Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 20.06.2003

OVG NRW: klausur, wiederholung, ausgleichung, ratenzahlung, prüfungsbehörde, nettoeinkommen, begriff, chancengleichheit, einkommenssteuer, kirchensteuer

Oberverwaltungsgericht NRW, 14 E 203/02
Datum:
20.06.2003
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
14. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
14 E 203/02
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Köln, 6 K 1115/98
Tenor:
Der angefochtene Beschluß wird geändert.
Dem Kläger wird für das Verfahren des ersten Rechtszuges
Prozeßkostenhilfe mit der Maßgabe einer monatlichen Ratenzahlung
von 175,-- Euro bewilligt und Rechtsanwalt T. , E. , beigeordnet.
Gründe:
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1. Der angefochtene Beschluß war zu ändern, da das Verfahren hinreichende Aussicht
auf Erfolg bietet. Dies ergibt sich daraus, daß im Hauptsacheverfahren eine erneute
Klärung erforderlich ist, was Inhalt des Begriffes "Berufung auf die Störung" im Sinne
des § 8 Abs. 5 Satz 2 JAO NRW ist. Diese Frage ist zwar bereits durch eine ältere
Entscheidung des 15. Senats des Gerichts geklärt worden. Der Senat hat jedoch
erhebliche Zweifel, ob dieser Rechtsprechung weiterhin gefolgt werden kann. Hängt der
Erfolg des Verfahrens von einer offenen, grundsätzlich klärungsbedürftigen schwierigen
Rechtsfrage ab, so sind hinreichende Erfolgsaussichten anzunehmen, weil das
Prozeßkostenhilfeverfahren nicht der Ort ist, solche Rechtsfragen zu klären.
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Vorliegend ist die Situation dadurch gekennzeichnet, daß ausgehend von den
Rechtsstandpunkt, den der 15. Senat zur Auslegung des § 8 Abs. 5 Satz 2 JAO NRW
eingenommen hat, der Klage Erfolgsaussichten nicht abgesprochen werden können,
während der Senat zu einer Rechtsauffassung neigt, die einem Erfolg der Klage
entgegensteht.
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a) Der 15. Senat hat in seinem Urteil vom 30. November 1984 - 15 A 2123/83 - (Juris)
die Frage aufgeworfen, ob mit dem Begriff der "Berufung auf die Störung" geregelt
werden sollte, daß "dem Prüfling die Geltendmachung (nur) der störenden Umstände
oder auch die der rechtlichen Verfahrensfolgen obliegen" solle. Er hat diese Frage
dahin beantwortet, daß es ausreiche, wenn im Prüfungstermin ein Hinweis auf die
Störung erfolge. Eine weitere Erklärung des Prüflings, daß er die Aufsichtsarbeit nicht
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gelten lassen wolle oder sich die Geltendmachung dieses Rechts vorbehalte, sei nach
Wortlaut und Zweck des § 8 Abs. 5 Satz 2 JAO NRW nicht erforderlich.
Ausgehend von dieser Rechtsprechung hätte eine "Berufung" des Klägers auf die
Störung somit bereits im Klausurtermin stattgefunden. Dies gilt, wenn man nicht bereits
die von anderen Prüflingen erfolgten und zu Protokoll genommenen Hinweise auf die
Störung und ihre Anerkennung durch den Aufsichtsführenden als berechtigt auch dem
Kläger zurechnet, jedenfalls dann, wenn auch der Kläger selbst auf die Störung
hingewiesen hat. Dafür, daß er dies getan hat, hat er Beweis angetreten, dem -
ausgehend vom Rechtsstandpunkt des 15. Senats - im Hauptsacheverfahren
nachgegangen werden müßte.
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Daran änderte sich - immer ausgehend von der genannten Entscheidung - auch nicht
dann etwas, wenn der Kläger entgegen seiner Behauptung nicht während der Klausur
auch noch darauf hingewiesen hätte, daß er die wegen der Störung gewährte
Verlängerung für unzureichend halte. Ein solcher Hinweis wird auch in der Auslegung
des § 8 Abs. 5 Satz 2 JAO NRW durch den 15. Senat vom Prüfling nicht gefordert.
Dieser Hinweis ist nämlich in keiner denkbaren Auslegung der Vorschrift eine Berufung
auf "die Störung". Mit ihm würde vom Prüfling nämlich lediglich geltend gemacht, daß er
die ergriffene Ausgleichsmaßnahme nicht für ausreichend erachte. Dies ist weder ein
Hinweis auf eine Störung noch die Geltendmachung einer aus der - nicht
ausgeglichenen - Störung folgenden Rechtsposition, etwa des Verlangens nach einer
Wiederholung der Prüfung, sondern der Hinweis auf einen angeblichen Rechtsfehler bei
der Bestimmung der Ausgleichsmaßnahme.
