsachen, die eine solche
Verfolgung nicht nahe legen.
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Den Befürchtungen des Klägers wegen der von ihm behaupteten Mitgliedschaft in der -
kommunistischen - Watan-Partei ist keine entscheidungserhebliche Bedeutung zu
geben. Der Senat hat bereits im voraufgegangenen Berufungsurteil auf - damals nicht
abschließend zu prüfende - Zweifel daran hingewiesen, ob der Kläger dieser Partei
tatsächlich angehört hat und für sie in einem Kabuler Parteibüro tätig gewesen ist, und
dazu auf den wechselnden Vortrag des Klägers verwiesen, der sich bei seinem
Einreisebegehren als Mitglied der Watan-Partei, bei seiner Anhörung vor dem
Bundesamt als bloßer Sympathisant und in der mündlichen Verhandlung vor dem
Verwaltungsgericht dann doch wieder als Mitglied dieser Partei bezeichnet hat. Ob die
nunmehr eingereichte Erklärung der "Watan Party of Afghanistan" und der vorgelegte
Mitgliedausweis der DVPA geeignet sind, die Zweifel zu beheben, mag dahinstehen;
nachhaltige Bedenken ergeben sich insbesondere aus dem mit eigenem Vorbringen
des Klägers nicht zu vereinbarenden Inhalt der angesprochenen Erklärung und aus den
eher realitätsfernen Schilderungen zum Erhalt und zwischenzeitlichen Verbleib des
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Ausweispapiers. Jedenfalls spricht nichts Überzeugendes für eine irgendwie geartete
Hervorhebung des Klägers über eine einfache Mitgliedschaft und - wenn überhaupt -
untergeordnete Tätigkeiten in der Partei hinaus. Dass die Verwaltungstätigkeit, von der
der Kläger gesprochen hat, ihn aus der Sicht antikommunistischer Gruppen gerade im
Hinblick auf ein kommunistisches Engagement geprägt hätte, ist nicht festzustellen;
denn die Darstellung des Klägers zu seiner Arbeit in der mündlichen Verhandlung im
zweiten Berufungsverfahren ergibt nur eine letztlich neutrale organisatorische Aufgabe
in der Kontrolle der Materialausgabe. Ferner ist die Schilderung in seiner Eingabe an
das Verwaltungsgericht, der zufolge er nach dem Sturz des kommunistischen Regimes
und der Übernahme der Macht in Kabul durch die Jamiat-e-Islami durch letztere
aufgefordert worden sei, unbedingt bei der (neuen) Regierung zu bleiben und ihr zu
helfen, die Macht weiter zu verbreiten, mit einer Identifikation des Klägers mit dem
soeben gestürzten Regime schlechthin unvereinbar. Der in der oben schon
angesprochenen Erklärung der "Watan Party" enthaltenen Angabe, der Kläger habe
"gegen die fanatischen Mujahedin- und Taleban-Kräfte ... gekämpft", kann schon
deshalb kein Gewicht gegeben werden, weil dies in den eigenen Ausführungen des
Klägers keine Entsprechung findet. Der Kläger ist in seinen Angaben im Verwaltungs-
wie im Gerichtsverfahren nicht über den bloßen Hinweis auf die pflichtgemäße
Ableistung des vierjährigen Militärdienstes mit Kampfeinsätzen etwa um das Jahr 1985
hinausgegangen und hat für die nachfolgende Zeit dargetan, dass er sich den
Aufforderungen, auf Seiten der Mujahedin an den Kämpfen teilzunehmen, widersetzt
habe; dass er in dieser Zeit gegen die Mudjahedin und zudem auch gegen die Taliban,
die erst kurze Zeit vor der Ausreise des Klägers in das Geschehen in Afghanistan
eingegriffen haben, - militärisch oder in sonstiger Weise - gekämpft hätte, wird in seinen
Ausführungen nicht einmal ansatzweise deutlich, obwohl aller Anlass bestanden hätte,
dergleichen anzubringen. Die mit einem Beweisangebot verbundenen Angaben aus der
überreichten Bescheinigung erweisen sich nach alldem als von vornherein greifbar
falsch, so dass ihnen auch nicht durch Beweisaufnahme nachgegangen zu werden
braucht.
