Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 17.03.2008
OVG NRW: aufschiebende wirkung, staatsangehörigkeit, ausweisung, gemeinschaftsrecht, aufenthaltserlaubnis, eugh, diskriminierungsverbot, geburt, mitgliedstaat, freizügigkeitsgesetz
Oberverwaltungsgericht NRW, 18 B 191/08
Datum:
17.03.2008
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
18. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
18 B 191/08
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Düsseldorf, 7 L 1424/07
Schlagworte:
Unionsbürger Familienangehörige doppelte Staatsangehörigkeit
freizügigkeitsberechtigt Freizügigkeit Diskriminierungsverbot
Inländerdiskriminierung unerlaubte Einreise
Normen:
Richtlinie 2004/38/EU Art. 3 Abs. 1; GG Art. 3 Abs. 1; FreizügG/EU § 1;
FreizügG/EU § 11 Abs. 1; AufenthG § 1 Abs. 2 Nr. 1; AufenthG § 84 Abs.
1 Nr. 1
Leitsätze:
1. Ein Unionsbürger, der die Staatsangehörigkeit zweier Mitgliedstaaten
der Gemeinschaft besitzt und sich in einem Staat seiner durch Geburt
erworbenen Staatsangehörigkeit aufhält, vermag seinem Ehegatten, der
nicht Unionsbürger ist, kein gemeinschaftsrechtliches Aufenthaltsrecht
zu vermitteln.
2. In derartigen Fällen verstößt der Ausschluss eines
Drittstaatsangehörigen vom Gemeinschaftsrecht nicht gegen das
europarechtliche Diskriminierungsverbot oder Art. 3 Abs. 1 GG.
Tenor:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 5.000,-- EUR
festgesetzt.
G r ü n d e :
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Die Beschwerde hat keinen Erfolg.
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Die mit der Beschwerde dargelegten Gründe, die vom Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6
VwGO nur zu prüfen sind, rechtfertigen keine Abänderung oder Aufhebung der
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angefochtenen Entscheidung.
Hinsichtlich der Versagung einer Aufenthaltserlaubnis hat das Verwaltungsgericht den
von den Prozessbevollmächtigten des Antragstellers gestellten Aussetzungsantrag zu
Recht abgelehnt. Der nach § 80 Abs. 5 VwGO gestellte Antrag ist – was das
Verwaltungsgericht noch offen gelassen hat - bereits unzulässig. Als Antrag nach § 80
Abs. 5 VwGO kann das Rechtsschutzbegehren des Antragstellers nur auf die
Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs gegen die seinen Antrag
auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ablehnende Verfügung vom 2. August 2007
gerichtet sein, soweit und sofern diese die Wirkungen eines belastenden
Verwaltungsaktes hat, indem sie ein Bleiberecht des Antragstellers in Form einer auf
Grund von § 81 Abs. 3 bzw. 4 entstandenen Duldungs-, Erlaubnis- oder
Fortbestandsfiktion beendet.
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Im Falle des Antragstellers ist die Ausreisepflicht jedoch nicht durch die angefochtene
Versagungsverfügung eingetreten oder vollziehbar geworden. Der Antrag auf Erteilung
einer Aufenthaltserlaubnis hat keine der Fiktionswirkungen begründet. Der zum
Familiennachzug ohne das gemäß § 6 Abs. 4 Satz 1 AufenthG in Verbindung mit Art. 1
Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 539/2001 (EG-Visa-VO) erforderliche Visum eingereiste
türkische Antragsteller hielt sich zum Zeitpunkt der Antragstellung auf Erteilung einer
Aufenthaltserlaubnis nicht rechtmäßig im Bundesgebiet auf und hatte niemals einen
Aufenthaltstitel (§ 4 Abs. 1 Satz 2 AufenthG) inne, so dass weder § 81 Abs. 3 noch § 81
Abs. 4 AufenthG eingreift.
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Dem Widerspruch kommt auch nicht gemäß § 80 Abs. 1 VwGO aufschiebende Wirkung
zu, die durch einen feststellenden Ausspruch festzustellen wäre. Eine aufschiebende
Wirkung ist gemäß § 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG ausgeschlossen. Dessen Anwendung
steht im Gegensatz zur Ansicht des Antragstellers nicht § 11 Abs. 1 FreizügG/EU
entgegen, der die vorgenannte Norm für freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger und ihre
Familienangehörige nicht – wie erforderlich (vgl. §§ 1 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG, 1
FreizügG/EU) – für anwendbar erklärt. Denn der Antragsteller gehört nicht zu den
freizügigkeitsberechtigten Familienangehörigen eines freizügigkeitsberechtigten
Unionsbürgers.
