Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 24.04.2001

OVG NRW: bisherige nutzung, nutzungsänderung, vergleich, gebäude, grundstück, drucksache, untergeschoss, grenzbereich, nachbar, umweltschutz

Datum:
Gericht:
Spruchkörper:
Entscheidungsart:
Tenor:
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Aktenzeichen:
Vorinstanz:
Oberverwaltungsgericht NRW, 7 B 1473/00
24.04.2001
Oberverwaltungsgericht NRW
7. Senat
Beschluss
7 B 1473/00
Verwaltungsgericht Köln, 2 L 1836/00
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt die Beigeladene.
Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 5.000,- DM
festgesetzt.
Gründe:
Die zulässige Beschwerde ist unbegründet.
Das Verwaltungsgericht hat den gemäß § 80 Abs. 7 Satz 2 der
Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO - zulässigen Antrag zu Recht abgelehnt. Er ist in der
Sache nicht begründet.
Gemäß § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO kann jeder Beteiligte die Änderung oder Aufhebung
eines Beschlusses nach § 80 Abs. 5 VwGO wegen veränderter Umstände beantragen. Die
durch das Zweite Gesetz zur Änderung der Landesbauordnung vom 9. November 1999
(GVBl. S. 622) am 1. Juni 2000 in Kraft getretene und im vorliegenden Verfahren allein
relevante Einfügung des neuen Absatzes 15 in § 6 der Bauordnung für das Land
Nordrhein- Westfalen - BauO NRW - rechtfertigt keine Änderung des Beschlusses des
Verwaltungsgerichts Köln vom 4. August 1998 (Az.: 2 L 1868/98). Es spricht nach wie vor
Überwiegendes für die Rechtswidrigkeit der am 11. März 1998 der Beigeladenen erteilten
Baugenehmigung. Die Baugenehmigung dürfte die Antragstellerin schützende
bauordnungsrechtliche Abstandbestimmungen verletzen.
Gemäß § 6 Abs. 15 BauO NRW können bei Nutzungsänderungen sowie bei geringfügigen
baulichen Änderungen bestehender Gebäude ohne Veränderung von Länge und Höhe der
den Nachbargrenzen zugekehrten Wände unter Würdigung nachbarlicher Belange
geringere Tiefen der Abstandflächen gestattet werden, wenn Gründe des Brandschutzes
nicht entgegenstehen. Es bedarf keiner abschließenden Entscheidung, ob dem Vorhaben
der Beigeladenen Brandschutzgründe entgegenstehen, oder ob die baulichen
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Veränderungen an dem vorhandenen Gebäude noch als geringfügig anzusehen sind und
die Höhe der dem Grundstück der Antragstellerin zugekehrten Wand unberührt lassen. Die
Nutzungsänderungsgenehmigung ist jedenfalls mit der von § 6 Abs. 15 BauO NRW
geforderten Würdigung der nachbarlichen Belange nicht vereinbar.
Im Rahmen ihres durch § 6 Abs. 15 BauO NRW eröffneten Ermessens hat die Behörde das
Interesse des Bauherrn an der geänderten Nutzung seines Vorhabens und die
Schutzbedürftigkeit des Nachbarn gegeneinander abzuwägen. Bei dieser Abwägung
führen nachteilige Auswirkungen der Nutzungsänderung (bzw. der geringfügigen baulichen
Änderungen des Gebäudes) auf zumindest einen der durch § 6 BauO NRW geschützten
nachbarlichen Belange in der Regel zur Versagung der Baugenehmigung. Fehlt es an
solch nachteiligen Auswirkungen, ist die Erteilung einer Baugenehmigung dagegen
grundsätzlich möglich. Das ergibt sich aus Folgendem:
Nach der auch nach Einführung von § 6 Abs. 15 BauO NRW geltenden Rechtslage
erfordert jede die Variationsbreite der bisherigen Nutzung verlassende Nutzungsänderung
die Erteilung einer Baugenehmigung vor Aufnahme der geänderten Nutzung. Die Prüfung
der Genehmigungsfähigkeit der Nutzungsänderung hat auf der Grundlage von § 75 Abs. 1
Satz 1 BauO NRW die Frage zum Gegenstand, ob dem Vorhaben öffentlich-rechtliche
Vorschriften entgegenstehen. Die Prüfung umfasst folglich auch die Einhaltung der
Abstandvorschriften, da diese nicht nur baulichen, sondern auch nutzungsbezogenen
Zwecken wie dem Brandschutz und dem Wohnfrieden dienen.