Für Rückkehrer mit den beim Kläger allenfalls festzustellenden schwachen
Verbindungen zum früheren kommunistischen Regime besteht unter dem Blickwinkel
der politischen Vergangenheit keine beachtliche Wahrscheinlichkeit politischer
Verfolgung. Da aus dem, was gerade dem Kläger den Anstoß zur Ausreise gegeben hat
und ihm sonst vor dem Verlassen Afghanistans geschehen ist, keine
Schlussfolgerungen auf eine Rückkehrgefährdnung zu ziehen sind - insoweit wird auf
die Ausführungen zur Vorverfolgung verwiesen -, kommt nur eine allgemeine
Betrachtung der Situation von Personen wie dem Kläger zum Tragen. Ehemalige
Mitglieder und Funktionäre der kommunistischen DVPA sowie ihrer Gliederungen und
Nachfolgeparteien sind aber nicht generell wegen dieser politischen Vergangenheit
einer Verfolgung durch die Taliban ausgesetzt. Entscheidend für eine
Verfolgungsgefahr sind vielmehr zusätzliche Kriterien wie etwa konkrete Stellungen
innerhalb der Organisationen, ideologische Prägung und bestimmtes Verhalten
während des alten Herrschaftssystems (European Union vom 13.6.2001; UNHCR von
00.04.2001; Trosien in Bundesamt vom 3.5.2001; AA Lagebericht vom 9.5.2001; Dr.
Neda Forghani vom 22.2.2000). Von den insofern angeführten Umständen greift im
Falle des Klägers keiner zu seinen Gunsten ein. Während seiner Militärdienstzeit ist er
nach eigenen Angaben nur einfacher Soldat gewesen. Eine hervorgehobene Position
innerhalb der Partei hat er nicht bekleidet. Seine geschilderte Verwaltungstätigkeit,
soweit sie - was dem Vorbringen nicht klar zu entnehmen ist und in der damaligen
Situation vielleicht auch nicht klar zu erkennen war - überhaupt speziell der Parteiarbeit
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zuzurechnen ist, erschöpfte sich in untergeordneten Hilfsgeschäften ohne echte
Außenwirkung. Aus der Zeit vor der Ausreise des Klägers liegen auch keine
erkennbaren Anzeichen für eine besondere ideologische Prägung - wie etwa eine im
Sinne des damaligen Regimes qualifizierte Ausbildung, vor allem eine solche im
früheren Ostblock - vor. Schließlich sind auch keine auffälligen, dem kommunistischen
Regime genehmen oder von ihm geduldeten Handlungsweisen des Klägers zu Lasten
anderer Personen festzustellen. Die Einschätzung der Gefährdung von Personen mit
Bezügen zum früheren kommunistischen System von einer Art, wie sie beim Kläger
festzustellen ist, in den oben angeführten aktuellen Auskünften überzeugt auch
gegenüber vereinzelten abweichenden Wertungen (vgl. etwa Danesch vor dem
Bay.VGH am 1.10.1996 und an Hess. VGH vom 5.4.1997). Die Aussage, auch einfache
ehemalige Parteimitglieder seien vorbehaltlich besonderer Umstände - wie deutlich
unter Beweis gestellter Abkehr von der kommunistischen Ideologie in Verbindung mit
pashtunischer Herkunft oder hervorgehobener fachlicher Nützlichkeit - akut gefährdet,
stützt sich im Wesentlichen auf ideologische Gegensätze, also darauf, dass
Kommunisten in den Augen der Taliban als Gottlose erscheinen; sie findet in dem
bekannt gewordenen Vorgehen der Taliban innerhalb ihres Machtbereichs aber keine
hinreichende Stütze. Zwar kann nicht davon ausgegangen werden, dass alle früheren
Kommunisten unbehelligt geblieben sind und bleiben, doch geht es vorliegend schon im
Ansatz nicht um die Frage der hinreichenden Sicherheit vor Übergriffen, sondern um die
nach einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit von Übergriffen. Für die Vergangenheit
zeigt die Hinrichtung Najibullahs und seines Bruders kurz nach der Einnahme Kabuls
durch die Taliban die Bereitschaft zu einem rabiaten Abrechnen mit dem
kommunistischen Regime. Aber schon diese frühe Gewaltaktion eröffnete keine
systematische Verfolgungswelle gegenüber DVPA-Mitgliedern und Angehörigen von
Verwaltung, Justiz, Streitkräften und Geheimdienst des kommunistischen Regimes (AA
an Hess.VGH vom 19.3.1997; Deutsches Orient-Institut an Hess.VGH vom 18.9.1997),
was für die Wertung insbesondere deshalb bedeutsam ist, weil die Taliban sich nicht
scheuen, gegen ihre Bürgerkriegsgegner mit rücksichtsloser Härte vorzugehen und
ihren Wertanschauungen und Maßregeln widersprechende aktuelle Verhaltensweisen
drakonisch zu ahnden. Da die Taliban später im Zuge des Ausbaus ihrer Machtbereichs
auch zahlreiche Angehörige des kommunistischen Regimes in ihre Reihen
aufgenommen haben, wenn diese sich zu den von den Taliban vertretenen islamischen
Prinzipien bekannt haben (Dr. Neda Forghani vom 22.2.2000; European Union vom
13.6.2001), liegt der Schluss nahe, dass die Taliban der kommunistischen
Vergangenheit einer Person allein keine wesentliche - zu Übergriffen Anlass gebende -
Bedeutung mehr beimessen. Das erscheint auch insofern nachvollziehbar, als
Kommunisten keine mit den Taliban um die Macht rivalisierende Gruppe mehr
darstellen und angesichts der dominierenden Stellung der Taliban ideologische
Unterschiede, die lediglich in der Vergangenheit zu Tage getreten sind, gegenüber
anderen - etwa ethnischen - Dimensionen des Konflikts wesentlich an Gewicht verloren
haben. Ob das so weit geht, dass sich selbst für den nach dem oben Gesagten
prinzipiell gefährdeten Personenkreis das Verfolgungsrisiko mit zunehmendem
zeitlichen Abstand zum Sturz der letzten nichtislamischen Regierung bis zur Verneinung
der beachtlichen Wahrscheinlichkeit mindert (vgl. dazu AA Lagebericht vom 9.5.2001),
mag dahinstehen, da der Kläger nicht zu dem hervorgehobenen Personenkreis zählt.
