Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 26.06.1996

OVG NRW (bundesrepublik deutschland, antragsteller, 1995, achtung des familienlebens, ausweisung, rechtskräftiges urteil, aufschiebende wirkung, gefahr, sicherheit, wiederholungsgefahr)

Oberverwaltungsgericht NRW, 17 B 1406/95
Datum:
26.06.1996
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
17. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
17 B 1406/95
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, 8 L 364/95
Tenor:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 4.000,- DM
festgesetzt.
G r ü n d e :
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Die Beschwerde ist nicht begründet. Das Verwaltungsgericht hat den vom Antragsteller
mit der Beschwerde weiterverfolgten Antrag,
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die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs gegen die Ordnungsverfügung des
Antragsgegners vom 12. Januar 1995 wiederherzustellen bzw. anzuordnen,
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zu Recht abgelehnt.
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Die Begründung der Vollziehungsanordnung betreffend die Ausweisung genügt den
Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO, indem sie auf die Gefahr abstellt, daß der
Antragsteller vor Eintritt der Bestandskraft der angefochtenen Ordnungsverfügung
weitere Straftaten begehen könnte.
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Die im Rahmen der Entscheidung nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO gebotene Abwägung
der widerstreitenden Vollzugsinteressen fällt auch im Beschwerdeverfahren
zuungunsten des Antragstellers aus. Maßgeblich hierfür ist, daß sich die angefochtene
Ordnungsverfügung als rechtmäßig erweist und die begründete Besorgnis besteht, daß
die von dem Antragsteller ausgehende, mit der Ausweisung bekämpfte Gefahr sich
schon vor Abschluß des Hauptsacheverfahrens realisieren wird.
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Vgl. zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen an das besondere Vollzugsinteresse
bei einer Ausweisungsverfügung: BVerfG, Beschluß vom 12. September 1995 - 2 BvR
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1179/95 -,NVwZ 1996, 58 (59) = InfAuslR 1995, 397 (401 f.).
Die Ausweisung findet ihre Rechtsgrundlage in §§ 47 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 3 Satz 2, 48
Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 AuslG.
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Der Antragsteller ist durch rechtskräftiges Urteil des Landgerichts Bielefeld vom 1.
September 1993 wegen gemeinschaftlich versuchter räuberischer Erpressung zu einer
Freiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt worden. Die dem
Antragsteller zuteil gewordene Aussetzung der Reststrafvollstreckung zur Bewährung
steht der Anwendbarkeit von § 47 Abs. 2 Nr. 1 AuslG nicht entgegen.
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Vgl.: BVerwG, Beschluß vom 25. März 1994 - 1 B 30.94 -, InfAuslR 1994, 311 (312).
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Da der Antragsteller im Bundesgebiet geboren ist und eine unbefristete
Aufenthaltserlaubnis besitzt, genießt er besonderen Ausweisungsschutz nach § 48 Abs.
1 Nr. 2 AuslG mit der Folge, daß er nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen
Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden kann. Ein Ausweisungsgrund ist im Sinne
von § 48 Abs. 1 AuslG schwerwiegend, wenn das öffentliche Interesse an der Erhaltung
der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Vergleich zu dem vom Gesetz bezweckten
Schutz des Ausländers ein deutliches Übergewicht hat.
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Vgl.: BVerwG, Beschluß vom 10. Januar 1995 - 1 B 153.94 -, InfAuslR 1995, 194.
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Dies ist in spezialpräventiver Hinsicht der Fall, wenn dem Ausweisungsanlaß ein
besonders Gewicht zukommt und Anhaltspunkte dafür vorliegen, daß in Zukunft eine
schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch neue Verfehlungen
des Ausländers ernsthaft droht und damit von ihm eine bedeutsame Gefahr für ein
wichtiges Schutzgut ausgeht.
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Vgl.: BVerwG, Beschluß vom 10. Februar 1995 - 1 B 221.94 -, InfAuslR 1995, 273 (274).
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Nach diesen Kriterien sind schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und
Ordnung für die vom Antragsgegner u. a. selbständig spezialpräventiv begründete
Ausweisung zu bejahen.
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Es steht außer Frage, daß die Verurteilung wegen gemeinschaftlicher versuchter
räuberischer Erpressung ein besonders schwerwiegender Ausweisungsanlaß ist.
Insbesondere hat auch das Landgericht Bielefeld in seinem Strafurteil vom 1.
September 1993 das Vorliegen eines minderschweren Falles der versuchten
räuberischen Erpressung gemäß §§ 255, 253, 249 Abs. 2 StGB wegen des Ausmaßes
der Bedrohungen, der beträchtlichen Beuteerwartung und der Umstände, daß der
Antragsteller bereits wegen eines ähnlichen Deliktes vorbestraft gewesen sei und die
hier zur Aburteilung stehende Tat innerhalb der Bewährungszeit begangen habe, nicht
als gegeben angesehen.