Vgl. OVG NRW, Urteil v. 13. Juli 1988 - 7 A 2897/86 -, BRS 48 Nr. 139.
Für die Lösung des Interessenkonflikts zwischen nutzungswilligem Bauherrn und
schutzwürdigen Nachbarn im Falle der Nutzungsänderung war nach Auffassung der
Rechtsprechung maßgebend, dass bei Nichteinhaltung der Abstandvorschriften die
Interessen des Nachbarn nur dann zurücktreten mussten, wenn die beabsichtigte Nutzung
ihn in seinen durch § 6 BauO NRW geschützten Belangen nicht nachteiliger berührte als
die bisherige Nutzung.
Vgl. OVG NRW, Urteil v. 13. Juli 1988 - 7 A 2897/86 -, BRS 48 Nr. 139; OVG NRW,
Beschluss v. 18. August 1997 - 7 B 1850/97 -; OVG NRW, Beschluss v. 22. Oktober 1997 -
7 B 2464/97 -; OVG NRW, Beschluss v. 8. September 1998 - 7 B 1868/98 -.
Diese in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze sind durch § 6 Abs. 15 BauO NRW
aufgegriffen und bestätigt worden. Die Vorschrift ermöglicht nach Auffassung des Senats
für den Regelfall gerade nicht die Genehmigung einer die Belange des Nachbarn stärker
als zuvor beeinträchtigenden Nutzung. Der gesetzlichen Neuregelung lag die Annahme
zugrunde, dass für das Abstandflächenrecht vorherrschend die räumliche Ausdehnung
eines Gebäudes gegenüber der Nachbargrenze maßgeblich sei und der Gebäudenutzung
demgegenüber äußerst geringe Bedeutung zukomme.
Vgl. Landtags-Drucksache 12/3738, S. 71.
Liegt diese Voraussetzung im Einzelfall jedoch nicht vor, muss die vom Gesetz
vorgesehene Abwägung "unter Würdigung nachbarlicher Belange" in der Regel zu Lasten
des Bauherrn ausfallen.
Der Senat folgt insoweit nicht der im Beschluss vom 1. Februar 2000 - 10 B 2092/99 -
geäußerten Auffassung des 10. Senats des Gerichts, wonach auch bei nachteiliger
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Berührung nachbarlicher Belange im Wege der Abwägung eine Baugenehmigung erteilt
werden kann. Danach soll § 6 Abs. 15 BauO NRW davon ausgehen, dass die geänderte
Nutzung auf wenigstens einen durch die Abstandflächenvorschriften geschützten Belang
nachteiliger einwirkt als die bisherige Nutzung und deshalb der Bestandsschutz
weggefallen sei. Diese Auffassung verkennt, dass sich die Abstandfrage bereits allein mit
dem Wegfall des Bestandsschutzes der bisherigen Nutzung stellt. Daran hat die
Neuregelung nichts geändert. § 6 Abs. 15 BauO NRW geht lediglich davon aus, dass der
Gebäudenutzung, also auch einer Nutzungsänderung, regelmäßig äußerst geringe
Bedeutung zukommt. Ist dies aber nicht der Fall, hat also die Nutzungsänderung
nachteilige Folgen für den Nachbarn, muss die Würdigung der nachbarlichen Interessen
regelmäßig zur Versagung der Nutzungsänderung führen. Dem Gesetz ist gerade nicht zu
entnehmen, dass dem Nachbarn im Falle einer Nutzungsänderung eines auf dem
angrenzenden Grundstück mit geringeren als in § 6 Abs. 1 bis 14 BauO NRW bestimmten
Abstandflächen stehenden Gebäudes höhere Beeinträchtigungen als bisher zugemutet
werden sollen.