Die Wertung der Situation dahin, dass sich jedenfalls für Personen wie den Kläger
wegen früherer Zugehörigkeit zur kommunistischen Partei eine beachtliche
Wahrscheinlichkeit von Verfolgungsmaßnahmen nicht ergibt, wird nicht dadurch
nachhaltig erschüttert, dass noch ab 1998 seitens der Taliban durch Dekrete zur
Anzeige und Bestrafung ehemaliger Kommunisten aufgerufen wurde (Trosien in
Bundesamt vom 3.5.2001; European Union vom 13.6.2001). Von daran anknüpfenden
verbreiteten oder gar systematischen Verfolgungswellen, selbst von einzelnen
Referenzfällen, die Personen einschlossen oder betrafen, die in ihrer Unauffälligkeit
unter dem kommunistischen Regime dem Kläger vergleichbar wären, wird in den
genannten Auskünften nicht berichtet, lediglich von der Betroffenheit ehemaliger
Funktionäre und der Entfernung ehemaliger Kommunisten aus dem Dienst in der
Verwaltung und - pauschal - von Verhaftungen.
Eine vor dem Hintergrund der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit relevante
Gefahrerhöhung ist auch angesichts dessen, was der Kläger in der mündlichen
Verhandlung im zweiten Berufungsverfahren zu seinem heutigen Engagement in Bezug
auf die Watan-Partei ausgeführt hat, nicht festzustellen. Dass sich der Kläger nach dem
Verlassen Afghanistans anders als in seinem Heimatland in (partei-) politischer Hinsicht
irgendwie hervorgehoben hätte, erschließt sich aus seinem Vorbringen ebenso wenig
wie eine Grundlage für daran anknüpfende Gefahren von Seiten der Taliban. Seine
Beziehungen zu der in Belgien ansässigen, sich als "Watan Party" bezeichnenden
Stelle, die ihm die schon angesprochene Bescheinigung ausgestellt hat, sind - wie nicht
zuletzt die magere, in tragfähigen individuellen Aspekten gehaltlose Erklärung zeigt und
sich aus den Schwierigkeiten bei grenzüberschreitenden Kontakten erklärt - ohne
irgendwie geartete Auffälligkeit. Für die Organisation, die ein Cousin des Klägers in
München leiten soll und der der Kläger angehören will, ist zwar ein Bezug zur Watan-
Partei sowie die Durchführung von Veranstaltungen behauptet worden; der - anwaltlich
vertretene - Kläger, der jeden Anlass hatte, diesen neu in das Verfahren eingeführten
Aspekt zu verdeutlichen, hat es bei diesen Allgemeinheiten belassen, die schon nicht
auf eine ausgeprägte politische Bedeutung schließen lassen. Vor allem aber hat der
Kläger nicht überzeugend dargetan, dass und warum er aus diesem Zusammenhang
heraus Besorgnisse hegt. Ein eigenes Hervortreten innerhalb der Organisation und ihrer
Veranstaltungen hat er auch auf ausdrückliches Befragen durch seinen
Prozessbevollmächtigten verneint; zur Frage des möglichen Bekanntwerdens seiner
Zugehörigkeit zu der Gruppe hat er lediglich darauf verwiesen, dass an den
Veranstaltungen auch Nichtmitglieder teilnähmen - warum diese ihn als Mitglied sollen
erkennen können und was sich auf welchem Wege daraus an Folgerungen im Fall der
Rückkehr nach Afghanistan ergeben soll, ist gänzlich im Dunkeln geblieben. Auf dieser
Grundlage, die so vage ist, dass nicht einmal Anlass besteht, Aspekten wie etwa dem
einer möglichen Information der Taliban über das Verhalten von Afghanen im Ausland
nachzugehen, kann jedenfalls nicht auf einen insofern in Betracht zu ziehenden
Nachfluchtgrund geschlossen werden. Vielmehr ist sogar der Schluss gerechtfertigt,
dass die - im Hinblick auf das Asylbegehren nicht tragfähigen - Angaben auch schon
nicht der Wahrheit entsprechen, sondern Teil des Bemühens des Klägers sind, von dem
anfangs ersichtlich im Vordergrund der Angaben zum Verlassen Afghanistans
stehenden Aspekt der Folgen des Bürgerkriegs - Tod der Eltern, schwere Verletzung
einer Schwester, Zerstörung des Elternhauses, Druck zur Teilnahme an
Kampfhandlungen - zu einem jedenfalls der Art nach asylerheblichen Hintergrund zu
gelangen.