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Der Antragsteller hat nicht – was hier allein in Betracht kommt – als Ehemann einer
freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgerin ein gemeinschaftsrechtliches
Aufenthaltsrecht erworben. Seine Ehefrau ist zwar italienische Staatsangehörige und
lebt in Deutschland. Damit gehört sie zu den Personen, auf die das
Freizügigkeitsgesetz/EU (vgl. dessen § 1) prinzipiell Anwendung findet. So verhält es
sich hier aber nicht. Das Freizügigkeitsgesetz/EU ist auf die Ehefrau des Antragstellers
nicht anzuwenden. Diese hält sich nicht – wie von § 1 FreizügG/EU verlangt – als
Unionsbürgerin in einem anderen Mitgliedstaat, sondern als (zugleich) deutsche
Staatsangehörige im Staat ihrer Staatsangehörigkeit auf.
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Ein Unionsbürger, der – wie die Ehefrau des Antragstellers – die Staatsangehörigkeit
zweier Mitgliedstaaten der Gemeinschaft besitzt und sich in einem Staat seiner durch
Geburt erworbenen Staatsangehörigkeit aufhält, vermag seinem Ehegatten, der nicht
Unionsbürger ist, kein gemeinschaftsrechtliches Aufenthaltsrecht zu vermitteln. Denn
die Anwendung der nunmehr in der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen
Parlamentes und des Rates vom 29. April 2004 – Unionsbürgerrichtlinie, im Folgenden:
Richtlinie 2004/38/EG - (ABl. L 158 vom 30.4.2004, S. 35; ber. ABl. L 229 vom
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29.6.2004, S. 35) zusammengefasst enthaltenen Regelungen über die allgemeine
Freizügigkeit setzt ebenso wie die durch sie abgelösten Regelungen voraus, dass ein
Unionsbürger die durch die Richtlinie gewährten Freiheiten wahrgenommen hat bzw.
wahrnimmt. Entsprechendes hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) zu den durch die
Richtlinie 2004/38/EU abgelösten Richtlinien wiederholt entschieden. Dabei hat er
ausgeführt, dass die Gemeinschaftsregelungen über die Freizügigkeit nicht auf
Situationen anwendbar seien, die keinerlei Anknüpfungspunkt zu irgendeiner der durch
Gemeinschaftsrecht erfassten Situationen aufweisen. Folglich könnten diese
Regelungen nicht auf Situationen von Personen angewandt werden, die von den
Freiheiten nie Gebrauch gemacht haben.
Vgl. EuGH, Urteile vom 11 Juli 2002 – C-60/00 -(Carpenter), InfAuslR 2002,
373, vom 25. Juli 2002 – C-459/99 – (MRAX), InfAuslR 2002, 417, und vom
14. April 2005 – C-157/03 – (Kommission gg. Spanien), InfAuslR 2005, 229.
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Diese Grundsätze haben unverändert Bestand. Die Richtlinie 2004/38/EU hat insoweit
keine Änderungen gebracht. Verdeutlicht wird dies bereits durch die Erwägungsgründe
der Richtlinie. Schon der dritte Erwägungsgrund greift in seinem ersten Satz die
vorstehend zitierte Rechtsprechung des EuGH mit der Formulierung auf, dass die
Unionsbürgerschaft der grundsätzliche Status der Staatsangehörigen der
Mitgliedstaaten sein soll, wenn sie ihr Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt
wahrnehmen (Hervorhebung durch den Senat). Daran anschließend wird im nächsten
Satz sowie dem folgenden vierten Erwägungsgrund deutlich, dass die Richtlinie
2004/38/EU an die bestehende Rechtslage anknüpfen will. Mit jener sollen in einem
einzigen Rechtsakt die bis dahin in verschiedenen Regelungen enthaltenen
bereichsspezifischen und fragmentarischen Ansätze der Freizügigkeits- und
Aufenthaltsrechte überwunden und die Ausübung dieser Rechte erleichtert werden.
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Schließlich und vor allem setzt die Richtlinie 2004/38/EU nach ihrem Wortlaut im Art. 3
Abs. 1 die Inanspruchnahme der gemeinschaftlichen Freiheiten voraus. Dort wird in dem
hier interessierenden Teil bestimmt, dass die Richtlinie für jeden Unionsbürger gilt, der
sich in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt,
begibt oder sich dort aufhält.
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Davon ausgehend beurteilt sich der Rechtsstatus der Ehefrau des Antragstellers und
damit auch der seinige nicht nach dem Gemeinschaftsrecht, weil jene seit ihrer Geburt
(auch) die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt und sie deshalb zu keinem Zeitpunkt
die Freizügigkeitsrechte für Unionsbürger beanspruchen musste, um nach Deutschland
einzureisen, sich hier aufzuhalten und sich hier frei zu bewegen zu können. Dies alles
ermöglichte ihr bereits die deutsche Staatsangehörigkeit.
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Allgemeine Rechtsgrundsätze stehen dem hier gefundenen Ergebnis nicht entgegen.
Die Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts auf den Antragsteller ergibt sich
insbesondere nicht aus dem Gesichtspunkt einer sogenannten
"Inländerdiskriminierung" oder daraus, dass der Antragsteller andernfalls unter Verstoß
gegen Art. 3 GG schlechter gestellt würde als ein Ausländer, der mit einem nicht-
deutschen Unionsbürger verheiratet ist.
