Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 15.03.2005

OVG NRW: ausweisung, eugh, arbeitsmarkt, egmr, binnenmarkt, zugang, inhaftierung, befristung, verbreitung, wiederholungsgefahr

Oberverwaltungsgericht NRW, 18 A 4656/02
Datum:
15.03.2005
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
18. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
18 A 4656/02
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Düsseldorf, 24 K 7638/99
Schlagworte:
besonderer Ausweisungsschutz Ausweisungsschutz Ermessen
Normen:
AufenthG § 56 Abs 1; ENA Art 3 Abs 3
Leitsätze:
Aus Art. 3 Abs. 3 ENA ergibt sich kein über § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2,
Sätze 2 bis 4 AufenthG hinausgehender Ausweisungsschutz.
Tenor:
Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
Der Kläger trägt die Kosten des Antragsverfahrens.
Der Streitwert wird für das Antragsverfahren auf 4.000, EUR festgesetzt.
G r ü n d e :
1
Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist abzulehnen, weil die Voraussetzungen für
eine Zulassung nach § 124 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – nicht
vorliegen.
2
Der Kläger hat mit seinem Vorbringen in dem Zulassungsantrag ernstliche Zweifel an
der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nicht
begründet.
3
Entgegen seiner unter II 1a der Antragsbegründung vertretenen Ansicht stehen weder
die sogenannte Stillhalteklausel in Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zum Abkommen
vom 12. September 1963 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen
Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei noch die nahezu wortidentische Bestimmung
des Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei über die
Entwicklung der Assoziation – ARB 1/80 – der seitens des Verwaltungsgerichts durch
Bezugnahme auf seinen Beschluss vom 29. Dezember 1999 – 24 L 3797/99 – in dem
angefochtenen Urteil vorgenommenen Anwendung der eine Ausweisung für den
4
Regelfall vorsehenden Vorschriften des § 47 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2
sowie des § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 des Ausländergesetzes – AuslG – auf den hier
gegebenen Fall der Ausweisung eines türkischen Staatsangehörigen aufgrund einer
nach dem Betäubungsmittelgesetz verhängten vierjährigen Freiheitsstrafe entgegen, so
dass es keiner Ermessensentscheidung über die Ausweisung bedarf.
So zu einem gleichgelagerten Fall BVerwG, Urteil vom 26. Februar 2002 – 1
C 21.00 -, BVerwGE 116, 55 = DÖV 2002, 825 = DVBl. 2002, 1209 = EZAR
037 Nr. 4 = InfAuslR 2002, 338.
5
Dies ist auch in der Rechtsprechung des erkennenden Oberverwaltungsgerichts
6
- vgl. den Senatsbeschluss vom 7. August 2001 18 A 2065/96 -, im
Anschluss an die Senatsbeschlüsse vom 29. Januar 2001 - 18 B 116/01 -,
AuAS 2001, 137 = NVwZ-Beil. I 2001, 101, vom 2. April 2001 - 18 A
1257/00 , AuAS 2001, 149 = EZAR 034 Nr. 9 sowie die Senatsbeschlüsse
vom 2. September 2002 – 18 B 122/02 –, vom 28. Juli 2003 – 18 B
1952/02 – und vom 8. Dezember 2003 – 18 B 2435/02 -; ebenso: OVG
NRW, Urteil vom 13. Juni 2001 17 A 5552/00 , InfAuslR 2001, 424 und
Beschluss vom 11. November 2002 – 17 B 1554/01
7
bereits grundsätzlich so entschieden worden.
8
Entgegen der unter II 1c der Antragsbegründung vertretenen Ansicht des Klägers
verstößt das angefochtene Urteil auch nicht gegen Art. 3 des Europäischen
Niederlassungsabkommens – ENA -, soweit in dem in Bezug genommenen Beschluss
des Verwaltungsgerichts vom 29. Dezember 1999, a.a.O., dazu ausgeführt wird, in der
gegebenen Fallgestaltung ergebe sich aus Art. 3 Abs. 3 ENA kein über § 48 Abs. 1 Satz
1 Nr. 2 i.V.m. S. 2 AuslG hinausgehender Ausweisungsschutz. Diese Ansicht entspricht
der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts,
9
vgl. Urteile vom 11. Juni 1996 – 1 C 24.94 -, BVerwGE 101, 247 (259 ff.) und
vom 26. Februar 2002, a.a.O.,
10
wonach sich weder aus Art. 3 Abs. 3 ENA noch aus Abschnitt III c des gemäß Art. 32
ENA einen Bestandteil des Abkommens bildenden Protokolls zum ENA ein
weitergehender Ausweisungsschutz ergibt als aus § 48 Abs. 1 AuslG und aus dem die
Prüfung des Vorliegens einer Ausnahme von der Regelausweisung vorsehenden § 47
Abs. 3 Satz 1 AuslG. Folglich ist den genannten Regelungen des ENA die Vorschrift
einer Ermessensausübung bei der Ausweisung nicht zu entnehmen.