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Aus der Zugehörigkeit des Klägers zur Gruppe der Tadschiken kann ebenfalls nicht auf
die beachtliche Wahrscheinlichkeit von ihn im Falle der Rückkehr treffenden
asylerheblichen Übergriffen geschlossen werden. Zwar ist nicht zu verkennen, dass die
Auseinandersetzungen in Afghanistan, nachdem die pashtunisch geprägten Taliban
über die mehrheitlich pashtunisch besiedelten Gebiete des Landes hinausgegriffen
haben, eine beträchtliche ethnische Komponente aufweisen, doch lässt sich nicht
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feststellen, dass gegen Nichtpashtunen, die sich außerhalb der Bereiche kriegerischer
Auseinandersetzungen im Talibangebiet aufhalten, allein wegen der Zugehörigkeit zu
einer fremden Ethnie in einer Weise vorgegangen wird, die eine konkrete Bedrohung
des Einzelnen in asylrelevanten Rechtsgütern besorgen lässt. Afghanistan ist seit jeher
durch eine Vielzahl von Ethnien besiedelt, wodurch jedoch die nationale Einheit nicht -
auch derzeit und von Seiten der Taliban nicht - in Frage gestellt wird; die ethnischen
Differenzen werden lediglich für politische Zwecke instrumentalisiert, soweit es um die
Erlangung und die Aufrechterhaltung von Machtstellungen geht (Glatzer in Bundesamt
vom 3.5.2001). So kam und kommt es bei den Bemühungen der Taliban um die
Erweiterung ihres Machtbereichs in nicht traditionell pashtunisch besiedelte Teile des
Landes zur unmittelbaren Konfrontation und Gegnerschaft zwischen unterschiedlichen
Bevölkerungsgruppen, was zur Folge hat, dass auch außerhalb der Kampfgebiete
nichtpashtunischen Minderheiten mit Misstrauen begegnet wird, weil die Zugehörigkeit
zu einer anderen ethnischen Gruppe als Indiz für eine feindliche politische Gesinnung
gesehen wird (AA Lagebericht vom 9.5.2001; European Union vom 13.6.2001). Die
ethnische Minderheiten treffenden Maßnahmen schließen schwerste
Menschenrechtsverletzungen ein, beschränken sich insofern nach der Auskunftslage
aber im Wesentlichen auf umkämpfte oder gerade eroberte Gebiete; so steht der
schwerste Übergriff, dessen Opfer Tadschiken waren - wahllose Exekutionen,
Zwangsumsiedlungen unter Trennung von Familien, Zerstörung der Häuser und der
landwirtschaftlichen Infrastruktur in der Schomali Ebene im Sommer 1999 - in
unmittelbarem Zusammenhang mit militärischen Aktionen in diesem traditionell von
Tadschiken besiedelten Bereich (UNHCR von 00.4.2001; AA Lagebericht vom
9.5.2001). Eine generelle Verfolgung und Vertreibung ethnischer Minderheiten mit dem
Ziel einer einheitlichen pashtunischen Bevölkerung Afghanistans oder Verhältnisse, wie
sie sich auf dem Balkan ergeben haben, sind nicht festzustellen, wohl aber eine
besondere Gefährdung in konfliktreichen Gebieten und in Zeiten der Instabilität
(European Union vom 13.6.2001). Für den Landesteil, der für das Schutzbegehren des
Klägers in den Blick zu nehmen ist, treffen diese Umstände, unter denen eine
beachtliche Wahrscheinlichkeit von Übergriffen mit asylerheblichem Gewicht zumindest
zu erwägen ist, nicht zu. Der Bereich Kabul ist aktuell zwischen den Taliban und den
Kräften der - militärisch von dem Tadschiken Massud geführten - Nordallianz nicht mehr
in einer Weise umkämpft, die ihn als militärisch ernstlich gefährdet erscheinen lässt.