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Auch die für eine spezialpräventiv begründete Ausweisung erforderliche
Wiederholungsgefahr ist gegeben. Daß die Strafvollstreckungskammer des
Landgerichts Bochum durch Beschluß vom 4. April 1995 - StVK 418/95 - nach
Verbüßung von 2/3 der Strafhaft die Vollstreckung der Reststrafe zur Bewährung
ausgesetzt hat, rechtfertigt für sich genommen nicht die Annahme, daß die
ordnungsrechtlich relevante Wiederholungsgefahr nicht mehr bestünde. Denn die
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Kriterien der im Rahmen von § 57 StGB vorzunehmenden Sozialprognose sind nicht
identisch mit denjenigen, die für die Beurteilung der ordnungsrechtlichen
Wiederholungsgefahr maßgeblich sind. Die Reststrafaussetzung erfolgt nämlich schon
dann, wenn verantwortet werden kann zu erproben, ob der Verurteilte außerhalb des
Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen wird; dies schließt die Möglichkeit eines
Scheiterns der Erprobung nicht aus. Dies verdeutlicht auch die Begründung des
Beschlusses der Strafvollstreckungskammer, wonach die verschiedenen positiven
Ansätze für eine Verhaltensänderung und soziale Festigung beim Antragsteller für die
Strafvollstreckungskammer lediglich den Schluß rechtfertigen, daß unter Abwägung
aller Umstände das Erprobungsrisiko gewagt werden könne.
Auch wenn weiterhin zugrundegelegt wird, daß der erstmalige Freiheitsentzug den
Antragsteller nachhaltig beeindruckt hat, rechtfertigt dies noch nicht die Annahme, seine
Gefährlichkeit sei entfallen. Vielmehr läßt sein krimineller Werdegang die ernsthafte
Gefahr erneuter Verfehlungen durch ihn derzeit noch bestehen. Insoweit ist von
maßgeblicher Bedeutung, daß der Antragsteller aufgrund eines am 3. Juli 1989
verübten Tankstellenüberfalls mit der Verurteilung durch das Amtsgericht Minden vom 3.
November 1989 zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren, deren Vollstreckung zur
Bewährung ausgesetzt wurde, wegen gemeinschaftlich schweren Raubes mit Waffen
einschlägig vorbestraft ist. Dabei kann dahinstehen, ob die dreijährige Bewährungszeit
bei der Begehung der Schutzgelderpressung am 17./18. März 1993 noch lief - so das
Landgericht Bielefeld in seinem Strafurteil vom 1. September 1993 - oder (kurz zuvor)
abgelaufen war - so die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Bochum in ihrem
Beschluß vom 4. April 1995 -. Trotz der im November 1989 erfolgten Verurteilung und
der eindringlichen ausländerbehördlichen Verwarnung durch den Stadtdirektor der Stadt
Minden im Juli 1991 reichte eine beim Antragsteller Anfang des Jahres 1993
bestehende wirtschaftlich ungünstige Lage mit einer Geldknappheit aus, ein Verbrechen
zur Beschaffung von Geld zu begehen, das gekennzeichnet ist von einem hohen Maß
an Rücksichtslosigkeit gegenüber Rechtsgütern Dritter. Auch wenn der Antragsteller in
Zusammenarbeit mit einer Schuldnerberatung einen Plan zur Tilgung seiner Schulden
von ca. 30.000 DM nach seiner Haftentlassung erstellt hat, vermag dies nicht
ausreichend zu begründen, daß er bei sich zuspitzenden schwierigen finanziellen
Verhältnissen nicht erneut wieder einschlägig straffällig wird.
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Schließlich wird die Wiederholungsgefahr nicht dadurch in Frage gestellt, daß der
Antragsteller nach seiner Haftentlassung Aufnahme bei seiner Mutter und seinen
Geschwistern gefunden hat und neuerliche Verfehlungen nicht bekannt geworden sind.
Abgesehen davon, daß der seither verstrichene Zeitraum nur relativ kurz ist, muß auch
der verhaltenssteuernde Druck des laufenden Ausweisungsverfahren berücksichtigt
werden.
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Der besondere Ausweisungsschutz des § 48 Abs. 3 Satz 1 AuslG, wonach ein
Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, nur unter der Bedingung ausgewiesen
werden kann, daß das Asylverfahren unanfechtbar ohne Anerkennung als
Asylberechtigter abgeschlossen wird, kommt dem Antragsteller gemäß Satz 2 Nr. 1 der
Vorschrift nicht zugute, da nach dem zuvor Gesagten ein Sachverhalt vorliegt, der nach
Abs. 1 der Vorschrift eine Ausweisung rechtfertigt.
