Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 22.10.1999

OVG NRW: aufschiebende wirkung, interessenabwägung, bahn, verwaltungsakt, vollziehung, rechtsschutz, behörde, hauptsache, verkehr, ersetzung

Oberverwaltungsgericht NRW, 20 B 1150/99.AK
Datum:
22.10.1999
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
20. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
20 B 1150/99.AK
Tenor:
Der Antrag auf Abänderung des Senatsbeschlusses vom 11. Mai 1999 -
20 B 1464/98.AK - wird abgelehnt.
Der genannte Beschluß wird nicht von Amts wegen abgeändert.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Abänderungsverfahrens
einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
Der Streitwert wird auf 500.000,-- DM festgesetzt.
G r ü n d e
1
I.
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Der Antrag der Antragstellerin auf Abänderung des Senatsbeschlusses vom 11. Mai
1999 - 20 B 1464/98.AK - hat keinen Erfolg. Nach §§ 80 a Abs. 3 Satz 2, 80 Abs. 7 Satz
2 VwGO kann jeder Beteiligte die Änderung eines nach §§ 80 a Abs. 3 Satz 1, 80 Abs. 5
Satz 1 VwGO ergangenen Beschlusses wegen veränderter oder im ursprünglichen
Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen. Solche
Umstände liegen nicht vor. Die Absicht der Beigeladenen, den
Planfeststellungsbeschluß vom 30. April 1998 zu vollziehen, ist kein erst nach Abschluß
des ursprünglichen Verfahrens eingetretener Umstand; die Antragstellerin ist in jenem
Verfahren ebenso wie die übrigen Beteiligten und der Senat von der Vollzugsabsicht
der Beigeladenen ausgegangen und hat gerade deshalb vorläufigen Rechtsschutz in
Anspruch genommen. Daß die Beigeladene im Anschluß an die Entscheidung des
Senats angekündigt hat, ihre Vollzugsabsicht nunmehr in die Tat umsetzen zu wollen,
ist nur die von vornherein absehbar gewesene Konsequenz aus dieser Entscheidung.
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II.
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Ungeachtet der Frage, ob die Befugnis, Beschlüsse über Anträge nach §§ 80 a Abs. 3
Satz 1, 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO "jederzeit" zu ändern oder aufzuheben (§§ 80 a Abs. 3
Satz 2, 80 Abs. 7 Satz 1 VwGO), dem Gericht der Hauptsache ohne besondere, über
den bloßen Meinungswandel hinausgehende Voraussetzungen eingeräumt oder aber
von bestimmten - ungeschriebenen - Maßgaben abhängig gemacht ist,
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vgl. zum Meinungsstand OVG NRW, Beschluß vom 4. Februar 1999 - 11 B 74/99 -,
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sieht der Senat auch für eine solche seitens der Antragstellerin hinsichtlich der
Bescheidung ihres Hilfsantrages angeregte Abänderung des Beschlusses vom 11. Mai
1999 keinen Anlaß. Prozessualer Prüfungsmaßstab im Abänderungsverfahren ist § 80
Abs. 5 Satz 1 VwGO; bei einer Entscheidung nach § 80 Abs. 7 Satz 1 VwGO sind also
dieselben materiellen Gesichtspunkte maßgebend, wie sie im Falle eines Antrags nach
§§ 80 a Abs. 3 Satz 1, 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO gegenwärtig zu gelten hätten.
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BVerwG, Beschluß vom 21. Juli 1994 - 4 VR 1.94 -, BVerwGE 96, 239 (240) m.w.N.
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Auch unter Berücksichtigung des Vorbringens der Antragstellerin im vorliegenden
Verfahren bleibt es dabei, daß die gebotene Interessenabwägung zu ihren Lasten
ausfällt.
