Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 22.04.2004
OVG NRW: aufschiebende wirkung, garage, grenzabstand, befreiung, gebäude, einwilligung, bauarbeiten, beschränkung, grundstück, gestaltung
Oberverwaltungsgericht NRW, 10 B 828/04
Datum:
22.04.2004
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
10. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
10 B 828/04
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Münster, 2 L 359/04
Tenor:
Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Münster vom 30. März 2004
wird geändert. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der
Antragstellerin vom 17. Februar 2004 gegen die dem Beigeladenen
erteilte Baugenehmigung vom 29. Oktober 2003 wird angeordnet.
Die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen mit Ausnahme der
außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen, die nicht erstattungsfähig
sind, trägt der Antragsgegner.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 3.000,- EUR
festgesetzt.
Gründe:
1
Die Beschwerde der Antragstellerin hat Erfolg.
2
Die in der Beschwerdebegründung dargelegten Gründe, die der Senat gemäß § 146
Abs. 4 Satz 6 VwGO allein zu prüfen hat, führen zu einer Änderung der angefochtenen
Entscheidung, mit der das Verwaltungsgericht es abgelehnt hat, die aufschiebende
Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin gegen die Baugenehmigung vom 29.
Oktober 2003 anzuordnen.
3
Die Baugenehmigung vom 29. Oktober 2003 ist insoweit rechtswidrig, als darin die
grenzständige Errichtung eines Baukörpers im Anschluss an das bestehende
Wohnhaus genehmigt ist; insofern verletzt sie das Recht der Antragstellerin auf
Einhaltung der bauordnungsrechtlich vorgeschriebenen Abstandflächen.
4
Der zur Abstellung von Kraftfahrzeugen und - teilweise - als Dachterrasse vorgesehene
Baukörper hält die nach § 6 Absatz 1 Satz 1, Absätze 5 und 6 BauO NRW erforderliche
Abstandfläche nicht ein, da er unmittelbar an die Grenze gebaut ist. § 6 Absatz 11 BauO
NRW, der die Errichtung einer Grenzgarage in den Abstandflächen eines Gebäudes
5
und ohne eigene Abstandflächen mit einer mittleren Wandhöhe von 3,00m über der
Geländeoberfläche sowie einer Länge von 9,00m entlang einer Grundstücksgrenze
erlaubt, lässt das Erfordernis einer Abstandfläche nicht entfallen. Denn bei dem
betroffenen Baukörper handelt es sich nicht um eine Grenzgarage im Sinne dieser
Vorschrift. Die vorgesehene Nutzung des Baukörpers auch als Dachterrasse führt zur
Einstufung des gesamten Baukörpers als sonstiges, Abstandflächen auslösendes
Gebäude; daran ändert auch der Umstand nichts, dass die Dachterrassennutzung einen
Grenzabstand von 3,00m einhält. Denn eine Garage ist nach der Legaldefinition des § 2
Abs. 8 Satz 2 BauO NRW ein ganz oder teilweise umschlossener Raum zum Abstellen
von Kraftfahrzeugen; jede darüber hinaus gehende Nutzung lässt jedenfalls die
Eigenschaft als privilegierte Grenzgarage entfallen, selbst wenn auch ein derartiges
Gebäude alltagssprachlich als Garage bezeichnet werden mag.
OVG NRW, Beschluss vom 13. März 1990 - 10 A 1895/88 -, BRS 50 Nr. 149; ebenso:
Temme / Heintz, Landesbauordnung NRW - Abstandflächen und Abstände -, 5. Auflage
2003, § 6 Rn 288; Boeddinghaus / Hahn / Schulte, Kommentar zur Landesbauordnung,
§ 2 Rn 129ff., § 6, Rn 280ff. und § 74 Rn 274.
6
Von dem Erfordernis einer Abstandfläche ist der Beigeladene auch nicht in
rechtmäßiger Weise befreit worden. Nach der Rechtsprechung des Senats scheidet die
Erteilung einer Befreiung auf der Grundlage des § 73 BauO NRW aus, da die
Abstandflächenvorschrift des § 6 BauO NRW ein in sich geschlossenes System mit
eigenen Abweichungsregelungen bildet, das mit Hilfe des § 73 BauO NRW nur in
atypischen Situationen ergänzt, nicht aber grundsätzlich relativiert werden darf. Die
Abweichung nach § 73 BauO NRW ist kein Instrument zur Legalisierung gewöhnlicher
Abstandflächenverletzungen.
7
OVG NRW, Beschluss vom 28. August 1995 - 7 B 2117/95 -, BRS 57 Nr. 141; Beschluss
vom 27. Oktober 1997 - 10 B 2249/97 -, BRS 59 Nr. 122; Boeddinghaus / Hahn /
Schulte, Kommentar zur Landesbauordnung, § 73 Rn 6, 18ff. m.w.N.
8
Hiervon abgesehen wäre die Ausübung des behördlichen Ermessens hinsichtlich der
nachbarlichen Interessen als fehlerhaft einzustufen, da die Einwilligung der
Antragstellerin zu einer Erhöhung der Außenmauer der Garage um 0,30m und einer
Verlängerung um ca. 0,55m sich nicht auf den genehmigten Baukörper bezieht; die
Antragstellerin hat weder die Bauzeichnungen abgezeichnet noch eine Erklärung
unterschrieben, aus der die Nutzung des Baukörpers hervorginge. Vielmehr bezieht sich
ihre Erklärung vom 15. September 2003 nach ihrem Wortlaut auf die Erteilung einer
Befreiung von der höchstzulässigen Garagenhöhe von 3,00m und -länge von 9,00m und
damit nach ihrem Zusammenhang lediglich auf eine - hier weder genehmigte noch
errichtete - Grenzgarage im Sinne von § 6 Absatz 11 BauO NRW. Dies wird im Übrigen
durch den Umstand bestätigt, dass der dem Beigeladenen erteilte Befreiungsbescheid
Nr. 62/03 die Abweichung ausdrücklich auf den Fall einer "Grenzgarage" bezieht.
9
Aus der Anordnung der aufschiebenden Wirkung ergibt sich gegebenenfalls eine
Verpflichtung des Antragsgegners auf ordnungsbehördliches Einschreiten. Der
Antragsgegner wird zu prüfen haben, ob die Stilllegung der Bauarbeiten auf den
betroffenen Baukörper einschließlich des neu zu schaffenden Zugangs zu der geplanten
Dachterrasse beschränkt werden kann, zumal die Antragstellerin eine derartige
Beschränkung selbst angeregt hat. Dass im vorliegenden Fall eine bauliche Gestaltung
möglich erscheint, die die zulässige Errichtung einer Dachterrasse auf dem Grundstück
10
des Beigeladenen in dem erforderlichen Grenzabstand beinhaltet, ändert entgegen der
Beschwerdeerwiderung des Antragsgegners vom 22. April 2004 an dem Erfordernis
einer Stilllegung nichts, da die derzeit allein genehmigte Bauausführung aus den
genannten Gründen Nachbarrechte der Antragstellerin verletzt; eine hypothetische
Berücksichtigung rechtmäßiger Alternativlösungen scheidet in diesem Zusammenhang
aus.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 2, 162 Abs. 3 VwGO.
11