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In der obergerichtlichen Rechtsprechung ist geklärt, dass kein Verstoß gegen das
europarechtliche Diskriminierungsverbot – wie es in Art. 12 EGV seine allgemeine
Regelung gefunden hat - vorliegt, wenn drittstaatsangehörige Familienangehörige von
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Deutschen mit Aufenthalt in Deutschland von aufenthaltsrechtlichen Vergünstigungen
ausgeschlossen werden, die drittstaatsangehörige Familienangehörige von
Unionsbürgern nach Gemeinschaftsrecht genießen. Denn wenn ein deutscher
Staatsangehöriger sein Recht auf Freizügigkeit innerhalb der Gemeinschaft nicht in
Anspruch genommen hat, liegt – wie ausgeführt - kein Sachverhalt vor, der in den
Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fällt. Darüber hinaus verstößt in Fällen
der vorliegenden Art der Ausschluss drittstaatsangehöriger Familienangehöriger eines
deutschen Staatsangehörigen von aufenthaltsrechtlichen Vergünstigungen nach
Gemeinschaftsvertragsrecht auch nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Der nationale
Gesetzgeber ist danach nicht verpflichtet, solche Privilegierungen in das nationale
Recht zu übernehmen. Ein sachlicher Grund für die Ungleichbehandlung liegt darin,
dass das Gemeinschaftsrecht die Familienangehörigen von freizügigkeitsberechtigten
Unionsbürgern privilegiert.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 4. September 2007 – 1 C 43.06 -, DVBl. 2008, 108;
OVG NRW, Urteil vom 20. Dezember 1988 18 A 750/87 -, InfAuslR 1989,
201 sowie Beschlüsse vom 10. August 2005 – 17 B 1300/05 – und vom 2.
November 2007 – 18 B 229/07 -; OVG Hamburg, Beschluss vom 3. August
1993 Bs VII 90/93 -, EZAR 022 Nr. 4 und Juris, VGH Baden-Württemberg,
Beschluss vom 7. August 1995 - 13 S 329/95 -, NJW 1996, 72; OVG
Koblenz, Beschluss vom 3. Juli 2001 - 10 B 10646/01 -, InfAuslR 2001, 429.
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Wenn sich somit die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Ordnungsverfügung nach dem
allgemeinen Ausländerrecht beurteilt, dann muss das Aussetzungsbegehren
hinsichtlich der weiter verfügten Ausweisung ungeachtet der Beschwerdebegründung
schon deshalb erfolglos bleiben, weil insoweit jedenfalls die allgemeine
Interessenabwägung zu Ungunsten des Antragstellers ausfällt. Sein Interesse an einer
Vollziehungsaussetzung in Bezug auf die Ausweisung ist schon deshalb gering zu
veranschlagen, weil er mangels Besitzes des für ihn erforderlichen Aufenthaltstitels
ausreisepflichtig ist (§§ 50 Abs. 1 AufenthG) und seine Ausreisepflicht wegen seiner
infolge des Verstoßes gegen die Visumspflicht illegalen Einreise gemäß § 58 Abs. 2
Satz 1 Nr. 1 AufenthG vollziehbar ist.
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Eine Aussetzung der Vollziehung in Bezug auf die verfügte Ausweisung wäre unter
diesen Umständen für den Antragsteller nicht von Nutzen. Auch bei einem Erfolg des
Antrags wäre er wegen der ohnehin bestehenden vollziehbaren Ausreisepflicht
gezwungen, sein Begehren auf Aufhebung der Ausweisung mit dem dafür in der
Hauptsache gegebenen Rechtsbehelf vom Ausland aus zu verfolgen.
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Vgl. die Senatsbeschlüsse vom 19. August 2002 18 B 1353/01 –, vom 30.
April 2007 – 18 B 454/07 – und vom 13. Juli 2007 – 18 B 911/07 – m.w.N.
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Eine auf die Ausweisung beschränkte Vollziehungsaussetzung könnte auch nicht etwa
seine Rechtsposition in Bezug auf die Ablehnung des Aufenthaltserlaubnisantrags
verbessern. Die Schranke des § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG besteht auch dann, wenn
die verfügte Ausweisung nicht sofort vollziehbar ist. Das folgt aus der insoweit
eindeutigen Regelung des § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG.
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So schon zu der wortgleichen Regelung in § 72 Abs. 2 Satz 1 AuslG
Senatsbeschluss vom 25. April 1995 – 18 B 3183/93 -, NWVBl. 1995, 438 =
EZAR 030 Nr. 2 = NVwZ-RR 1996, 173; vgl. zuletzt Senatsbeschluss vom 7.
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März 2008 – 18 B 149/08 -.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des
Streitwertes beruht auf § 47 Abs. 1 iVm §§ 53 Abs. 3, 52 Abs. 1 und 2 GKG.
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Dieser Beschuss ist unanfechtbar.
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