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Für den Bestand der sofortigen Vollziehung eines Planfeststellungsbeschlusses ist
maßgeblich, ob im Einzelfall dem Interesse des Planbetroffenen, vor ihn belastenden
vollendeten Tatsachen aufgrund eines möglicherweise rechtswidrigen Verwaltungsakts
geschützt zu werden, oder den gegenläufigen Interessen der Behörde und des
Vorhabenträgers an der Durchführung der mit dem Verwaltungsakt zugelassenen
Maßnahmen auch vor einer abschließenden gerichtlichen Prüfung seiner
Rechtmäßigkeit das größere Gewicht zukommt. Ein wesentliches Element dieser
Abwägung ist die Beurteilung der Erfolgsaussicht des Rechtsbehelfs in der Hauptsache
(vgl. auch §§ 80 Abs. 4 Satz 3, 80 b Abs. 1 VwGO). Je ungünstiger die Erfolgsprognose
für die erhobene Klage ausfällt, desto gewichtiger müssen die erfolgsunabhängigen
Interessen des Antragstellers sein, um eine Aussetzung zu rechtfertigen. Bei der
Anwendung dieser Grundsätze ist die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes durch
Art. 19 Abs. 4 GG zu beachten; der Betroffene hat einen substantiellen Anspruch auf
tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle. Sein Rechtsschutzanspruch ist um so
stärker und darf um so weniger zurückstehen, je gewichtiger die ihm auferlegte
Belastung ist und je mehr die Maßnahmen der Verwaltung Unabänderliches bewirken.
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Vgl. BVerfG, Beschluß vom 24. April 1974 - 2 BvR 236/74 u.a. -, BVerfGE 37, 150 (153);
Beschluß vom 21. März 1985 - 2 BvR 1642/83 -, BVerfGE 69, 220 (227 f.).
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Daraus leitet sich das Erfordernis ab, in Fällen gewichtiger und schwer oder gar nicht
rückgängig zu machender Folgen die Erfolgsaussicht - soweit die Eilbedürftigkeit der
Sache dies erlaubt - einer intensiven Prüfung zu unterziehen.
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Vgl. BVerfG, Beschluß vom 14. Mai 1985 - 1 BvR 233, 341/81 -, DVBl. 1985, 1006
(1013) m.w.N.
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Das gilt in besonderer Weise, wenn es - wie vorliegend - um den Rechtsschutz eines
Drittbetroffenen gegen einen begünstigenden Verwaltungsakt geht. Das in § 80 VwGO
angelegte Regel-AusnahmeVerhältnis zwischen aufschiebender Wirkung des
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Rechtsbehelfs und sofortiger Vollziehbarkeit des Verwaltungsakts kann in solchen
Gestaltungen nicht unbesehen zugrundegelegt werden, da sich die berührten
Rechtspositionen des Begünstigten und des Belasteten prinzipiell gleichrangig
gegenüberstehen.
Vgl. BVerfG, Beschluß vom 1. Oktober 1984 - 1 BvR 231/84 -, GewArch 1985, 16;
Senatsbeschluß vom 28. Mai 1999 - 20 B 675/98.AK -, S. 2 f. BA; Schoch in:
Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Kommentar, Loseblatt Stand März 1999, §
80 a Rdnr. 61.
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Die mit diesen Rechtspositionen jeweils verknüpften Interessen sind durchweg so
verschiedenartig, daß es schwerfällt, nachvollziehbare Gewichtungskriterien für sie aus
der Rechtsordnung zu gewinnen. Dies macht es erforderlich, in solchen Fällen eine
eingehende Prüfung der Erfolgsaussicht in den Mittelpunkt der Abwägung zu stellen.
Ein weiterer Gesichtspunkt, der ebenfalls für eine weitgehende Orientierung der
Interessenabwägung an der Erfolgsaussicht der Klage spricht, kommt hier hinzu. Die
Antragstellerin begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen einen Verwaltungsakt, mit dem
ein dem Gemeinwohl dienendes Vorhaben eines privaten Trägers zugelassen worden
ist. Eine die Erfolgsaussicht nur am Rande berücksichtigende oder gar von ihr
losgelöste Interessenabwägung wäre bedenklich, weil das öffentliche Vollzugsinteresse
und das private Vollzugsinteresse des Vorhabenträgers in ihrer Häufung typischerweise
ein strukturelles Übergewicht gegenüber dem privaten Aufschubinteresse des
Drittbetroffenen besitzen, letzteres sich also bei einer die rechtliche Beurteilung
ausblendenden Interessenabwägung regelmäßig nicht durchsetzen könnte.