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Der dem Antragsteller zustehende besondere Ausweisungsschutz hat ferner zur Folge,
daß an die Stelle der Regelausweisung gemäß § 47 Abs. 3 Satz 2 AuslG über die
Ausweisung nach Ermessen entschieden wird. Die vom Antragsgegner angestellten
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Ermessenserwägungen lassen Fehler der in § 114 VwGO bezeichneten Art nicht
erkennen. Insbesondere genügen sie den Anforderungen des § 45 Abs. 2 AuslG. Es
begegnet keinen Bedenken, daß der Antragsgegner dem Umstand, daß der
Antragsteller seinen eigenen Bekundungen nach seinen Lebensmittelpunkt in der
Bundesrepublik Deutschland habe und ihn in der Türkei Integrationsprobleme erwarten
würden, ein gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Beendigung seines
Aufenthaltes vorrangiges Gewicht nicht eingeräumt hat. Der Antragsteller ist trotz seines
langen Aufenthaltes in der Bundesrepublik Deutschland und des Umstandes, daß sich
sowohl seine Mutter als auch seine Geschwister hier aufhalten, in einem Alter, in dem
es ihm möglich und zumutbar ist, sich in der Türkei eine neue Existenz aufzubauen. Im
übrigen zeigen die zahlreichen vom Antragsteller begangenen Straftaten, daß es ihm
bisher nicht gelungen ist, sich in die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland
einzufügen.
Die Ausweisung widerspricht auch nicht inter- bzw. supranationalem Recht. Die der
Ausweisung zugrundeliegenden Gründe sind besonders schwerwiegend im Sinne von
Art. 3 Abs. 3 ENA. Einem dem Antragsteller etwa aus Art. 7 Abs. 1, 14 Abs. 1 ARB 1/80
zustehenden assoziationsrechtlichen Ausweisungsschutz trägt die
Ausweisungsverfügung in ausreichendem Umfang Rechnung, indem sie u. a. -
selbständig tragend - das spezialpräventive Anliegen verfolgt, einer durch das Verhalten
des Antragstellers bedingten tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung der
öffentlichen Ordnung zu begegnen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft (Schutz des
Eigentums und von Leben und Gesundheit der Bevölkerung vor körperlichen
Übergriffen) berührt. Der Ausweisung steht auch nicht Art. 8 Abs. 1 EMRK entgegen, da
sie durch Abs. 2 der Vorschrift gedeckt wird. Danach sind Eingriffe in die Ausübung des
Rechts auf Achtung des Familienlebens statthaft, soweit sie in einer demokratischen
Gesellschaft u. a. zur Verhinderung von strafbaren Handlungen oder zum Schutz der
Rechte und Freiheiten anderer notwendig sind. Das bedeutet, daß Eingriffe durch eine
zwingende soziale Notwendigkeit und insbesondere durch ihre Verhältnismäßigkeit im
Hinblick auf das verfolgte legitime Ziel gerechtfertigt sein müssen.
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Vgl.: EGMR, Urteil vom 18. Februar 1991 - 31/1989/191/291 -, InfAuslR 1991, 149.
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Das ist hier der Fall. Nach dem bisherigen Erscheinungsbild besteht die dringende
Gefahr, daß der Antragsteller erneut auch einschlägig in Erscheinung treten wird.
Angesichts der Volljährigkeit des Antragstellers erweist sich seine mit der Ausweisung
verbundene Trennung von seiner im Bundesgebiet lebenden Mutter und seinen
Geschwistern als verhältnismäßig. Die familiären Kontakte können durch Briefe und
Telefonate sowie durch Besuche in der Türkei in ausreichender Weise aufrecht erhalten
werden.
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Soweit der Aussetzungsantrag die Abschiebungsandrohung betrifft, ist er infolge
Wegfalls des Rechtsschutzinteresses unzulässig geworden. Nachdem das Bundesamt
für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge in seinem Bescheid vom 18. Mai 1995
gegenüber dem Antragsteller eine neue Abschiebungsandrohung mit Ausreisefrist
erlassen hat, hat sich die in der Ordnungsverfügung vom 12. Januar 1995 enthaltene
Abschiebungsandrohung erledigt. Anhaltspunkte dafür, daß der Antragsgegner aus der
Abschiebungsandrohung weiterhin Rechte herleiten würde, sind weder vorgetragen
noch ersichtlich. Vielmehr hat der Antragsgegner die ursprünglich für den Zeitpunkt der
Haftentlassung des Antragstellers am 17. Mai 1995 vorgesehene Abschiebung nach
dem am 11. Mai 1995 gestellten Asylantrag zunächst nicht weiter verfolgt.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf §§
20 Abs. 3, 13 Abs. 1 GKG.
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