Auch wird die Situation dort nach jahrelanger Machtausübung durch die Taliban nicht
als allgemein instabil geschildert. Dem umfangreichen Auskunftsmaterial ist ferner nicht
zu entnehmen, dass das Auf und Ab der Kriegshandlungen im Norden des Landes zu
Auswirkungen auf die sich in und um Kabul aufhaltenden Angehörigen der jeweils
konkret gegnerischen Ethnie geführt hätte; es ist angesichts der trotz aller
Behinderungen noch hinreichend verlässlich möglichen Berichterstattung über die
Verhältnisse gerade in diesem Landesteil davon auszugehen, dass entsprechende
Vorkommnisse - jedenfalls wenn sie von einem Gewicht wären, das Schlussfolgerungen
im Hinblick auf eine Gruppenverfolgung von Tadschiken erlauben könnte - mitgeteilt
worden wären. Anhaltspunkte dafür, dass sich die Situation in absehbarer Zeit ändert,
sind nicht ersichtlich. Die Anforderungen, die die Taliban als die für eine relevante
Verfolgung allein in Betracht kommende Macht an die Lebensführung, insbesondere an
das Verhalten und das Aussehen stellen, führen nicht zu dem Schluss auf eine dem
Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende politische Verfolgung. Es handelt
sich um Regelungen, die dazu dienen, die durch das radikale Islamverständnis und
Elemente der pashtunischen Tradition geprägten Ordnungsvorstellungen durchzusetzen
(vgl. Trosien in Bundesamt vom 3.5.2001). Ob diese Grundsätze und das darin
eingeschlossene Verbot abweichenden Auftretens gegenüber denen, die die
Grundhaltung nicht teilen und ihr nicht ohne Widerspruch gegen ihre Prägung und
innerste Überzeugung folgen können, politische Verfolgung darstellen -
vgl. BVerfG, Beschluss vom 1. Juli 1987 - 2 BvR 478, 962/86-, BVerfGE 76, 143 zur
Beschränkung des religiösen Bekenntnisses; BVerwG, Urteil vom 13. März 1988 - 9 C
278.86 -, InfAuslR 1988, 230 zur Beschränkung bei bestimmter sexuellen Prägung -
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mag ebenso dahinstehen wie die Frage, ob etwa zu besorgende Reaktionen
insbesondere der Religionspolizei auf abweichende Verhaltensweisen (European
Union vom 13.6.2001) etwa unter dem Aspekt, dass über den bloßen Ordnungsverstoß
hinaus eine tatsächliche oder vermutete abweichende religiöse oder politische
Einstellung getroffen werden soll (vgl. dazu AA Lagebericht vom 9.5.2001) -
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vgl. BVerwG, Urteile vom 13. Mai 1993 - 9 C 49.92 -, BVerwGE 92, 278 zur Bestrafung
wegen Verstoßes gegen Normen, die als solche keine politische Verfolgung ergeben,
und vom 13. März 1988, a.a.O. S. 236 zum Durchgriff auf die individuelle Prägung -
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an asylerhebliche Merkmale anknüpfen. Es ist nämlich nicht festzustellen, dass der
Kläger durch die Anforderungen, die die Taliban an sein Verhalten im Fall der Rückkehr
stellen, in unzumutbarer Weise betroffen wird, noch ist beachtlich wahrscheinlich, dass
er sich den Regeln widersetzen und es deshalb zu einer Bestrafung kommen wird. Der
Kläger ist im traditionell islamisch geprägten Afghanistan aufgewachsen und hat sich im
Verwaltungsverfahren selbst zum Islam bekannt. Es ist danach davon auszugehen,
dass er mit dem Verhaltenskodex zumindest in den Grundzügen vertraut ist. Dass er
maßgeblich durch die kommunistische Ideologie geprägt worden wäre, ist nicht deutlich
geworden; im Übrigen hat sich der Kläger nach dem Zusammenbruch des
kommunistischen Regimes auch noch einige Jahre unter den islamischen Mujahedin in
Kabul aufgehalten. Sein bloßer Hinweis darauf, er könne es nicht akzeptieren, einen
Bart und afghanische Kleidung zu tragen, knüpft an Äußerlichkeiten an und ergibt weder
etwas für eine ihn im Innersten treffende Zwangssituation noch für eine Nichtbefolgung
der Regeln im Fall der unmittelbaren Konfrontation mit den sanktionsbewehrten
Anforderungen. Weitere Ansatzpunkte, die dem Klagebegehren, soweit es Art. 16 a GG
und § 51 Abs. 1 AuslG betrifft, zum Erfolg verhelfen könnten, sind nicht ersichtlich. Eine
Gesamtschau der vorerörterten Einzelaspekte ergibt ebenfalls noch keine beachtliche
Wahrscheinlichkeit politischer Verfolgung. Zwar mag eine Kumulierung verschiedener
Anknüpfungspunkte geeignet sein, einen Einzelnen in der Sicht der Taliban in
hervorgehobenem Maße als gottlosen Regimegegner erscheinen zu lassen und damit
in die Gefahr von Übergriffen bis hin zu solchen von asylerheblicher Schwere zu
bringen, etwa wenn das Misstrauen, das Nichtpashtunen entgegengebracht wird, durch
aktuelles Wissen um konkreten Einsatz im Rahmen früherer kommunistischer
Organisationen erhöht wird und mit unangepasstem Verhalten zusammentrifft.