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Führt die in Fällen dieser Art nach alldem gebotene intensive rechtliche Prüfung zu
einer verläßlichen Erfolgsprognose, so ist dem für die Abwägung im allgemeinen
entscheidende Bedeutung beizumessen.
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Vgl. BVerwG, Beschluß vom 22. Februar 1995 - 11 VR 1.95 -, Buchholz 442.09 § 20
AEG Nr. 1; Beschluß vom 27. Oktober 1997 - 11 VR 4.97 -, Buchholz 442.09 § 20 AEG
Nr. 17.
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Hiervon ausgehend hat der Senat im Beschluß vom 11. Mai 1999 die Erfolgsaussicht
der Klage der Antragstellerin gegen den Planfeststellungsbeschluß vom 30. April 1998
einer eingehenden Prüfung unterzogen. Dabei ist er zu dem Ergebnis gelangt, daß nicht
nur - wie die Antragstellerin resümiert - mehr für die Erfolglosigkeit der Klage spricht,
sondern daß diese aller Voraussicht nach keinen Erfolg haben wird. Die Antragstellerin
hat nichts aufgezeigt, was diese Beurteilung in Frage stellen würde. Der Hinweis in ihrer
Verfassungsbeschwerde, bestimmte Punkte seien in dem Beschluß offengelassen
worden, vermittelt ein schiefes Bild. Der Senat hat in der Tat die vorgelegten Gutachten
zu den Auswirkungen des Eisenbahnbaus und -betriebs auf den Gestütsbetrieb der
Antragstellerin nicht abschließend gewürdigt. Er hat daraus aber nicht den Schluß
gezogen, die Erfolgsprognose für die Anfechtungsklage sei mit gewichtigen
Unwägbarkeiten behaftet. Den im Gutachten der Sachverständigen von C. - X.
dargelegten Betriebserschwernissen könnte nämlich - wie im Senatsbeschluß vom 11.
Mai 1999 ausgeführt - weitgehend durch Schutzauflagen abgeholfen werden; eine
etwaige mangelnde Berücksichtigung solcher Betriebserschwernisse würde deshalb
nicht zur Aufhebung, sondern nur zur Ergänzung des Planfeststellungsbeschlusses
führen können und wäre mithin für die im Verfahren nach § 80 a Abs. 3 Satz 1, 80 Abs. 5
Satz 1 VwGO zu treffende Entscheidung unbeachtlich. Aufgrund intensiver rechtlicher
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Prüfung ließ sich deshalb eine klare Aussage über den zu erwartenden Ausgang des
Klageverfahrens treffen, die weiterhin Bestand hat: Die Klage wird aller Voraussicht
nach keinen Erfolg haben.
Da unter derartigen Umständen im allgemeinen das Vollzugsinteresse das
Aufschubinteresse überwiegt, könnten nur Besonderheiten ein anderes
Abwägungsergebnis rechtfertigen. Vor diesem Hintergrund hat der Senat in seinem
Beschluß vom 11. Mai 1999 auch darauf abgestellt, daß in § 20 Abs. 5 Satz 1 AEG die
Anerkennung eines besonderen öffentlichen Interesses an der sofortigen Vollziehung
des Planfeststellungsbeschlusses Ausdruck findet, und geprüft, ob besondere
Umstände vorliegen, die trotz dieser gesetzlichen Wertung und der ungünstigen
Erfolgsprognose ausnahmsweise zur Anordnung der aufschiebenden Wirkung führen
könnten. Es trifft zwar zu, daß der gesetzliche Ausschluß des Suspensiveffekts eine
konkrete Interessenbewertung, wie sie die Behörde ohne ihn nach § 80 Abs. 2 Nr. 4
VwGO anstellen müßte, im allgemeinen nicht entbehrlich macht, sondern nur in das
gerichtliche Verfahren verlagert.
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Vgl. BVerwG, Beschluß vom 21. Juli 1994, a.a.O., S. 241 f.