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Dementsprechend hat der 15. Senat in der o.a. Entscheidung ausdrücklich verneint, daß
ein Prüfling, der die Störung in der Prüfung gerügt habe, nachträglich innerhalb der Frist
des § 8 Abs. 5 Satz 2 JAO NRW gegenüber dem Prüfungsamt auch noch die
Mangelhaftigkeit der Ausgleichsmaßnahme rügen oder ein Verlangen nach
Wiederholung der Aufsichtsarbeit stellen müsse (vgl. S. 10 f. UA). Vielmehr hat er die
Frage der Geeignetheit der Ausgleichsmaßnahme allein unter dem Gesichtspunkt
geprüft, ob die während der Prüfung erhobene Rüge des dortigen Klägers wegen dieser
Ausgleichsmaßnahme gegenstandslos geworden sei, und hat dies für eine
unzureichende Ausgleichsmaßnahme verneint (vgl. S. 6 f. UA).
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Hieraus folgt, daß den Erwägungen, aus denen das Verwaltungsgericht die
Erfolgsaussichten der Klage hinsichtlich des geltend gemachten Verfahrensmangels bei
der CI-Klausur verneint hat, auf der Grundlage der bisherigen zu § 8 Abs. 5 Satz 2 JAO
NRW ergangenen Rechtsprechung des Gerichts nicht gefolgt werden kann,
Erfolgsaussichten insoweit vielmehr anzunehmen wären.
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b. Der Senat neigt jedoch dazu, die genannte Rechtsprechung zum Begriff der
"Berufung auf die Störung" in § 8 Abs. 5 Satz 2 JAO NRW aufzugeben mit der Folge,
daß vorliegend diese Berufung auf die Störung bei der CI-Klausur seitens des Klägers
als verspätet anzusehen wäre.
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Es spricht vieles dafür, daß unter "Berufung" auf die Störung nicht der während des
Prüfungsverfahrens zu erfolgende Hinweis auf die störenden Umstände zu verstehen
ist, sondern allein die Geltendmachung der Rechte des Prüflings, die aus dem in der -
nicht ausgeglichenen - Störung liegenden Verfahrensfehler folgen, nämlich das
Verlangen nach einer Wiederholung der Prüfung.
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Die Geltendmachung einer Störung im Prüfungsverlauf hat, wie das Verwaltungsgericht
unter Anführung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des
erkennenden Gerichts ausgeführt hat, Bedeutung dafür, ob dieser Störung überhaupt
rechtliche Relevanz zukommt. Es ist nämlich zwischen zwei Fällen von Störungen des
Prüfungsablaufes zu unterscheiden: In Fällen, in denen die Störung nach Art und
Ausmaß "ohne jeden Zweifel" die Chancengleichheit der Prüflinge verletzt, muß das
Prüfungsamt von Amts wegen die erforderlichen Maßnahmen der Abhilfe oder des
Ausgleichs der Störung treffen, so daß es keiner Rüge des Prüflings bedarf. Davon
abzugrenzen sind die Fälle, in denen es zweifelhaft ist, ob die fragliche Störung vom
Durchschnittsprüfling als derart erheblich empfunden wird, daß er deshalb in seiner
Chancengleichheit verletzt ist, und in denen deshalb die Prüfungsbehörde zur
Behebung dieser Zweifel auf die Mitwirkung der Prüflinge in der Form von förmlichen
Rügen angewiesen ist.
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Vgl. BVerwG, Beschluß vom 10. August 1994 - 6 B 60.93 -, DVBl 1994, 1364 - =
Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 336; Urteil vom 11. August 1993 - 6 C 2.93 -, NJW
1994, 2633 = DVBl 1994, 158 = BVerwGE 94, 64 = Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr.
317; OVG NRW, Beschluß vom 14. Juli 1999 - 22 B 1068/99 -, n.v.
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Die Rüge im Verlauf der Prüfung, ob sie nun protokolliert wird oder nicht, dient dazu, die
Handlungspflicht auf die Prüfungsbehörde zu verlagern und damit einer Störung ihre
rechtliche Relevanz als Verfahrensfehler zu bewahren, wenn und soweit sie nicht
bereits ohnehin von Amts wegen zu berücksichtigen war.