11
An alledem hat sich nach dem Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes – AufenthG – am
1. Januar 2005 nichts geändert, da die hier angewandten §§ 47 Abs. 1 Nr. 1, 1. Alt. und
Nr. 2 sowie Abs. 3 Satz 1, 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und Satz 2 AuslG in die weitgehend
wortgleichen Regelungen in §§ 53 Abs. 1 Nr. 1, 1. Alt. und Nr. 2, 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2
und Sätze 2 bis 4 AufenthG übernommen worden sind.
12
Der Kläger hat auch unter II 1e seiner Antragsbegründung keine ernstlichen Zweifel an
der Richtigkeit des angefochtenen Urteils begründet, "sofern die Ausweisung auf rein
generalpräventiven Gründen beruht". Dies trifft nämlich nicht zu. Das
Verwaltungsgericht hat auf den Seiten 7 und 8 seines in dem angefochtenen Urteil in
13
Bezug genommenen Beschlusses vom 29. Dezember 1999, a.a.O., auf
spezialpräventive Aspekte abgestellt und festgestellt, dass bei einem weiteren Verbleib
des Klägers in der Bundesrepublik Deutschland befürchtet werden muss, dass er erneut
und in schwerwiegender Weise straffällig wird, und an dieser Einschätzung in dem
weiter in Bezug genommenen Beschluss vom 5. Oktober 2000 – 24 L 2571/00 –
festgehalten.
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung
ergeben sich entgegen der unter II 1d der Antragsbegründung geäußerten Ansicht des
Klägers auch nicht daraus, dass das Verwaltungsgericht die Ausweisungsverfügung
ohne eine Befristung der Ausweisungswirkungen als rechtmäßig beurteilt hat. Soweit
der Kläger diesbezüglich meint, er sei einem Bürger der Europäischen Union
gleichzustellen, und er einen Verstoß seiner Ausweisung gegen Art. 38 des EG-
Vertrags und gegen die Stillhalteklausel in Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls, a.a.O.,
rügt und sich dabei auf den Schutz türkischer Dienstleistungserbringer und ihrer
wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit im Binnenmarkt beruft, hat er schon nicht einmal
ansatzweise dargelegt, inwiefern er, der seinen Angaben in der Klageschrift zufolge vor
seiner am 13. November 1998 erfolgten Inhaftierung seit 1996 arbeitslos war, während
der Haft ein Informatikstudium begonnen hat und am Tage seiner Haftentlassung, dem
17. Oktober 2000, in die Türkei abgeschoben wurde, wo er sich seitdem aufhält, ein
"Dienstleistungserbringer" im Sinne der von ihm benannten Vorschriften sein und sich
im Binnenmarkt wirtschaftlich betätigen will.
14
Lediglich ergänzend sei darauf hingewiesen, dass zwar nach der Rechtsprechung des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
15
- vgl. EGMR, Urteile vom 17. April 2003 – 52853/99 – (Yilmaz), NJW 2004,
2147 – und vom 22. April 2004 – 42703/98 – (Radovanovic), InfAuslR 2004,
374 -
16
eine Ausweisung unverhältnismäßig sein kann, wenn sie trotz besonderer Umstände
des Einzelfalls ohne Befristung verfügt worden ist. Diese Entscheidungen sind aber auf
den vorliegenden Fall des wegen unerlaubten gewerbsmäßigen Handels mit
Betäubungsmitteln zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilten Klägers
schon deshalb nicht übertragbar, weil die dortigen Beschwerdeführer – wie der EGMR
ausdrücklich hervorhob – nicht wegen Betäubungsmitteldelikten verurteilt worden
waren. Zu Letzterem hat der EGMR in diesen Entscheidungen klargestellt, dass er bei
der Verurteilung eines Ausländers wegen eines Betäubungsmitteldelikts in Anbetracht
der verheerenden Auswirkungen von Drogen auf die Bevölkerung Verständnis dafür
habe, dass die Vertragsstaaten in Bezug auf diejenigen, die zur Verbreitung dieser
Plage beitragen, entschlossen durchgreifen.