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§ 20 Abs. 5 Satz 1 AEG enthält jedoch insoweit eine Besonderheit gegenüber anderen
gesetzlichen Vollzugsanordnungen, als er an eine gesetzliche Feststellung
vordringlichen Bedarfs für konkrete, einzelfallbezogen auf ihre Dringlichkeit hin
untersuchte Projekte (aufgeführt in der Anlage zum
Bundesschienenwegeausbaugesetz) anknüpft. Anders als bei gesetzlichen
Vollzugsanordnungen, die auf bloß abstrakt umschriebene Tatbestände abstellen, dürfte
deshalb schon die gesetzliche Wertung den Schluß auf ein gewichtiges
Vollzugsinteresse in den Fällen des § 20 Abs. 5 Satz 1 AEG zulassen.
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Letztlich kommt es darauf aber nicht entscheidend an. Auch losgelöst von der
gesetzlichen Bedarfsfeststellung sprechen dringende Gründe für die sofortige
Vollziehung des Planfeststellungsbeschlusses. Die festgestellte Planung dient
verkehrspolitischen Zielen, denen im Bundesverkehrswegeplan 1992 und in
landesplanerischen Festlegungen ein hoher Stellenwert eingeräumt worden ist. Mit dem
Vorhaben soll der Flughafen Köln/Bonn erstmals an das Schienennetz angeschlossen
werden; er wird dadurch sowohl im regionalen S-Bahn-Verkehr als auch im Fernverkehr
des Europäischen Hochgeschwindigkeitsnetzes der Bahn erreichbar sein. Das steigert
nicht nur erheblich die Attraktivität des Flughafens, sondern eröffnet Möglichkeiten zu
einer Entlastung des Straßennetzes und einer Ersetzung von Zubringerflügen durch den
Schienenfernverkehr. Beides verspricht gewichtige ökologische Vorteile. Ferner wird die
verkehrliche Erschließung des Gewerbegebiets H. mit dem geplanten S-Bahn-Anschluß
wesentlich verbessert. Würde die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet, so
könnten diese Ziele allenfalls mit beträchtlicher - nach Jahren zählender - Verzögerung
verwirklicht werden. Zu dem Nachteil der verzögerten Realisierung träte ein
gravierendes finanzielles Risiko hinzu. Denn eine deutlich verzögerte Bauausführung
kann die Kostenkalkulation nachhaltig erschüttern.
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Andererseits entstehen zwar auch der Antragstellerin erhebliche Nachteile, wenn das
Vorhaben realisiert wird und der Planfeststellungsbeschluß anschließend aufgehoben
werden sollte. Ein beträchtlicher Teil der Gestüts- und Ackerflächen wird dann
vorübergehend nicht nutzbar sein; es kommt darüber hinaus zu Betriebserschwernissen
durch die temporäre Unterbrechung von Wegeverbindungen, Störungen durch die
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Bauarbeiten usw. Bleibende Schäden, die sich auch nach einem für die Antragstellerin
günstigen Ausgang des Hauptsacheverfahrens nicht kompensieren ließen, sind aber
zumindest in größerem Umfang nicht zu erwarten. Insbesondere fehlt es an greifbaren
Anhaltspunkten dafür, daß infolge der sofortigen Vollziehbarkeit des
Planfeststellungsbeschlusses ihre Existenz gefährdet werden wird. Vor dem
Hintergrund, daß ihre Klage aller Voraussicht nach keinen Erfolg haben wird, können
die demnach auf seiten der Antragstellerin in die Waagschale fallenden Nachteile ihrem
Aufschubinteresse keinen Vorrang vor den für die sofortige Vollziehbarkeit sprechenden
Belangen verschaffen.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 3 VwGO. Bei der auf §§ 20
Abs. 3, 13 Abs. 1 Satz 1 GKG beruhenden Streitwertfestsetzung hat der Senat sowohl
das von der Antragstellerin geltend gemachte wirtschaftliche Interesse an der
Verhinderung des streitigen Vorhabens als auch die Vorläufigkeit des Verfahrens
berücksichtigt. Der Wert des wirtschaftlichen Interesses orientiert sich nicht allein an
dem Marktwert der Weide- und Ackerflächen, die durch das Vorhaben unmittelbar in
Anspruch genommen bzw. nach dem Vortrag der Antragstellerin mittelbar beeinträchtigt
werden, sondern vor allem auch an den von ihr geltend gemachten weitreichenden
Auswirkungen auf die einzelnen Betriebsteile einschließlich der behaupteten
Existenzgefährdung eines der bedeutendsten Gestüte Deutschlands.
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