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Von dieser auf der Mitwirkungspflicht des Prüflings beruhenden Rügepflicht, die die
Frage betrifft, ob überhaupt ein relevanter Mangel des Prüfungsverfahrens vorliegt,
dürfte die "Berufung" auf die Störung, für die § 8 Abs. 5 Satz 2 JAO NRW eine
Ausschlußfrist setzt, zu unterscheiden sein. § 8 Abs. 5 Satz 2 JAO NRW dürfte die
Geltendmachung der durch eine relevante Störung verletzten Rechte betreffen,
unabhängig davon, ob diese Störung ihre Relevanz von Amtswegen oder erst durch
Rüge während der Prüfung erhalten hat. Er setzt dem Prüfling eine Frist, bis zu der er
entscheiden muß, ob er rechtliche Konsequenzen aus der (relevanten und nicht
ausgeglichenen) Störung ziehen will oder nicht, bis zu der er also erklärt haben muß, ob
er die gestörte Prüfung gelten lassen will oder nicht. Diese Erklärung ist nicht in dem
während der Prüfung erfolgten Hinweis auf die Störung oder - wie hier als geschehen
behauptet - auf ihre nach Auffassung des Prüflings unzureichende Ausgleichung
enthalten. Denn diese während der Prüfung erfolgenden Rügen sind nicht auf die
Geltendmachung verletzter Verfahrensrechte, sondern auf deren Beseitigung bzw.
angemessene Ausgleichung gerichtet. § 8 Abs. 5 Satz 2 JAO NRW dagegen betrifft die
Geltendmachung der Rechtsfolgen einer relevanten Störung.
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In der vorstehenden Auslegung der Vorschrift deckt sich § 8 Abs. 5 Satz 2 JAO NRW in
der Sache mit der des § 19 Abs. 2 Satz 3 der JAPO BY, die ebenfalls eine
Ausschlußfrist von einem Monat setzt, jedoch klarer regelt, was der Prüfling innerhalb
dieses Monats zu tun hat, um seine Rechte zu wahren, nämlich einen Antrag auf
Wiederholung zu stellen.
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Vgl. dazu BayVGH, Urteil vom 29. Mai 1991 . 3 B 90.3484 -, BayVBl. 1991, 567,
bestätigt durch BVerwG, Beschluß vom 11. November 1991 - 7 B 113.91 - Buchholz
421.0 Prüfungswesen, Nr. 292
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Hier hat der Kläger erstmalig in der Widerspruchsbegründung und damit mehr als ein
halbes Jahr nach der Störung während der Prüfung geltend gemacht, daß er die Klausur
wegen der Störung nicht gelten lassen und eine Ersatzklausur schreiben wolle. Folgt
man den aufgezeigten, von der bisherigen Rechtsprechung abweichenden Erwägungen
des Senats, so würde sich an der somit verspäteten rechtlichen Berufung auf eine nicht
ausgeglichene Störung auch nichts ändern, wenn der Kläger, wie er behauptet und
unter Beweis stellt, bereits während der Prüfung die gewährte Schreibzeitverlängerung
als unzureichend gerügt hat.
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2. Hinsichtlich der vom Kläger zu erbringenden Ratenzahlung ist der Senat von dem zu
versteuernden Einkommen ausgegangen, das sich aus dem vorgelegten
Steuerbescheid vom 24. April 2002 für das Jahr 2000 ergibt. Der Ansatz dieses
Einkommens auch für aktuelle Einkommen erscheint gerechtfertigt, weil das Finanzamt
die Vorauszahlungen für 2002 auch auf eben dieser Grundlage festgesetzt hat.
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Danach ist von einem "zu versteuernden Einkommen" von 32.848,-- Euro auszugehen.
Von diesem sind zunächst mit dem Steuerbescheid abzusetzen die festgesetzte
Einkommenssteuer und Kirchensteuer sowie der festgesetzte Solidaritätszuschlag mit
insgesamt 5.863,54 DM, so daß ein Nettoeinkommen von 26.984,46 DM = 13.786,94
Euro verbleibt. Daraus folgt ein monatliches Nettoeinkommen von 1.149,75 Euro. Von
diesem sind entgegen der Auffassung des Klägers keine weiteren Werbungskosten und
Sonderausgaben abzusetzen, weil diese bereits bei der Ermittlung des zu
versteuernden Einkommens, nämlich hier der Gewinnermittlung aus selbständiger
Arbeit, vorab berücksichtigt sind. Das gilt in der Sache auch für die Kreditrückzahlung für
den PKW, denn der Aufwand für den PKW ist im Rahmen der Betriebsausgaben bereits
bei der Ermittlung des zu versteuernden Einkommens berücksichtigt. Abzusetzen sind
deshalb allein noch gemäß § 115 Abs. 1 Satz 3 ZPO die Unterkunftskosten von 310,--
Euro (Nr. 3 der Bestimmung) und der Betrag nach Nr. 2 iVm. der Bekanntmachung vom
13. Juni 2002 (BGBl. I S. 1908) in Höhe von 360,-- Euro für den Kläger. Bei einem
verbleibenden Monatseinkommen von 479,75 Euro ist nach der Tabelle des § 115 Abs.
1 Satz 4 ZPO eine Monatsrate von 175,-- Euro anzusetzen.
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Das Beschwerdeverfahren ist gerichtsgebührenfrei; Kosten werden nicht erstattet (§ 127
Abs. 4 ZPO).
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