Dergleichen mag auch für den Kläger nicht gänzlich ausgeschlossen sein, hängt aber
doch so sehr vom ungewissen Zusammentreffen verschiedener Faktoren bis hin zu
Zufälligkeiten ab, dass von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit nicht gesprochen
werden kann. Auch das Begehren, Abschiebungshindernisse festzustellen, ist
unbegründet.
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Gefahren müssen, um ein Abschiebungshindernis aus § 53 Abs. 1, 2 und 4 AuslG zu
begründen, dem Kläger ebenfalls mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Daher
scheiden die im Vorstehenden erörterten und unter diesem Aspekt bereits als
unzureichend erkannten Anknüpfungspunkte des Verhaltens des Klägers vor dem
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Verlassen Afghanistans, seiner Zugehörigkeit zu den Tadschiken und der
Anforderungen an sein Verhalten auch im vorliegenden Zusammenhang aus. Auch die
mangels sonstiger in Betracht zu ziehender individueller Umstände allein noch zu
prüfenden allgemeinen Lebensbedingungen in Afghanistan, insbesondere die
Versorgungslage, ergeben keinen Anknüpfungspunkt für ein Abschiebungshindernis
etwa im Hinblick auf § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK. Grundsätzlich stellt nur ein
im Zielstaat der Abschiebung von einer staatlichen, ausnahmsweise auch von einer
staatsähnlichen Herrschaftsmacht begangenes oder von ihr zu vertretendes geplantes,
vorsätzliches, auf eine bestimmte Person gerichtetes Handeln eine unmenschliche
Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK dar; Art. 3 EMRK schützt ebenso wie das Asylrecht nicht
vor allgemeinen Folgen von kriegerischen Auseinandersetzungen, Naturkatastrophen
sowie unterentwickelten Gesundheitssystemen.
vgl. BVerwG, Urteil vom 2. September 1997 - 9 C 40.96 -, DVBl. 1998, 271.
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Darüber hinaus gehende und damit zu einer möglicherweise relevanten Behandlung
führende Ansatzpunkte aber sind im Hinblick auf die Lebensverhältnisse, mit denen der
Kläger im Falle der Rückkehr konfrontiert wäre, nicht ersichtlich.
42
Ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG besteht ebenfalls nicht.
Nach dieser Vorschrift kann von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen
Staat abgesehen werden, wenn dort für ihn - ungeachtet der vorerörterten
Anforderungen an eine unmenschliche Behandlung - eine erhebliche konkrete Gefahr
für Leib, Leben oder Freiheit besteht, wenn also unter Berücksichtigung auch des zum
Asylbegehren erfolglos vorgetragenen Sachverhaltes mit beachtlicher
Wahrscheinlichkeit und landesweit eine konkrete, individuelle Gefahr für die genannten
Rechtsgüter besteht. Allerdings werden Gefahren, denen die Bevölkerung insgesamt
oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist,
gemäß § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG bei Entscheidungen nach § 54 AuslG berücksichtigt,
so dass § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG Schutz vor Abschiebung bei einer allgemeinen Gefahr
grundsätzlich selbst dann nicht gewährt, wenn diese Gefahr den Einzelnen konkret und
individualisierbar bedroht; lediglich dann, wenn die Situation im Zielstaat der
Abschiebung so extrem ist, dass die Abschiebung jeden einzelnen Ausländer
"gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen
ausliefern würde", die zuständige Landesbehörde aber von ihrer
Ermessensermächtigung nach § 54 AuslG keinen Gebrauch gemacht hat, einen
generellen Abschiebestopp zu verfügen, ist mit Blick auf Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 Satz
1 GG und die hierdurch bestimmte verfassungskonforme Auslegung und Anwendung
des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG eine allgemeine Gefahr im Rahmen des § 53 Abs. 6 Satz
1 AuslG zu berücksichtigen.
43
Vgl. BVerwG, Urteil vom 29. März 1996 - 9 C 116.95 -, DVBl. 1996, 1257.