Eine Modifikation der Rechtslage ist auch nicht dadurch eingetreten, dass § 6 Abs. 15
BauO NRW statt des bisher vorzunehmenden Vergleiches zwischen bisheriger und
beabsichtigter Nutzung einen Vergleich zwischen beabsichtigter Nutzung unter Einhaltung
der Abstandflächen (fiktiv) und beabsichtigter Nutzung ohne Einhaltung der Abstandflächen
(tatsächlich) erfordere, so dass eine Nutzungsänderung dann genehmigungsfähig sein
könnte, wenn die tatsächliche Nutzung im Verhältnis zu der fiktiven Nutzung nicht als
unzumutbare Benachteiligung anzusehen sei.
So OVG NRW, Beschluss v. 1. Februar 2000 - 10 B 2092/99 -.
Die Einführung eines solchen dem Abstandrecht bisher fremden Maßstabes zur
Beurteilung der Zumutbarkeit der Beeinträchtigung nachbarlicher Belange,
vgl. z.B. OVG NRW, Beschluss v. 28. August 1995 - 7 B 2117/95 -,
ist weder den Gesetzgebungsmaterialien,
vgl. Landtags-Drucksache 12/3738, S. 71,
noch dem Gesetz selbst zu entnehmen.
Den Abstandflächenvorschriften liegt die materielle Betrachtung zu Grunde, das
Heranrücken eines Bauwerkes gehe immer mit einer Beeinträchtigung des Nachbarn
einher. Gemäß § 6 BauO NRW entsteht ein Abwehranspruch gegen eine Beeinträchtigung
jedoch erst dann, wenn die gesetzlich normierten Abstandswerte unterschritten werden, da
das Gesetz für diese Fälle von der Unzumutbarkeit der Beeinträchtigung ausgeht.
Vgl. OVG NRW, Urteil v. 14. Januar 1994 - 7 A 2002/92 -, BRS 56 Nr. 505; OVG NRW,
Beschluss v. 10. Februar 1999 - 7 B 974/98 -, BRS 62 Nr. 133.
Diese auf die Beeinträchtigung abstellende Sichtweise rechtfertigt für den Regelfall auch
die Annahme, bei Einhaltung der Abstandvorschriften sei das im Rahmen der Anwendung
bundesrechtlicher Vorschriften zu beachtende Gebot der Rücksichtnahme nicht verletzt.
Vgl. BVerwG, Urteil v. 11. Januar 1999 - 4 B 128.98 -, BRS 62 Nr. 102.
Ein wichtiges Kriterium bei der Abwägung, ob eine Nutzung rücksichtslos ist oder nicht, ist
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dabei die sich aus der Situation des Nachbargrundstücks ergebende Vorbelastung.
Vgl. z.B. BVerwG, Urteil v. 25. Februar 1977 - 4 C 22.75 -, BRS 32 Nr. 155.
Die aufgezeigte Bedeutung des § 6 BauO NRW für die Bewertung der Zumutbarkeit eines
Gebäudes im nachbarlichen Grenzbereich sowohl in bauordnungsrechtlicher als auch in
bauplanungsrechtlicher Hinsicht machen deutlich, dass § 6 Abs. 15 BauO NRW einen
Vergleich der bisherigen mit der jetzigen Nutzung voraussetzt. Der Vergleich zwischen
fiktiver und tatsächlicher Nutzung dürfte hingegen im Regelfall zu dem Ergebnis führen,
dass die Unterschiede zwischen beiden nicht ins Gewicht fallen. Regelmäßig wäre
demnach eine im Fall der Erstgenehmigung vom Gesetz selbst als unzumutbar
angesehene Beeinträchtigung mit Hilfe eines besonderen Maßstabes im Falle der
Nutzungsänderung als zumutbar einzustufen. Daraus würde sich die gesetzlich nicht
gewollte Konsequenz ergeben, dass der betroffene Nachbar die durch eine geänderte
Nutzung ausgelöste - und gegenüber der bisherigen Situation verstärkte - Beeinträchtigung
faktisch ohne Abwehrrechte zu dulden hätte.