17
Soweit der Kläger schließlich ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen
Urteils sowohl im Hinblick auf die Bestätigung seiner unbefristeten Ausweisung als
auch im Hinblick auf die Beurteilung der Wiederholungsgefahr zum Zeitpunkt des
Erlasses des Widerspruchsbescheides unter Außerachtlassung seiner "hervorragenden
Resozialisierung" bis zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung damit begründen will,
dass er sich auf ein Aufenthaltsrecht aus dem ARB 1/80 berufen könne und deshalb die
für die Ausweisung von freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgern entwickelten
Grundsätze auf ihn anwendbar seien, hat er bereits nicht hinreichend dargelegt, dass
und aus welchem Grund er sich im grundsätzlich maßgeblichen Zeitpunkt der letzten
18
tatsachengerichtlichen Entscheidung -
- vgl. BVerwG, Beschluss vom 3. August 2004 – 1 C 26.02 -, InfAuslR 2004,
379 = NVwZ 2005, 226 -
19
d. h. hier im Hinblick auf § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO im Zeitpunkt des Ablaufs der
Zulassungsantragsbegründungsfrist – auf ein Aufenthaltsrecht aus dem ARB 1/80
berufen kann. Einer solchen Darlegung hätte es hier bedurft, weil das
Verwaltungsgericht in seinen in dem angefochtenen Urteil in Bezug genommenen
Beschlüssen vom 29. Dezember 1999 und 5. Oktober 2000, a.a.O., das Bestehen eines
Aufenthaltsrechts des Klägers aus dem ARB 1/80 nicht bejaht, sondern – unter Hinweis
auf Zweifel daran – ausdrücklich offengelassen hat. Die Ausführungen des Klägers, er
sei als Kleinkind von Gastarbeitern in die Bundesrepublik Deutschland eingereist, habe
nach der Schullaufbahn eine Lehre absolviert und in der Haft studiert, genügen nicht für
die Feststellung eines Aufenthaltsrechts aus dem ARB 1/80. Unabhängig von der Frage,
ob er seine Rechtsstellung aus Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 durch die seit dem 13. November
1998 andauernde haft- und abschiebungsbedingte Abwesenheit vom Arbeitsmarkt der
Mitgliedstaaten der Europäischen Union verloren hat, fehlt es an seiner Darlegung, zu
welchem Aufenthaltszweck er sich auf ein Aufenthaltsrecht beruft. Dessen bedarf es
aber, weil Art. 7 ARB 1/80 nach der Senatsrechtsprechung
20
- vgl. Senatsurteil vom 15. September 1998 – 18 A 4766/95 -; vgl. auch
Senatsbeschlüsse vom 3. April 2001 – 18 B 204/00 -, NVwZ-RR 2001, 793
= EZAR 029 Nr. 15 und vom 10. Dezember 2004 – 18 B 2599/04 -
21
nur ein Aufenthaltsrecht zu dem Zweck verleiht, eine Beschäftigung aufzunehmen oder
zumindest ernsthaft anzustreben, nicht aber ein Aufenthaltsrecht ohne arbeiten zu
wollen. Dass der Kläger sich auf ein Aufenthaltsrecht zu diesem Zweck berufen kann
und will, liegt auch nicht ohne nähere Darlegung auf der Hand, da er nach seiner Lehre
bis zu seiner Inhaftierung keine Beschäftigung ausgeübt hat. Falls er das in der Haft
begonnene Studium fortsetzen wollte, könnte dieser Aufenthaltszweck ihm kein
Aufenthaltsrecht aus Art. 7 ARB 1/80 verschaffen.
22
Vgl. Senatsbeschluss vom 3. April 2001, a.a.O.
23
Dass Art. 7 ARB 1/80 ein Aufenthaltsrecht nur zum Zweck der tatsächlichen Ausübung
einer Beschäftigung oder zum ernsthaften Betreiben des Zugangs zum Arbeitsmarkt
verleiht, folgt aus der Rechtsprechung des EuGH. In seinem letzten einschlägigen Urteil
vom 11. November 2004
24
- Rs. C-467/02 – (Cetinkaya), DVBl. 2005, 103 = NVwZ 2005, 198 -
25
hat der EuGH die Rechte aus Art. 7 ARB 1/80 als Rechte auf Zugang zur und Aufnahme
einer Beschäftigung definiert (Rdn. 24, 25) und daraus ein "Aufenthaltsrecht als Folge
des Rechts auf Zugang zum Arbeitsmarkt und auf die tatsächliche Ausübung einer
Beschäftigung" hergeleitet (Rdn. 36, vgl. auch Rdn. 31).
26
Zudem verweist der EuGH auf seine Rechtsprechung in seinem Urteil vom 16. März
2000 -
27
Rs. C-329/97 – (Ergat), DVBl. 2000, 691 = InfAuslR 2000, 217 = NVwZ
28
2000, 1277.
Auch in dieser Entscheidung wird eindeutig klargestellt, dass Art. 7 ARB 1/80 "das
Recht vorsieht, in diesem (Mitglieds-)Staat eine Beschäftigung auszuüben" (Rdn. 35),
und "die unmittelbare Wirkung dieser Bestimmung bewirkt, ...dass der Betroffene
hinsichtlich der Beschäftigung ein individuelles Recht aus dem Beschluss Nr. 1/80
herleiten kann (Rdn. 40), wobei es sich um ein "Recht des Betroffenen, eine frei von ihm
gewählte Beschäftigung aufzunehmen", handelt (Rdn. 41), zu dessen Ausübung ihm ein
Aufenthaltsrecht zu gewähren ist, denn dieses "ist für die Aufnahme und die Ausübung
jeder Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis unerlässlich" (Rdn. 42, vgl. auch
Rdn. 58, 65).
29
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
30
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 13 Abs. 1, 14 Abs. 1 und 3 GKG in der bei
Einlegung des Rechtsmittels geltenden Fassung.
31
Dieser Beschluss ist unanfechtbar. Das Urteil des Verwaltungsgerichts ist rechtskräftig.
32