44
Ob eine derart hochgradige Gefahr vorliegt, bestimmt sich nach Art und Intensität der
drohenden Rechtsgutsverletzungen sowie deren Unmittelbarkeit und
Wahrscheinlichkeitsgrad, wobei allerdings nicht vorauszusetzen ist, dass Tod oder
schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Ankunft im
Abschiebezielstaat eintreten; sie besteht beispielsweise auch, wenn der Ausländer
mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert
werden würde.
45
Vgl. BVerwG, Beschluss vom 26. Januar 1999 - 9 B 617.98 -, NVwZ 1999, 668.
46
Da keine möglicherweise gefahrbegründenden Umstände ersichtlich sind, die über die
allgemeine Situation hinausgehen, mit der Personen konfrontiert sind, die derselben
Bevölkerungsgruppe angehören wie der Kläger, kommt das Erfordernis der extremen
Gefahr zum Tragen. Die danach maßgeblichen Kriterien sind nicht erfüllt. Von einer
Hungersnot, der ein Rückkehrer wie der Kläger mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Opfer
fiele, oder einer sonstigen konkreten Gefährdung seiner Existenz ist für den Bereich
Kabul, der für den Fall einer Abschiebung allein in den Blick zu nehmen ist, nicht
auszugehen. Die Lage in Afghanistan ist wegen allgemeiner Armut - das Land gehört zu
den ärmsten Ländern der Welt -, des Fehlens von Erwerbsmöglichkeiten und
unzureichender Versorgungseinrichtungen zweifellos auch und gerade für Rückkehrer
äußerst schwierig. Die Bevölkerung lebt weitgehend am oder unter dem
Existenzminimum; die Infrastruktur des Landes ist kriegsbedingt weithin zerstört,
landwirtschaftlich nutzbares Gelände ist großflächig vermint; dazu leiden weite Teile
Afghanistans derzeit unter der schlimmsten Dürre seit Jahrzehnten, die zu
Trinkwassermangel, dem Ausbrechen von Krankheiten, Viehsterben sowie Missernten
führt und mit deren vollen Auswirkungen erst im laufenden Jahr gerechnet wird (vgl. zu
alldem AA Lagebericht vom 9.5.2001; UNHCR von 00.4.2001). Von den Taliban und
ihren "Behörden" wird die Versorgung der Bedürftigen nicht sichergestellt (UNHCR von
00.4.2001; AA an Hess.VGH vom 28.8.1998). Rückhalt bieten in erster Linie die
Familien- und Stammesstrukturen, wobei teilsweise auch Unterstützung durch sich im
Ausland aufhaltende Angehörige erfolgt (Danesch an VGH Baden-Württemberg vom
13.3.1998). Ganz maßgeblich für die Versorgungslage der Bevölkerung ist angesichts
der mangelnden Leistungsfähigkeit des Landes selbst und des fehlenden Engagements
der Taliban freilich, dass sich ausländische und afghanische Hilfsorganisationen
namentlich im Machtbereich der Taliban seit Jahren und intensiv um die Versorgung der
Bevölkerung einschließlich rückkehrender Flüchtlinge kümmern (AA Lageberichte vom
9.5.2001, 3.11.1998 und 16.6.1998; UNHCR von 00.4.2001; Danesch an OVG Koblenz
vom 8.9.2000 und an VGH Baden-Württemberg vom 13.3.1998). Der Einsatz der
Hilfsorganisationen wird zwar durch Konflikte mit den Taliban erschwert, soweit diese
versuchen, ihre Vorstellungen - etwa über die Rolle der Frau in der Öffentlichkeit - auch
bei der Abwicklung der Hilfsleistungen durchzusetzen, doch sind diese Hindernisse
überwindbar. So konnte der zeitweilige Rückzug der Hilfsorganisationen aus Kabul im
Sommer 1998, durch den die Versorgungslage dort massiv verschlechtert worden war
(AA an Hess.VGH vom 28.8.1998), nach einer Übereinkunft mit den Taliban beendet
werden; die Hilfsorganisationen haben ihre Arbeit in Kabul (FR vom 23. Dezember
1998, zitiert nach ai-Afghanistan/ Info/Pressespiegel vom Januar 1999), aber auch in
anderen Teilen des Landes wieder aufgenommen (zum erneuten Tätigwerden der
UN:NZZ vom 16.3.1999 und des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz [IKRK]:
Deutsche Welle vom 21.6.1999, zitiert nach ai-Afghanistan/ Info/Pressespiegel Juli
1999). Obwohl Hilfsorganisationen ihre finanzielle Lage als angespannt bezeichnen
(AA an OVG Koblenz vom 16.11.2000) und die Resonanz auf Spendenaufrufe der UN
zur Unterstützung Afghanistans schwach ist (UNHCR von 00.4.2001), können etwa