Die dem Abstandrecht eigene formal pauschalierende Zumutbarkeitsbewertung und daran
anknüpfende Regelung der Abwehrfähigkeit von Beeinträchtigungen nachbarlicher
Belange bestimmt auch die nach § 6 Abs. 15 BauO NRW erforderliche Abwägung.
Angesichts dessen führt auch im Rahmen von § 6 Abs. 15 BauO NRW die im Vergleich zur
früheren Nutzung nachteilige Berührung zumindest eines der in § 6 BauO NRW
geschützten nachbarlichen Belange regelmäßig zur Versagung der
Nutzungsänderungsgenehmigung; im Übrigen ist die Erteilung einer
Nutzungsänderungsgenehmigung nunmehr von Gesetzes wegen grundsätzlich möglich.
Der in § 6 BauO NRW geschützte nachbarliche Belang des Wohnfriedens,
vgl. OVG NRW, Beschluss v. 10. Februar 1999 - 7 B 974/98 -, BRS 62 Nr. 133,
wird im vorliegenden Fall zu Lasten der Antragstellerin berührt. Nach den Angaben im
umweltgeologischen Altlastengutachten der S. Umweltinstitute vom 26. August 1996 wurde
das Gebäude bis zum Jahre 1955 als Gerberei eines kleinen Familienbetriebs genutzt,
später wurde dort anderswo bezogenes Fertigleder zur Weiterverarbeitung geschnitten und
genäht. Dass dieser Gewerbebetrieb außerhalb der üblichen Betriebszeiten - also im
Wesentlichen abends und an den Wochenenden - geschlossen war, liegt auf der Hand.
Der "Schalltechnischen Untersuchung zur Nutzung des Gemeindezentrums der Freien
evangelischen Gemeinde W. " des Institutes für Umweltschutz und Energietechnik, K. , vom
15. Juni 1999 ist demgegenüber zu entnehmen, dass gerade in den durch die frühere
Nutzung gekennzeichneten betrieblichen Ruhezeiten nunmehr wesentliche Nutzungen des
Gebäudes zu erwarten sind: An Werktagen sind Kinder- und Jugendveranstaltungen sowie
Seniorentreffs im Zeitraum von 14.00 Uhr bis 20.00 Uhr vorgesehen, Zusammenkünfte von
Gemeindegruppen sogar im Zeitraum vom 20.00 Uhr bis 23.OO Uhr. An Sonn- und
Feiertagen finden Gottesdienste mit anschließendem Mittagessen und Gespräch in der Zeit
von 9.30 Uhr bis 15.00 Uhr statt. Besondere Bedeutung hat diese Nutzung, die nach der
Baugenehmigung vom 11. März 1998 sogar zeitlich unbeschränkt möglich wäre, für die
Antragstellerin deshalb, weil die Veranstaltungsräume sowohl im Erd- als auch im
Untergeschoss Fenster gerade in dem Wandteil haben, der Abstandflächen auf dem
Grundstück der Antragstellerin auslöst. Hinsichtlich des Gruppenraumes im Untergeschoss
kommt hinzu, dass dieses Fenster das einzige des ganzen Raumes ist, so dass bei einem
zur Belüftung des Gruppenraumes notwendigen Öffnen des Fensters
Geräuschbelästigungen in Richtung des Grundstücks der Antragstellerin eintreten.
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Angesichts dieser Situation kann der Beigeladenen die beantragte
Nutzungsänderungsgenehmigung auch nicht unter den Voraussetzungen des § 6 Abs. 15
BauO NRW erteilt werden. Dies hat zugleich zur Folge, dass eine Änderung des
Beschlusses des Verwaltungsgerichts Köln vom 4. August 1998 nicht in Betracht kommt.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 u. 3 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 20 Abs. 3 i.V.m. § 13 Abs. 1 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 152 Abs. 1 VwGO.