durch das Welternährungsprogramm (WFP) noch 3,8 Millionen Menschen versorgt
werden, davon mehr als 400.000 in Kabul und Mazar-i-Sharif (International Herald
Tribune vom 20.6.2001). Dass aufgrund der jüngsten Missernte eine zunehmende Zahl
von Afghanen auf internationale Hilfe angewiesen sein wird, wird auch von neben den
UN tätigen Organisationen eingestellt. So erhöht insbesondere das IKRK die Mittel für
die Hilfe zugunsten der afghanischen Bevölkerung wegen der akuten Dürre für das
laufende Jahr von 50 auf 60 Millionen Franken, um damit in den nächsten Monaten
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zusätzlich 600.000 weitere Personen zu unterstützen (NZZ vom 7.6.2001). Nach alldem
kann nicht generell davon ausgegangen werden, dass in ihr Heimatland
zurückkehrende Afghanen dort - im Sinne der oben aufgezeigten Voraussetzungen im
Rahmen der verfassungskonformen Anwendung des § 53 Abs. 6 AuslG - dem
Hungertod ausgeliefert wären. Dass eine solche Gefahr nur durch ausländische Hilfe
abgewandt werden kann, ist jedenfalls solange unerheblich, wie - was für Afghanistan
festzustellen ist - das Land im Blickfeld der Weltöffentlichkeit steht. Die Frage zu
beantworten, ob die notwendige Abhilfe durch einen Verbleib in Deutschland
sachgerechter bewerkstelligt werden kann, gehört zu den bei der Entscheidung nach §
53 Abs. 6 Satz 2, § 54 AuslG einzustellenden Aspekten. Die vorstehende Wertung, dass
die Ernährungslage kein generell eingreifendes Abschiebungshindernis ergibt, wird -
freilich mit unterschiedlicher Akzentsetzung etwa auch bezüglich Regel und Ausnahme
sowie mit unterschiedlichen Eingrenzungen - dem Grundsatz nach von anderen
Obergerichten geteilt.
Vgl. OVG Lüneburg, Urteil vom 4. Juni 1999 - 7 L 4278/98 -; Hess. VGH, Urteil vom 20.
Juli 1999 - 9 UE 696/98.A -; Schl.-H. OVG, Urteil vom 17. November 1999 - 2 L 148/97 -;
SächsOVG, Urteil vom 29. Februar 2000 - A 4 B 4289/97 - und Hbg. OVG, Urteil vom 23.
Februar 2001 - 1 Bf 127/98.A -.
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Der vorliegende Fall bietet keinen Anlass, sich näher und abschließend mit eventuell
erforderlichen Eingrenzungen beim Ausschluss unmittelbar drohenden
existenzgefährdenden Ernährungsmangels zu befassen. Es ist nichts dafür ersichtlich,
dass der Kläger nicht in gleicher Weise wie die in Kabul verbliebene oder durch
innerstaatliche Fluchtbewegungen dorthin gelangte Bevölkerung Zugang zu den
Hilfsmöglichkeiten findet. Soweit eine Registrierung für die Einbeziehung in die
Unterstützung im Rahmen des WFP erforderlich ist, ist sie auch für Rückkehrer in Kabul
möglich (AA an OVG Koblenz vom 16.11.2000). Da der Kläger entscheidende Phasen
seines Lebens in Kabul verbracht hat und, wenn auch vor der Zeit der Taliban, so doch
in einer Zeit erheblicher Schwierigkeiten durch die Mujahedin-Auseinandersetzungen,
dort als Lebensmittelhändler tätig gewesen ist, liegen überzeugende Anhaltspunkte
dafür vor, dass er sich in hinreichend sicherer Weise zu bewegen und auch ohne
Hilfestellung durch bereits ansässige Angehörige oder sonst Nahestehende die
bestehenden Möglichkeiten auszuschöpfen vermag. Dass er Rückkehrer und Tadschike
ist, kann dem schwerlich entgegenstehen, da durch innerstaatliche Fluchtbewegungen
zahlreiche Fremde und auch Nichtpashtunen nach Kabul gelangen.
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Weitere Umstände, die für einen hohen Gefährdungsgrad, dem aus
verfassungsrechtlichen Gründen Rechnung zu tragen wäre, sprechen - insofern ist
insbesondere an die unzureichende medizinische Versorgung zu denken -, sind vom
Kläger nicht geltend gemacht und auch nicht ersichtlich.
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Gegen die Ausreiseaufforderung und die Abschiebungsandrohung ist nichts eingewandt
und sind auch keine Bedenken zu erheben. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154
Abs. 1 VwGO. Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen nach §§ 132
Abs. 2, 137 Abs. 1 VwGO nicht gegeben sind.
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